Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juni/2022

Spalte:

544–547

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Ahuvia, Mika

Titel/Untertitel:

On My Right Michael, On My Left Gabriel. Angels in Ancient Jewish Culture. Oakland: University of California Press 2021. 270 S. m. 1 Tab. Geb. US$ 34,95. ISBN 9780520380110.

Rezensent:

Claudia D. Bergmann

Das eloquent verfasste und gut lesbare Werk von Mika Ahuvia, die als Assistant Professor of Classical Judaism an der University of Washington in Seattle tätig ist, untersucht die Vorstellungen von Engeln im antiken Judentum. A. geht davon aus, dass der Glaube an Engel und himmlische Wesen dort weit verbreitet war und sich vor allem in nicht-kanonischen Dokumenten und Objekten nachvollziehen lässt. In ihrer Untersuchung legt A. einen Fokus auf die Zeit ab dem 3. Jh. nach der Zeitenwende und bezieht einen breiten geographischen Bereich ein: den gesamten Mittelmeerraum und Ge­biete im alten Orient, in denen Jüdinnen und Juden lebten. Ähnlich breit ist der Blick auf die Verfasserschaft und die Menschen, die diese Texte hörten oder lasen. Jedes der gut strukturierten Kapitel enthält kurze repräsentative Texte, Definitionen, auch für Laien verständliche Ausführungen im Haupttext sowie ausführliche Fußnoten für die, die weiterführende Informationen suchen.
In der einführenden »Introduction: Angelic Greetings or Shalom Aleichem« legt A. ihre drei Grundthesen vor. Erstens gehe sie davon aus, dass Engelsvorstellungen ein wichtiger Bestandteil des Glaubens im späten antiken Judentum waren. Benannte und unbenannte Engelwesen fände man in allen Teilen der Bibel sowie in rituellen, magischen, exegetischen, liturgischen und mystischen Quellen. Zweitens will A. bewusst über rabbinische Texte hinausgehen und auch eher selten einbezogene Beschwörungstexte, mystische Texte und Synagogenpoesie in ihre Untersuchung mit einbeziehen. Drittens, erklärt A., würde man gerade mit dieser Zu­ gangsweise feststellen können, dass sich die rabbinischen Ideen von Engeln über eine längere Zeit hinweg und im Dialog mit allen Gesellschaftsschichten, Genres und Materialien entwickelt haben. Jüdische Frömmigkeit in allen ihren Facetten fand auf diese Weise auch Eingang in die Welt der rabbinischen Autoren, die mit rituellen Akteuren aller Art, Piyyut-Dichtern und auch Mystikern in Kontakt standen und, bewusst oder unbewusst, Ideen austauschten.
Im ersten Kapitel, »At Home with the Angels: Babylonian Ritual Sources«, befasst sich A. mit den aussagekräftigen babylonischen Beschwörungstexten ab dem 6. und 7. Jh. Abweichend von einer möglichen chronologischen Ordnung beginnt sie mit diesem Korpus, um zu zeigen, dass rituelle und magische Quellen nicht an die Peripherie der Diskussion zu diesem Thema gehören, sondern in das Zentrum. Sie habe diese Anordnung gewählt, um zu zeigen, »how richly polyvocal and multicentered Jewish society was in late antiquity« (13). Die von ihr untersuchten Beschwörungsschalen verraten viel über den jüdischen Alltag der Zeit. Dabei scheint es so, als ob man den himmlischen Wesen eher alltägliche Bitten anvertraute, die eher nicht für den Höchsten »geeignet waren«, wie die Bitte im Gesundheit, um geschäftlichen Erfolg oder auch dafür, dass sich die Schwiegereltern nicht in die eigene Ehe einmischen.
Das zweite Kapitel, »Out and About with the Angels: Palestinian Ritual Sources«, untersucht jüdische Amulette und die Schrift Se-fer ha-Razim, alle entstanden im 4. und 5. Jh. in den Gebieten am östlichen Mittelmeer. Die jüdische Kultur habe keinesfalls iso-lierte Glaubensvorstellungen vertreten, fasst A. hier zusammen, sondern sei Teil der religiösen Welten im antiken Mittelmeerraum gewesen.
Das dritte Kapitel, »No Angels? Early Rabbinic Sources«, zeigt, wie die frühen rabbinischen Autoren der Mischna, der Tosefta, der Mekhiltot de Rabbi Jischmael und de Rabbi Simeon ben Jochai, der Sifra, der Sifre Bemidbar und der Sifre Devarim den offensichtlich weit verbreiteten Engelsglauben in ihren Schriften unterdrückten, obwohl sie zugeben mussten, dass Engel hin und wieder eine wichtige Rolle in der Tora spielten. Von schlechten Engeln oder gar Dämonen ist in dieser Zeit und in diesem Kontext nicht die Rede. A. schließt aus diesem Befund, dass es eben nicht genüge, diese rabbinischen Quellen zu Rate zu ziehen, um etwas über die Vorstellungen von Engeln in der jüdischen Welt der Antike zu erfahren.
»In the Image of God, Not Angels: Rabbinic Sources«, das vierte Kapitel, untersucht biblische und weitere spätantike rabbinische Quellen, die die exklusive menschliche Beziehung zu Gott betonten und vorhandenen Engelsvorstellungen in der Bevölkerung damit in eine bestimmte Richtung zu lenken versuchten. A. erkennt hier Zeichen der Grenzziehung zwischen den eigenen Gefolgsleuten, die sich allein an der Beziehung zu Gott orientieren sollten, und anderen jüdischen und nicht-jüdischen Gemeinschaf ten, die die Vorstellungen von den Engelwesen erlaubten. Diese Versuche, so A., wären nicht von Erfolg gekrönt gewesen, hätten sich die Engelsvorstellungen in der jüdischen Frömmigkeit dieser Zeit doch als zu dominant erwiesen.
Das fünfte Kapitel, »In the Image of the Angels: Liturgical Re­sponses«, zeigt die Alternativbewegung auf, nämlich die ebenfalls spätantike gottesdienstliche Synagogengemeinschaft. Durch die liturgische Poesie des Yannai wurden Jüdinnen und Juden ermutigt, sich im gottesdienstlichen Handeln mit den Engeln zu vereinen und diese zu imitieren. Yannai, so A., sei in der Lage gewesen, Engelsvorstellungen der Bibel, der Volksfrömmigkeit, der rabbinischen Midraschim und der rituellen Praktiken miteinander zu verbinden und für die Synagoge fruchtbar zu machen. Ein wenig verklärend formuliert A.: »This liturgical evidence also opens a win-dow into a time when Jewish men, women, priests, rabbis, and ritual practitioners mingled in the communal space of the synagoge, reciting God’s praise in synchronicity with the angels.« (15)
Das sechste Kapitel, »Israel among the Angels: Late Rabbinic Sources«, befasst sich mit rabbinischen Texten des späten 4. bis 6. Jh.s, die die Vorstellungen von Engeln nun wie selbstverständlich integrierten: Engelwesen wurden in die Geschichten über legendäre rabbinische Helden eingefügt, es entstanden Vorlagen für Ge-bete an Michael und Gabriel sowie Diskussionen über gute und schlechte Engel, den freien Willen der Engel oder auch über die Gefühle, die man Engeln zuschrieb. »… rabbinic tradition moved beyond accomodation to exploitation of belief in angels for particularly rabbinic ends« (143), fasst A. zusammen.
Im letzten und siebten Kapitel, »Jewish Mystics and the Angelic Realms: Early Mystical Sources«, untersucht A. dann die Schriften der jüdischen Mystiker des 5. und 6. Jh.s, die die Vorstellungen von den Engeln zu immer neuen Höhen trieben. Nun wollte man mit den Engeln beten, zu ihnen in den Himmel aufsteigen, den göttlichen Thron schauen und engelsgleiches Wissen erfahren.
Das zusammenfassende »Angels in Judaism and the Religions of Late Antiquity« weitet dann den Blick der Monographie und betont die Vielfältigkeit jüdischer Kultur und jüdischen Glaubens. Die Vorstellungen von Engelwesen im Judentum blieben distinkt jü­disch, aber seien auch immer im Dialog mit anderen religiösen Kulturen geführt worden, meint A. Eine Zusammenfassung zu den Engelsvorstellungen im Mittelmeerraum, auch in anderen religiösen Gruppen, sowie ein Ausblick auf die Entwicklung derselben durch das Mittelalter hindurch in die Moderne schließen den Band ab.
On my Right Michael, on my Left Gabriel. Angels in Ancient Jewish Culture ist ein ausgesprochen lesenswertes Buch, so interessant, dass man immer und überall noch tiefer in das Thema eintauchen möchte, vor allem, was den Blick zurück betrifft. Wo ordnen sich zum Beispiel andere nicht-kanonische jüdische Texte wie die aus Qumran ein, speziell die Sabbatopferlieder, und ihre Vorstellungen von den himmlischen Wesen und ihrer Teilhabe an den weltlichen Vorgängen und an der himmlischen Liturgie? Wie verhalten sich die spätantiken jüdischen Vorstellungen vom Aufbau des Himmels zu denen zeitgenössischer Kulturen und zu denen des alten Orients? Das vorliegende Buch ist verständlicherweise keine allumfassende Übersicht zum Thema Engelsvorstellungen in allen jüdischen Quellen und trägt nicht alles zusammen, was in der Forschungsgeschichte zum Thema geschrieben wurde. A. weist nur hin und wieder auf die Quellen hin, die um die Zeitenwende oder davor entstanden, die Qumranschriften sind nur auf weni-gen Seiten erwähnt, die Bibliographie bleibt fast ausschließlich auf englischsprachige Werke beschränkt. Hätte A. mehr leisten wollen, wäre ein mehrbändiges Werk entstanden.
A.s Monographie hat ein ähnliches Ziel wie das 2020 von Annette Yoshiko Reed veröffentlichte Werk Demons, Angels, and Writing in Ancient Judaism, nämlich, die Wurzeln der jüdischen Engelsvorstellungen aufzuzeigen und ihre Entwicklungslinien nachzuverfolgen. Während Reed in den Jahrhunderten vor der Zeitenwende ansetzt und in der Bildungspraxis des vom Hellenismus beeinflussten frühen Judentums den Ort sieht, in dem das Nachdenken über Engelwesen (und auch Dämonen) schriftlich niedergelegt wurde, setzt A. andere Akzente. Sie beginnt in den Jahrhunderten nach der Zeitenwende und sucht bewusst nach den Spuren der Vorstellungen von Engel außerhalb der Gelehrtenwelt: im Alltag, in der gelebten Frömmigkeit, in den Ritualen, die von Männern und Frauen praktiziert wurden. Beide Autorinnen heben hervor, dass das Nachdenken über himmlische Wesen auch außerhalb kanonischer Schriften stattfand und ein alltäglicher Teil religiösen Erlebens im antiken Judentum war. On my Right Michael, on my Left Gabriel. Angels in Ancient Jewish Culture zeigt außerdem, wie dynamisch das rabbinische Denken auf die verschiedenen Ausprägungen der Engelsvorstellungen reagierte und damit in der Lage war, einen dauerhaften Einfluss in der jüdischen Welt auszuüben.