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Ausgabe:

Juni/2022

Spalte:

535–537

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Bäder-Butschle, Ivo, u. Detlef Lienau

Titel/Untertitel:

Funktionalisierte Religion. Soziologische Perspektiven auf Religion und Kirche.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2021. 256 S. Kart. EUR 25,00. ISBN 9783374069019.

Rezensent:

Ralph Kunz

Weder Detlef Lienau noch Ivo Bäder-Butschle sind von Haus aus Soziologen. Beide arbeiten für die Kirche und schlagen im vorliegenden Band eine Brücke zwischen Soziologie und Theologie. Im ersten Teil (7–164) werden gegenwärtig aktuelle soziologische Entwürfe einer differenzierten Sichtung unterzogen, im zweiten Teil (165–247) werden Querschnittsthemen der soziologischen Kirchenschau mit einer kritischen Reflexion der Funktionalität verknüpft und Perspektiven für die Kirchenentwicklung aufgezeigt.
Die Autoren bejahen den Erkenntnisgewinn, den »die neue Leitwissenschaft« der Kirche einträgt, warnen aber vor einer »verengten Wahrnehmung, die […] relevante Spezifika von Religion übersieht« (14). Was die Soziologie insgesamt zu wenig berücksichtige, sei die Eigenlogik des Religiösen. Theologisch gesprochen gehe es darum, offen zu bleiben für das Wirken Gottes. Die Offenheit für Transzendentes kommt allerdings nicht erst in der »Therapie« ins Spiel. Es ist eine Perspektive, die auch die »Diagnose« der kirchlichen Situation verändert. Soziologische Analysen der Religion, so könnte man das Anliegen der Autoren zusammenfassen, müssen mittels einer theologischen Reflexion mit der religiösen Analyse des Sozialen ins Gespräch gebracht werden. Denn »Soziologie bietet nicht die Expertise, die die Kirche einfach übernehmen könnte. Aber sie bietet eine fruchtbare, wenn auch nicht immer unpro-blematische Außensicht, von der Kirche profitieren kann.« (10) Es sind vier Theorieentwürfe, welche die Autoren genauer unter die Lupe nehmen: die Beschleunigungs- und Resonanztheorie von Hartmut Rosa, die Singularisierungstheorie von Andreas Reckewitz, die Sakralisierungstheorie von Hans Joas und die Säkularisierungstheorie von Detlef Pollack.
Den meisten Lesern dürfte Hartmut Rosa bekannt sein. Die Autoren bieten in ihrem kompakten Resümee eine erhellende und kompakte Lektüre des Entwurfs. Zu Recht wird Rosa intensiv rezipiert und diskutiert. Seine Analyse der Beschleunigungsprozesse als universalgeschichtliches Phänomen in der Spätmoderne ist bedenkenswert, die Folgerungen für das Leben von großer Konsequenz, allerdings meinen die Autoren in ihrer Kritik, neige die Diagnose der Beschleunigung zur Überverallgemeinerung (27). Rosa unterschätze die Komplexität der Wirklichkeit, vor allem aber sei er zu pessimistisch und räume den Handlungsmöglichkeiten der Menschen zu wenig Raum ein. »Darum sollte unseres Erachtens die Möglichkeit, sich an Handlungsmustern zu orientieren, die nicht der Logik der Beschleunigung folgen, nicht vorschnell negiert werden. Gesellschaft ist gestaltbarer, als dies insbesondere im Schlussresümee des Beschleunigungs-Buchs erscheint.« (28) Zur Leitthese Rosas, dass Resonanz die Therapie für Beschleunigung sei, gehen die Autoren auf Distanz. Sie betonen: Auf die Herausforderung der Beschleunigung sei Entschleunigung die Antwort, Resonanz sei die Lösung für das Problem der Entfremdung (34). Das spreche aber nicht gegen das Potential der phänomenologisch inspirierten Resonanztheorie.
Bezeichnend ist Rosas Rede von Achsen, bezeichnend auch, dass die vertikale Achse nicht allein der Religion überlassen bleibt, sondern die Beziehung zu den großen Kollektivsingularen – der Natur, der Kunst und der Geschichte – gemeint ist. Es sei darum wenig erstaunlich, dass Rosa liberalere Formen des Religiösen favorisiere und sowohl gegenüber religiösem Fundamentalismus wie privatem Spiritualismus Vorbehalte signalisiere und gelingenden Weltbeziehungen eine Mitte zwischen den Extremen zuweise (40). Eine ekklesiologische Anwendung der Resonanztheorie sucht denselben Mittelweg und sieht die Kernaufgabe der Kirche darin, vertikale Resonanzen zu ermöglichen. Sie sei daher gut beraten, sich als Organisation nicht den Beschleunigungszwängen der Moderne zu unterwerfen und (durchaus anachronistisch) Institution zu bleiben. Insgesamt leiten die Autoren aus Rosas Entwurf die Handlungsempfehlung für die Kirche ab, ihre Stärke als liberale Volkskirche nicht vorschnell aufzugeben. (62)
Die Rosa-Rezeption allein böte genug Stoff für interessante An­schlussdiskussionen, aber – und das ist ein großes Verdienst der Autoren – sie bekommt durch die anderen Lektüren Konkurrenz. Es bleibt nicht bei der Bestätigung der Stärken der gegenwärtigen kirchlichen Praxis. Unter dem bezeichnenden Titel »tragische Singularisierung« referieren die Autoren den wesentlich pessimistischeren Theorieentwurf von Andreas Reckwitz. Entscheidend ist hier, dass Reckwitz wenig bis gar keinen Sinn für die Eigenlogik des Religiösen gelten lässt und alles, auch die Religion, den übermächtigen Mechanismen der Singularisierung und Valorisierung unterwirft. Wie schon bei Rosa kritisieren die Autoren die Tendenz zur Totaltheorie. Die Übergeneralisierung der Diagnose blendet Phänomenbereiche und Perspektiven aus. In der Perspektive einer tragischen Singularisierung werden sogenannte Neogemeinschaften a usgemacht und das religiöse Kollektiv als reaktionäre Gegenbewegung reduziert und denunziert (68). In der Perspektive einer ästhetischen Valorisierung bleibt die normative Basis der Wertebildung außen vor und die Rationalität der Diskurse unterbelichtet (89 f.). Reckwitz, so könnte man das Gespräch mit ihm zusammenfassen, ist für die Autoren interessant, weil er nicht Recht haben darf. Aus seinem Entwurf lässt sich keine Handlungsempfehlung gewinnen. Würde seine Analyse zutreffen, wären die Zukunftsaussichten für Kirche aporetisch (96).
Wenn Andreas Reckwitz eine Anleitung zur Dekonstruktion der vitalen Eigenfunktion des Religiösen liefert, die von den Theologen gekontert wird, bietet Hans Joas einen Weg, das Potential des Phänomens Religion auf eine neue und originelle Weise zu rekonstruieren. Der Zugang zu diesem Ansatz führt über Idealbildungen, die durch Selbsttranszendenz erfahren (und nicht nur konstruiert) werden (100 f.). Was bei Joas »Sakralität« heißt, ist eine anthropologische Universalität, ein Bewusstsein für die Macht des Heiligen, die gleichwohl historisch kontingent, also mit der Zeit entstanden ist. Säkularisierungstheoretisch (und wissenssoziologisch verstanden) bedeutet das, dass dieses Bewusstsein mit der Zeit auch wieder verschwinden könnte. Joas geht es aber darum zu zeigen, dass dieses Bewusstsein nicht verschwinden muss. In seiner Max-Weber-Kritik begründet Joas, warum er der Entzauberungs- und Rationalisierungsthese nicht folgen will. Es gelte, in der Komplexität und Pluralität der Modernisierung die Gegenkräfte zu sehen und mit der Regeneration von Idealbildungen zu rechnen. Im »Zeitalter der Kontingenz« sind darum echte Optionen gefragt. Werte erwachsen, anders als bei Reckwitz, aus Erfahrungen der Selbstbildung und Selbsttranszendenz. Allerdings sei, so der Einwand der Autoren, eine solche Regeneration auf Wahrheitsansprüche angewiesen. Ihre Kritik an Joas setzt hier an: »Wenn Wahrheitsfragen zur Seite geschoben werden, geht damit neben dem Streit auch produktives Potential verloren.« (112)
Der Satz könnte ein Motto sein, der über dem soziologisch-theologischen Diskurs steht, den die Autoren auf hohem Niveau pflegen. Der Rezensent bedauert, dass er nur summarisch auf die Auseinandersetzung mit der Säkularisierungstheorie von Detlef Pollack verweisen kann. Denn auch in diesem Gesprächsgang er­weisen sich die Autoren als gewiefte Dialogpartner, die einerseits über eine große soziologische und sozialphilosophische Expertise verfügen und andererseits ihre theologische Hausaufgabe nicht vergessen haben. Das gilt generell für den zweiten Teil des Bändchens, wo die Autoren versuchen, Lehren für die Kirche zu ziehen und eine Quintessenz in Form von Spannungen zu formulieren, was angesichts der Fülle, der Weite und Dichte der Einsichten im ersten Teil einem intellektuellen Husarenritt gleicht. Und sie fallen nicht vom Pferd.
Eine Kerneinsicht hält das Ganze zusammen: Religion hat ein Eigenes, das sich der soziologischen Aufklärung entzieht. Eine aufgeklärte Soziologie weiß darum und muss sich, auch wenn sie das Terrain der Erkundung phänomenologisch oder sozialphilosophisch weitet, die Kritik einer durch Funktionalisierung verengten Wahrnehmung gefallen lassen – es sei denn, sie kann die Antifunktionalität einer (nichttheologischen) Begründung der Religion theoretisch integrieren.
Damit ist die Grundspannung einer funktionalen Funktionalität nicht vom Tisch, aber diese Spannung kann hinsichtlich der Kirche soziologisch reformuliert werden, wenn z. B. Kirche als eigener Funktionsbereich gesehen wird, der funktional unbestimmt bleiben muss. Im engen Zusammenhang mit der ersten steht deshalb die zweite Kerneinsicht: Die Theologie kann von der Soziologie Hinweise für kirchenleitendes Handeln bekommen, sie kann ihre Optionen plausibilisieren, aber sie darf keine Rezepte für ein besseres Funktionieren erwarten. Insofern hat das, was die Autoren in ihren Perspektiven für die Kirche formulieren, den Charakter einer plausibel begründeten Auslegeordnung, die mögliche Ent wicklungspfade darlegt und vor möglichen Sackgassen warnt. Chancen und Herausforderungen werden zweisprachig formuliert. Dass es klüger ist, wenn die Kirche (wieder) stärker auf religiöse Gemeinschaft setzt, können die Soziologen sagen; dass es beim kirchensteuernden Handeln darum gehe, »für das mögliche Wirken von Transzendenz« (246) offen zu bleiben, nur die Theologen. Es sind zwei Logiken, die zwar aufeinander bezogen werden, aber besser nicht vermischt werden sollten. Ohne Stolpern geht es nicht. Darum ist es vielleicht nicht unpassend, dass der letzte Satz des Büchleins ein wenig strauchelt: »Zugleich realistisch und motivierend ist ein religiöses Selbstvertrauen, das den empirischen Blick nicht scheut und sich zugleich über Zahlen und Prognosen hinausgehend glaubt, hofft und liebt.« (247)
Etwas störend für den Lesefluss und Lesegenuss ist der spiralförmige Aufbau der Argumentation. Das führt zu Redundanzen und Rekursen, die nicht nötig wären. Es sorgt allerdings auch für eine Repetition der dichten Gedanken, die das Ganze eingängiger macht. Was beim Durchlesen stört, ist beim Auslesen praktisch. Für die Lehre oder die Erwachsenenbildung lassen sich einzelne Kapitel herauspflücken, die für sich und in sich stimmig sind. Allerdings verlangt die Lektüre ein gerütteltes Maß an soziolo-gischer Vorbildung. Eine zweite Schwäche: Zuweilen ist die Kartografierung der theologischen Positionen etwas unterkomplex geraten. Das gilt insbesondere für die Verwendung des übercodierten Codes »liberal«. Eine aufmerksame Lektüre des soziologischen Er­trags und der kirchentheoretischen Perspektiven müsste nach Meinung des Rezensenten zu einer Neuverortung theologischer Positionierungen führen.
Die kleinen Mäkeleien sollen das große Lob für die reiche kirchentheoretische Ernte der geleisteten soziologischen Feldarbeit nicht mindern. Der Rezensent hat sehr viel aus der Lektüre gewonnen und dankt den Arbeitern – auch für die sauren Früchte!