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Ausgabe:

Juni/2022

Spalte:

553–555

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Klawans, Jonathan, and Lawrence M. Wills [Eds.]

Titel/Untertitel:

The Jewish Annotated Apocrypha. New Revised Standard Version.

Verlag:

Oxford u. a.: Oxford University Press 2020. 744 S. Geb. US$ 45,00. ISBN 9780190262488.

Rezensent:

Beate Ego

Die sogenannten Apokryphen gehören zum gemeinsamen jü­disch-christlichen Traditionsgut: Wenn diese Bücher auch in einem christlichen Kontext als Teil des katholischen Kanons (unter dem Terminus »Deuterokanonen«) tradiert wurden, so erscheint der Terminus »jüdische Apokryphen« doch insofern gerechtfertigt, als diese Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit jüdischen Ursprungs sind. Vor diesem Hintergrund können die Herausgeber des Bandes, Jonathan Klawans und Lauwrence M. Wills, von »jüdischen Büchern in christlichen Bibeln« (»Jewish Books in Christian Bibles«) sprechen.
Nach einer allgemeinen Einleitung (XXVII–XXXIV) werden die einzelnen Schriften in englischer Übersetzung präsentiert, so unter der Überschrift »Law«: das Jubiläenbuch (M. Goff); als »Histories and Stories«: 1. Esdras (T. C. Eskenazi), das griechische Esterbuch nach der LXX-Version (M. L. Grossman), Tobit (N. S. S. Jacobs), Judit (D. L. Gera), 1.2.3. Makkabäer (D. R. Schwartz, E. Regev, N. Hacham); unter »Prophecies«: Brief Jeremias (K. M. Hogan), Baruch (K. M. Hogan), Zusätze zu Daniel (A.-J. Levine mit D. A. Lambert, M. Z. Simkovich), 4. Esra (L. S. Fried) sowie: »Poetry and Wisdom«: Psalm 151 (D. A. Lambert), Gebet Manasses (D. A. Lambert), Weisheit Salomos (M. Kraus), Jesus Sirach (M. L. Satlow) und 4. Makkabäer (J. M. Zurawski).
Bemerkenswert an dieser Auflistung ist zunächst, dass hier auch das Jubiläenbuch, das nicht Teil der katholischen Deuterokanonen bzw. der protestantischen Apokryphen ist, mit einbezogen wird. Tatsächlich gehört dieses Buch aber zum Kanon der Äthiopisch-Orthodoxen Kirche; die Henoch-Schrift, die ebenfalls Teil dieser Sammlung ist, wurde lediglich aus Platzgründen hier nicht aufgenommen. Zudem werden diese Schriften hier in der Reihenfolge präsentiert, wie sie auch im Codex Sinaiticus dargeboten ist (Ge-setz – Geschichten – Propheten – Poetische Texte) und wie sie der Abfolge der Bücher in der Hebräischen Bibel am nächsten steht.
Jede Übersetzung ist mit einer knappen Einleitung versehen, die jeweils Auskunft gibt über Name, Inhalt und Aufbau der entsprechenden Schrift, Autorenschaft, Entstehungszeit und historischer Kontext, text-, literar- und redaktionsgeschichtliche Probleme sowie der Bezug der entsprechenden Schrift zur jüdischen Traditionen im weitesten Sinne (so z. B. beim Jubiläenbuch der Verweis zur Relation zu den biblischen Büchern Genesis und Exodus; bei Ester die Verbindung zu Purim; bei Tobit der Hinweis auf die Qumranfunde sowie wichtige »jüdische Themen« wie die Zehntabgabe, die Feier des Wochenfestes, Speise- und Heiratsvorschriften. Der Text selbst basiert – mit kleinen Änderungen – auf der Übersetzung der Revised Standard Version (abgesehen vom Jubiläenbuch, das auf der Grundlage von R. H. Charles aus dem Jahre 1913 sowie von J. VanderKams kritischer Textausgabe und Übersetzung von 1989 präsentiert wird) und wird von kursorischen Erklärungen begleitet, die knappe Sachhinweise geben und auf intertextuelle Bezüge verweisen. »Jüdisch« sind diese Anmerkungen, so wird es in der Einleitung expliziert, insofern ihre Autoren ausgewiesene Fachleute für das Judentum des Zweiten Tempels sind: »What matters here is not our contributor’s religious practices, private beliefs, or public commitments. What truly matters is their qualifications for and dedication to the tasks at hand: those of highlighting the importance of these books for the Jewish past to readers with interests in both the Jewish past and the Jewish present.« (XXXI) Weitere Informationen zu den übersetzten Texten finden sich in Land karten sowie in Textboxen (u. a. zum 364-Tage-Kalender im Jubi-läenbuch, zu Gott im Griechischen Esterbuch, zu den Tobiaden, zur Goldenen Regel, zum Tempel, zum Verhältnis von Tora und Licht, zur jüdischen Paideia) (1–525).
Im Anschluss an diese Präsentation des Textmaterials finden sich unterschiedliche Kapitel, die – nun ohne wissenschaftlichen Apparat und bibliographische Angaben – wichtige historische, theologische und kulturelle Themen für das Verständnis der Apokryphen erschließen, so: Geschichte und Kultur der babylonischen und persischen Zeit (A. F. Botta; 529–535), Geschichte und Kultur der hellenistischen Periode (P. Kosmin; 535–542), die Römerzeit (N. Sharon; 542–551), antikjüdisches Sektentum (A. I. Baumgarten; 551–557), Archäologie des Judentums zur Zeit des Zweiten Tempels (Y. Adler; 558–564), Hasmonäerstaat und antik-jüdischer Nationalismus (D. Mendels; 564–570), Kanon (A. Y. Reed; 570–575), die Septuaginta (L. J. Greenspoon; 575–581), die Rollen vom Toten Meer (A. P. Jassen; 581–587), die Peschitta und die syrische Bibeltradition (Naomi Koltun-Fromm; 588–592), die Apokryphen in der rabbinischen Literatur (N. Bickart und Chr. Hayes; 593–597), die Apokryphen in der mittelalterlichen hebräischen Literatur (M. Himmelfarb; 598–602), Weisheitstraditionen in den Apokryphen (G. S. Goering; 603–608), literaturwissenschaftliche Zugänge zu den Apokryphen (S. Weitzman; 608–613), Überlieferungen zu bislang unbekannten Schriften – von Qumran bis zum äthiopischen Kanon (»The incredible expanding Bible: From the Dead Sea Scrolls to Haile Selassie«, E. Mroczek; 614–625), Gebete in den Apokryphen (R. A. Werline; 625–628), Hanukkah in den Apokryphen (A. D. Panken; 629–632), jüdische Helden und die Apokryphen (L. M. Wills; 633–636), Gender (S. L. Lander; 636–640), jüdische Theologie und die Apokryphen (J. Klawans; 640–644), das Böse und die Sünde (M. T. Brand; 645–649), jüdische Identität in den Apokryphen (C. M. Baker; 649–653), Wahrheit und Lüge in apokryphen Legenden (J. Klawans; 653–655). Im An­hang finden sich eine chronologische Übersicht der Herrscher in hellenistischer Zeit, knappe Literaturhinweise zu weiteren Quellentexten, ein Glossar zu zentralen Begriffen sowie ein Stichwortregister.
Der vorliegende Band stellt wichtige Basisinformationen zu den Apokryphen und ihrem historischen, theologischen und kulturellen Kontext klar und konzise dar; die Autoren, die hier mitgearbeitet haben, bürgen in der Regel für Qualität, und so kann das Werk als eine allgemeine Einführung in diesen Textbereich empfohlen werden, zumal es meines Wissens im deutschsprachigen Bereich keine vergleichbare Darstellung gibt, die die Textpräsentation mit Themenkapiteln kombiniert. Allerdings ist es bedauerlich, dass die einführenden Abschnitte und die Themenkapitel gänzlich auf weiterführende Literaturangaben verzichten; gerade im Hinblick auf Themen, die bislang eher am Rande des Forschungsinteresses standen, aber nichtsdestotrotz (oder gerade deshalb) von großem Interesse sind (so z. B. die Apokryphen in der rabbinischen Literatur oder in der mittelalterlichen jüdischen Rezeption) wären weiterführende Literaturhinweise sehr hilfreich gewesen.