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Ausgabe:

Mai/2022

Spalte:

506–509

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Thöle, Reinhard

Titel/Untertitel:

Geheiligt werde dein Name. Christliche Gottesdienste zwischen Anbetung und Anbiederung.

Verlag:

Baden-Baden: Tectum Verlag (Nomos) 2021. 178 S. Kart. EUR 24,00. ISBN 9783828846364.

Rezensent:

Ralph Kunz

Das Buch verspricht einen Blick hinter die Kulissen der liturgischen Wirklichkeit zu werfen und macht schon im Titel klar, was der Autor dort sieht: Christliche Gottesdienste zwischen Anbetung und Anbiederung. Für alle, die »mit Ernst Christen sein wollen« (Martin Luther, Vorrede zur Deutschen Messe), ist somit der Fall klar. Wenn der Gottesdienst zwischen Anbetung und Anbiederung steht, steht er unter dem Einfluss einer zeitgeistigen Eventkultur. Mehr als banale Popularisierung und flaches Geplänkel, das nur dem Schein nach noch Gottesdienst ist, darf man in diesem Zwischenreich nicht erwarten. Reinhard Thöle, emeritierter Professor für Ostkirchenkunde an der Theologischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und Professor h.c. für Ökumenische Theologie an der »Patriarch Justinian« der Universität Bukarest, zieht kräftig vom Leder. Seine kulturkritische Analyse der zeitgenössischen Gottesdienstpraxis zeichnet ein desaströses Bild der realexistierenden Liturgie über Konfessionsgrenzen hinweg.
Auf diesem dunklen Hintergrund scheint das Licht eines idealtypischen Ritus, wie ihn die orthodoxen Kirchen (besser als andere) bewahrt haben, umso heller, ein Licht, in dessen Schein unmissverständlich klar wird, dass ein Gottesdienst, der nicht der Anbetung dient, eigentlich kein Gottesdienst mehr sein kann. Die mit Verve und spitzer Feder geschriebene fulminante Kulturschelte erinnert in Manchem an Martin Mosebachs Buch über die Häresie der Formlosigkeit (2019). T. legt in der Einleitung dar, wie er sein Buch versteht. Er nennt seine Beobachtungen und Informationen zum Phänomen Gottesdienst, die »in einer nicht streng systematisierten Abfolge […] zusammengestellt und kommentiert« werden, den »Entwurf eines Psychogramms«. Es geht ihm um Hinter- und Abgründiges auf dem ungesicherten Feld der verborgenen Emotionen und versteckten Haltungen, um Dinge also, die sich nicht in den Büchern, sondern erst im Akt der Feier zeigen. Denn »ein Ritus kann bei gleicher Textgestalt gottesfürchtig oder blasphemisch sein. Ein Ritus offenbart immer auch eine Entschlüsselung des Persönlichen. Man könnte es so sagen: ›Zeige mir den Gottesdienst, den du feierst, und ich sage dir nicht nur, welche Theologie du vertrittst, sondern auch welchen Charakter du hast.‹« (3) Zum Vorschein kommt das Menschliche. Die Liturgica Abscondita (107 ff.) hat freilich auch eine andere Seite. Wer in sich geht, bekommt es mit Gott zu tun. Es ist diese Mischung, die den Ritus gefährdet und gefährlich macht und es ist zugleich das bipolare Muster, nach dem diese kleine Liturgietheologie gestrickt ist. Gott und Mensch, An­betung und Anbiederung, Symbol und Diabol, Leben und Tod […] Man muss sich entscheiden »zwischen Anbetung und Selbstzerstörung«. (170)
Der in elf Kapitel gegliederte Argumentationsgang wechselt zwi­schen Fundamentalliturgie und Fundamentalkritik hin und her. Es wird viel Lehrreiches und Tiefgründiges mitgeteilt, aber es werden noch mehr Schläge ausgeteilt. Ein erstes Kapitel widmet sich dem Erbe des Gottesdienstes, wie er aus den Wurzeln des Neuen Testamentes gewachsen ist. Für T. ist das Fundament und der Ausgangspunkt des christlichen Ritus die Erfahrung der Gegenwart des Auferstandenen und seine Mahlfeier mit den Jüngern. (8) Die eucharistische Identität der Kirche ist Kern und Stern der Liturgik. Daran gibt es nichts zu rütteln und darüber wird nicht diskutiert. Und genau das ist der Grund für den ständigen Kampf um die Eucharistie. »Das eigentliche Ziel des Widersachers wäre dabei natürlich, die Realpräsenz des Christus in der Eucharistie zu desavouieren, lächerlich zu machen, zu leugnen oder zu marginalisieren und damit aus den Angeln zu heben.« (19)
T.s starker Realismus tendiert nicht nur hier zum Dualismus. Eine exklusive Entweder-oder-Logik bestimmt den Duktus der Argumentation. »Glaubt man nicht mehr an die Realpräsenz Christi im Heiligen Abendmahl oder an das Handeln des Heiligen Geistes in der versammelten Gemeinde, entfernt man die alles andere bedingende Dimension des Gnadenhandelns.« (29) Und exakt das ist geschehen. Der Gottesdienst in der Ökumene ist entkernt. Dort, wo das Mysterium des Glaubens gefeiert werden sollte, wird »ge­staltet« – ein Reizwort für T., der in diesem Begriff ein Indiz dafür erkennt, dass Macher und nicht Beter am Werk sind. Der deklassierte Gottesdienst ist ein Schatten seiner selbst geworden, ein »Endlager kirchlicher Identitäten« (42), mit denen eine Art konfessionalistischer Konkurrenzkampf ausgetragen wird. Dabei haben (fast) alle mit demselben Problem zu kämpfen. Das doppelte Bestreben, den säkularen Zeitgenossen die Zumutung des alten Gottesdienstes zu ersparen und die Schätze der alten Kirche zu heben, führte in der katholischen Kirche zur konziliaren Reform. Sie kommt bei T. nicht gut weg. Die historisch-kritisch rekonstruierte ideale Liturgie sei eben nicht zwingend die bessere Liturgie – der »Geist der Liturgie«, der das im tridentinischen Ritus Gewachsene verbannen und verdammen wollte, sei auch das Produkt eines zwanghaften Reformeifers.
T. sieht auch bei den Ostkirchen Problematisches. Genannt werden die Fanatiker, Feindbild-Stereotypen und nationale Eiferer. Das Ur­teil über den »Orthodoxokalismus« ist gemischt und – verglichen mit dem Urteil über die Evangelischen – relativ mild und knapp ge­halten: »Das Phänomen der Fanatiker in der Orthodoxie bedürfte einer gründlichen historischen und theologischen Untersuchung. Insgesamt ist es zwar verständlich, jedoch bedauerlich, dass die Kirchenleitungen Rücksicht auf diese Fraktion nehmen.« Entscheiden­der ist für T., was am Ende des Kapitels steht: »Die or­thodoxe Liturgie hat gerade wegen der Bewahrung ihres sakralen Charakters ein großes Potenzial, von der gegenwärtigen Gesellschaft an­genommen zu werden, weil sie authentisch geblieben ist.« (75)
Es verwundert nicht, dass T. aufgrund der Messlatte, mit der er Maß nimmt, am evangelischen Gottesdienst kaum etwas Gutes finden kann. »Der protestantische Umgang mit dem Sakrament«, also das, worauf es allein ankommt, »signalisiert eher theologische Unsicherheit, praktische Hilflosigkeit und spirituelle Last als Liebe. Vielleicht hat man auch Angst vor der Verbindlichkeit des Glaubens, die vom Abendmahl ausgeht.« (81) Für T. ist klar, woran das liegt. »Im protestantischen Abendmahlsparadox kann man eine tief sitzende antieucharistische Blockade als eine über Generationen in die protestantische Genetik eingesickerte Grundhaltung erkennen.« (83) Aus diesem Grundübel stammen alle anderen Gräuel: die Moralisierung, Pädagogisierung und – durch den Einfluss des Neopietismus verstärkt – die Umgestaltung des Gottesdienstes zu einer Kulturveranstaltung. T. bringt es auf den Begriff des »Neo-Usus«. Damit ist »die liturgische Symphonie der protestantischen Individualisten und Spezialisten« gemeint, »die eine neue Lebendigkeit und Wichtigkeit darstellen soll. Diese Symphonie wird dirigiert von Pfarrämtern, im besten Fall mit Vorbereitungskreisen, die die Zauberkunst der liturgischen Effekte beherrschen.« (91)
Und T. beherrscht die Kunst der Polemik! Was die Protestanten feiern wird nach Strich und Faden zerlegt. Der Ton schlägt erst dort wieder um, wo T. in den Schlusskapiteln das Mysterium des Glaubens in den Mittelpunkt stellt. Mit Mircea Eliade, Alexander Schmemann und anderen Gewährsleuten wird noch einmal be­tont, dass der Gottesdienst als Kraftfeld und archetypischer Kampfort gefährlich ist, weil es um alles oder nichts geht. Nur der echte Gottesdienst, nur die heilige Liturgie kann in diesem Kampf bestehen. Ein simplifizierter Predigtgottesdienst, »der zu besonderen Anlässen mit säkularen und neoreligiösen Elementen aufgeputzt wird« (130), ist dazu zu schwach.
Was ist dieses Buch? Schmährede? Orthodoxe Mission? Weckruf? Ein ernstzunehmender Beitrag zum liturgiewissenschaft-lichen Diskurs? Der Rezensent schlägt vor, das Traktat bei den Kampfschriften einzuordnen. Man kann T. vorwerfen, dass er ins Zynische abgleitet. Man kann den Verdacht nicht loswerden, dass da einer mit einer gewissen Lust die Messer wetzt, bevor er seine scharfen Pointen setzt. Man kann, nein, man muss fragen: Wo bleibt das Verständnis für das ekstatisch-pfingstliche und erweckliche Christentum – immerhin die Mehrheit der Christen weltweit? Wo sind die Frauen? Sie kommen schlicht nicht vor. Man kann es auch so sagen: ‚Erkläre mir Deine Theologie und ich verstehe, warum Du mit dem Finger auf meinen Gottesdienst zeigst.‘
Es gäbe also gute Gründe, auf die Kampfschrift kämpferisch zu antworten und die »vulgär-konfessionell verortbaren Meinungsklischees« (2) T.s zu dekonstruieren. Aber eine Rezension ist keine Retourkutsche. Vor allem müsste man, wenn es nur Polemik wäre, das Büchlein nicht besprechen. Es ist mehr als das. Dafür steckt leider zu viel Wahres in seiner Kritik. Es ist eine Auseinandersetzung, die es gerade wegen ihrer Schärfe verdient, zur Kenntnis genommen zu werden. Was T. mit chirurgischer Präzision freilegt, sind Schwachstellen im liturgischen Fundament der evangelischen Kirchen. Bedenkenswert ist der Einwand, dass der von der Eucharis-tie her verstandene Ritus in Analogie zur Christologie »ganz vom M enschen« und »ganz von Gott« durchdrungen ist und deshalb mit einer doppelten Verbergung gerechnet werden muss, die auch zur doppelten Verzerrung werden kann. Wenn das Ritual ein Spiel ist, dann ist das Geschenk der göttlichen Präsenz im Sakrament seine wichtigste Regel. Wird sie nicht beachtet, geht etwas Wesentliches verloren; wird sie zum Ge­setz, verliert der Ritus seinen Spielcharakter und wird zum Gehäuse der Rechtgläubigen.
Das christologische Paradox, das in dieser Dialektik zutage tritt, stiftet Klarheit durch Unterscheidung, aber fordert auch ein Mo­ment des Gerichts durch die Scheidung der Geister. Es trifft auch eine Kirche, die sich sakral verschließt. Der Selbstabschluss, der andere ausschließt, ist der Preis, den diejenigen zahlen, die das Wort Christi, das als Gesetz richtet und als Evangelium freispricht, aus dem Gottesdienst verbannt haben. Wenn T. mit Recht betont, dass man die hiero- und theophanische Dimension des Gottesdienstes nicht übersehen darf (169), ist mit derselben Vehemenz daran zu erinnern, dass dieses Wort nicht überhört werden darf. Ein für Gottes Wort tauber Gottesdienst wäre die tragische, vielleicht sogar tragikomische Variante eines liturgischen Theaters, in dem der Herr gesehen, aber nicht gehört wird. Könnte es sein, dass erst ein Gespräch, das sich an diesem Reibungspunkt der Epiphanie des Heiligen entzündet, den vulgär-konfessionellen Schlagabtausch hinter sich lassen wird?