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Ausgabe:

Juni/2022

Spalte:

539–541

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Rodríguez-Arribas, Josefina, and Dorian Gieseler Greenbaum[Eds.]

Titel/Untertitel:

Unveiling the Hidden – Anticipating the Future. Divinatory Practices Among Jews Between Qumran and the Modern Period.

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2021. XVIII, 411 S. = Prognostication in History, 5. Geb. EUR 127,00. ISBN 9789004445062.

Rezensent:

Claudia D. Bergmann

Das Werk basiert auf einem Workshop des Internationalen Kollegs für Geisteswissenschaftliche Forschung (IKGF) »Schicksal, Freiheit und Prognose. Bewältigungsstrategien in Ostasien und Europa« an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, einem von zehn Käte Hamburger-Kollegs für geisteswissenschaftliche Forschung, das sich mit divinatorischen Techniken befasst, mit denen man in Vergangenheit und Gegenwart versuchte, die Zu­kunft voraussagbar und damit beherrschbar zu machen. In der Reihe »Prognostication in History«, die von Chia-Feng Chang, Michael Lackner, Klaus Herbers und Alexander Fidora herausgegeben wird, ist Unveiling the Hidden – Anticipating the Future nun als der fünfte Band, verantwortet von zwei Herausgeberinnen, erschienen. Josefina Rodríguez-Arribas wurde in den klassischen Altertumswissenschaften und Hebräisch ausgebildet und ist auf mittelalterliche Wissenschaftsgeschichte spezialisiert. Dorian Gieseler Greenbaum ist Historikerin und praktiziert, lehrt und erforscht nach eigenen Angaben die sogenannte »klassische Astrologie«. Diese Kooperation von Wissenschaftlerinnen und Praktikerinnen alleine verspricht schon einen interessanten Sammelband, wobei allerdings zu fragen ist, wie die geteilte Herausgeberschaft gewichtet wurde, stammt doch sowohl die Danksagung als auch die Einführung in den Band von Rodríguez-Arribas allein und zeichnet diese auch mit zwei Beiträgen zu einem Werk von Abraham bar Hiyya für knapp ein Viertel des Gesamtvolumens verantwortlich, während Greenbaum mit keinem eigenen Beitrag vertreten ist.
Wie gelang und gelingt es Menschen, die sich zum einen als jüdisch verstehen und zum anderen divinatorische Praktiken anwenden, innerhalb der Normen des jüdischen Glaubens zu verbleiben? Welche Mittel und Wege entwickelten sie, um ihre divinatorischen Interessen und Praktiken, die sie teilweise aus anderen Kulturen und Religionen übernahmen, distinkt »jüdisch zu ma­chen«? Diesen Fragen will der Band nachgehen und bietet einen »good overview of some specific regions of this immense land« (X), wie Rodríguez-Arribas in den Acknowledgements schreibt.
Das Tableau der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie ihre Themen sind erwartungsgemäß breit gefächert. So be-fasst sich Michael D. Swartz, Professor für Hebrew and Religious Studies und Spezialist für jüdische Magie und Mystik, in dem Überblicksartikel »Divination as Transaction: Rhetorical and Social Dimensions of Ancient Jewish Divination Texts« mit den sozialen Kontexten derer, die jüdische diviniatorische Texte in der Spätan-tike und dem Mittelalter nutzten. Ihm geht es um den Sitz im Leben, um die Autoren solcher Texte, die Menschen, die für solche Praktiken bezahlten oder sie beobachteten. Helen R. Jacobus, die hauptsächlich im Bereich antike jüdische Texte veröffentlicht, sich aber auch mit dem Zodiakus in der jüdischen Geschichte und Ge­genwart befasst, trägt den Artikel »Aramaic Calendars in the Dead Sea Scrolls and the Question of Divination« bei. Sie gibt einen Überblick über die astrologischen Praktiken im frühen Judentum und vertritt, dass die aramäischen Kalender in Qumran möglicherweise als Engelwissen verstanden und zu astrologischen Vorhersagen ge­nutzt wurden. Für alle, die sich mit kalendarischen Fragen in­nerhalb der Schriften vom Toten Meer beschäftigen, ist Jacobus’ Beitrag ein wichtiger Überblickstext. Die Nachwuchswissenschaftlerin Alessia Bellusci befasst sich mit magischen Praktiken und der Wissensvermittlung im Judentum von der Spätantike bis zur frühen Moderne. Ihr Beitrag »Jewish Oneiric Divination: From Da­niel’s Prayer to the Genizah Še’ilat Halom« untersucht das Genre der Traumbitten, einer weltweit verbreiteten und besonders für den antiken Mittelmeerraum dokumentierten Praxis, die sich auch in den Funden der Genizah von Kairo widerspiegelt, und versucht dabei, das Spezifische dieser Art von Divination im Judentum und seine Verbindung zu jüdischen Gebeten hervorzuheben. Blanca Villuendas Sabaté, eine Nachwuchswissenschaftlerin im Bereich arabische Philologie, die sich besonders für Phänomene des globalen Wissenstransfers interessiert, trägt im Band den Artikel »The Judeo-Arabic Version of the Pitron Halamot (›Interpretation of Dreams‹) Attributed to Hai Gaon« bei. Sie untersucht darin die Interpretation von Träumen in der breiten jüdischen Tradition und besonders das Beispiel eines Buches, das dem im 11. Jh. lebenden Hai Gaon zugeschrieben wird. Shraga Bar-On, ein Wissenschaftler mit Interessen im Bereich Literatur des Zweiten Tempels, rabbinisches Denken und moderne jüdische Identität, befasst sich in seinem Überblicksartikel »If You Seek to Take Advice from the Torah, It Will Be Given: Jewish Bibliomancy through the Generations« mit der Praxis, die Tora als Divinationsquelle zu nutzen, wobei Bar-On einen langen zeitlichen Bogen von der Antike bis in die Gegenwart schlägt. In zwei aufeinander folgenden Beiträgen, »Judah bar Bazillai and His Role in Abraham bar Hiyya’s Letter on Astrology« und (zusammen mit Amos Geula) »Abraham bar Hiyya’s Letter to Judah bar Barzillai – Translation« widmet sich die Hauptherausgeberin des Bandes Unveiling the Hidden – Anticipating the Future, Josefina Rodríguez-Arribas, dann der Erstherausgabe einer englischen Übersetzung und einer ausführlichen Diskussion des genannten Briefes, der im ersten Viertel des 12. Jh.s geschrieben wurde und sich mit einer Kontroverse hinsichtlich der Nutzung von Astrologie in der jüdischen Gemeinde von Barcelona auseinandersetzt. Zum Thema »Maimonides on Magic, Astral Magic, and Experimental Science« schreibt Dov Schwartz, der im Gebiet des jüdischen Denkens jahrzehntelang und breit veröffentlicht hat. Er bietet einen differenzierten Blick auf Maimonides’ Entwicklung und versucht zu zeigen, dass dieser zwischen professioneller und volkstümlicher Magie unterschied und sich im Laufe seines Lebens immer strikter gegen die Astralmagie aussprach. Hauptsächlich im Bereich des Mittelalters bewegt sich »On the Various Faces of Hebrew Physiognomy as a Prognostic Art in the Middle Ages«, verfasst von Joseph Ziegler, einem Spezialisten für Medizin, Religion und Geschichte mit einem besonderen Augenmerk auf das Judentum, der sich hier überblicksartig zu den Quellen und Vorstellungen von Physiognomie im jüdischen Denken äußert. Dabei erkennt er klare Verbindungen zu griechisch-römischen Vorstellungen und präsentiert einen Beispieltext aus der Feder von Meir ben Isaac Aldabi aus dem mittelalterlichen Katalonien. Charles Burnett, Professor für die History of Islamic Influences in Europe und Herausgeber und Übersetzer zahlreicher Texte, die vom Arabischen in das Lateinische übertragen wurden, bietet in »Inscriptio characterum: Solomonic Magic and Paleography. With an Appendix on the Making of the Grimoire by Nicholas Pickwood« zum Abschluss des Bandes einen Beitrag zu den Schreibmaterialien und der Kunst der Buchherstellung, von denen in mittelalterlichen lateinischen Texten zum Thema Magie berichtet wird.
Der rezensierte Band ist ein Sammelband, und das hat Vor- und Nachteile. Es gibt wahrscheinlich wenige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die ihn from cover to cover mit anhaltendem Interesse lesen werden, vereinigt er doch Beiträge, die sich oft so­wohl in der betrachteten Zeitperiode als auch im Untersuchungsgegenstand in komplett unterschiedlichen Universen bewegen. Die Hauptherausgeberin Josefina Rodríguez-Arribas versucht im einführenden Essay »Divination in Jewish Cultures – Some Reflections on the Subject of This Book«, dieses Manko zu beheben und Linien zu ziehen, die die einzelnen Beiträge verbinden und die Bedeutung des Sammelbandes für das Forschungsgebiet unterstreichen. Dabei beginnt die Autorin mit einer kurzen Begriffsklärung und einem Versuch, divinatorische Praktiken in ihren einzelnen Ausprägungen zu umreißen. Die Betonung liegt auf Folgendem, schreibt Rodríguez-Arribas: »We were more interested in actual divinatory practices, both the variety of ways used to unveil what is hidden and unknown, and with how Jews understood their divinitory practices within the frame of contemporary religion, philosophy, and science.« (5) Bewusst wurde das viel diskutierte Feld der Divination in der Hebräischen Bibel nicht mit in den Band hineingenommen, obwohl die Tora ja oft im Hintergrund der Diskussion mitschwingt. Auch unterscheidet die Autorin der Einführung zwischen Divinatorischem und Magischem und legt einen Fokus auf Ersteres, wobei der Unterschied und die eventuell überlappenden Grenzbereiche zwischen beiden noch nicht abschließend geklärt sein dürften. Und so präsentiert der Band einen äußerst interessanten Einblick in das Thema, geht hier und da in die Tiefe, und lässt ahnen, wie vielfältig die verschiedenen Strömungen des Judentums mit dem Thema Divination umgegangen sind. Der klare Vorteil und Wert dieses Sammelbandes aber ist es, dass er der Erste ist, der sich ausschließlich mit divinatorischen Praktiken im Bereich des Judentums beschäftigt und die Desiderata in der Forschung deutlich benennt. Mögen diese nun auf der Basis der hier vorgelegten Texte Stück für Stück behoben werden.