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Ausgabe:

Mai/2022

Spalte:

502–504

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Gärtner, Dirk

Titel/Untertitel:

Gelingen im Scheitern. Moraltheologische Überlegungen zu zwei Kategorien einer christlichen Identität.

Verlag:

Re­gensburg: Verlag Friedrich Pustet 2020. 352 S. = Studien zu Spiritualität und Seelsorge, 10. Kart. EUR 39,95. ISBN 9783791731438.

Rezensent:

Wolfgang Vögele

Diese Dissertation über Gelingen und Scheitern, angefertigt beim Moraltheologen Peter Schallenberg in Paderborn, fällt deshalb auf, weil sie in einer praktisch-theologischen Reihe erschienen ist und aus moral- und fundamentaltheologischer Sicht ein Thema bearbeitet, das sonst der Philosophie oder der praktischen Theologie zugeordnet wird. Dirk Gärtner hält seinen moraltheologischen Ansatz konsequent durch und gelangt im Ergebnis zu einer schlüssigen und überzeugenden Bearbeitung des Themas.
Was Scheitern ist, ist für ihn schwer zu definieren. Menschen können an Aufgaben scheitern, sie können Verlusterlebnisse als Scheitern bestimmen. Der Vf. interessiert sich für das »Scheitern der Biographie« (12). In dieser Hinsicht lässt sich Scheitern als »anthropologisches Grundfaktum« (13), als Gegenbegriff von Erfolg beschreiben. Der Vf. konstatiert einen »Bruch zwischen Systematik und pastoraler Praxis, ferner auch zwischen der Theologie und den Wissenschaften«. Darum versteht er seine Aufgabe als die Entwicklung von Bausteinen zu einer umfassenden »Theologie des Scheiterns« (15). Scheitern und Gelingen will er als »zwei moraltheologische Kategorien einer christlichen Identität zu beschreiben.« (16) Dafür ist relevant der Zusammenhang zwischen Scheitern, Gelingen und Glauben. Dabei wird für den Vf. von Anfang an die Unterscheidung zwischen naturalem und lebensgeschichtlichem Scheitern (17) zentral.
Die Untersuchung ist so aufgebaut, dass der Vf. zunächst phänomenologisch klärt, was Scheitern ist (Kapitel 2), dann kommt er auf die Moraltheologie Klaus Demmers zu sprechen, die er für eine Ethik des Scheiterns modifiziert (Kapitel 3), um dann im nächsten Teil die Ergebnisse mit philosophischen, soziologischen und sozialpsychologischen Konzeptionen des Scheiterns zu diskutieren (Kapitel 4), während schließlich im letzten Kapitel die theologischen Erträge aufgelistet werden (Kapitel 5).
Am Anfang (21 ff.) nähert sich der Vf. seinem Thema phänomenologisch. Nicht jedes Misslingen gilt ihm als Scheitern. Und nicht jedes Scheitern verknüpft sich für ihn mit persönlicher Schuld (26). Er konzentriert sich auf das lebensgeschichtliche Scheitern (29) im Gegensatz zu Glück und Gelingen (30 ff.). Sein Ziel sieht er in einer »erneuerten Strebensethik« (38). Er präpariert heraus, dass das Gelingen eines Lebens nicht nur vom Einzelnen selbst abhängig ist; Kontexte, Tragik und Kontingenzerfahrung (50) haben Einfluss auf die Lebensgestaltung und können zum Scheitern eines Lebens führen.
Gefährdungen der eigenen Lebensgestaltung werden in Krisen (55) verarbeitet. Die Verantwortung des Einzelnen für sein Leben stehe allerdings im »größeren Kontext heilsgeschichtlicher Vollendung« (55), was die Frage nach Scheitern und Gelingen relativiert. Das Individuum kann existentiell an den Bedingungen seines Lebens (Krankheit, Sterben und Tod) scheitern oder es kann lebensgeschichtlich an dem scheitern, was es sich für sein Leben vorgenommen hat (80 ff.) Auf das naturale Scheitern hat das Individuum keinen Einfluss, da es seine eigene Endlichkeit nicht abschaffen kann. Das Gestalten des eigenen Lebens liegt, in dieser Perspektive betrachtet, als sittliches Handeln jedoch sehr wohl in der Verant wortung des Einzelnen. Lebensentwürfe können gelingen oder nicht – und sind darum ein moraltheologisches Thema.
Naturales und lebensgeschichtliches Scheitern sind aufein-ander bezogen: »Weil das Scheitern als Existential dem sittlichen Scheitern vorausliegt, ist es das Scheitern schlechthin. Alle Akte sittlichen Scheiterns und Gelingens werden durch das existentiel-le Scheitern im Tod in Frage gestellt.« (91) Nur dieses lebensgeschichtliche Scheitern ist im Gegensatz zum naturalen, existentiellen Scheitern ethischer Bearbeitung zugänglich, was auch eine bestimmte Hermeneutik nach sich zieht. Sie wird bestimmt durch den Lebensrückblick in die Vergangenheit und die Lebensplanung in die Zukunft. Lebensgeschichtliches Scheitern wird ethisch beurteilt. Zuletzt aber kann das Gelingen oder Scheitern eines Lebens nur aus einer theologischen Perspektive beurteilt werden (109).
Der Vf. überprüft diese Momente einer Moraltheologie des Scheiterns an der Hermeneutik der Lebensdeutung, die der römische Moraltheologe Klaus Demmer (119 ff.) entwickelt hat. Demmers Denken, zugleich Tugendethik und Hermeneutik, kreise um die Begriffe Prophylaxe und Prävention (128). Gelingen werde nicht statisch, sondern dynamisch aufgefasst, als Kreuzesnachfolge des Einzelnen, im ständigen Rekurs auf die Kirche als Deutegemeinschaft (144). Die Identitätstheorie Demmers ist dem Vf. nach nicht abstrakt dogmatisch, sondern praktisch-theologisch, alltagsethisch und spirituell ausgerichtet. Für Demmer sind Identität und sittliche Persönlichkeit austauschbare Begriffe (205).
Diesen so herauspräparierten Identitätsbegriff bei Demmer profiliert der Vf. dann im nächsten Kapitel an Entwürfen der Philosophie (Hans Krämer, Charles Taylor), der Sozialpsychologie (Heiner Keupp, Karl Haußer) und der Soziologie (Matthias Junge, Götz Lechner). Hinzu kommt ein Abschnitt über Judith Butler, deren Werk für den Vf. eine Sonderstellung besitzt (206 f.). Aus diesen Reflexionen ergeben sich verschiedene Präzisierungen und vor allem Dynamisierungen des Identitätsbegriffs. So übernimmt der Vf. von Ch. Taylor die Abhängigkeit der individuellen Identität vom jeweiligen kulturellen und historischen Kontext (235), von Butler die These, dass sich das Individuum in seiner Identitätskonstruktion nie ganz transparent ist (282).
Im vierten Kapitel schließlich liefert der Vf. »Bausteine einer Moraltheologie des Scheiterns« (283) und orientiert sich dabei an Stichworten, die Hans Blumenberg in seinem Essay »Schiffbruch mit Zuschauer« eingespielt hat: Ausfahrt verweigern, Kurs setzen, Zuschauer, Schiffbrüchige, Kreuz und Glauben. Es ist wenigstens die Frage zu stellen, ob es nötig war, Blumenbergs an Metaphern orientierte Begriffe zusätzlich einzuspielen, oder ob es nicht ge­nügt hätte, die Ergebnisse der beiden Teile davor zusammenzufassen und auf den Punkt zu bringen. Wichtig erscheint jedenfalls, dass der Vf., darin über Blumenberg hinausgehend, die theologische These vertritt, dass Scheitern und Gelingen einer Lebensgeschichte durch Kreuz und Auferstehung relativiert werden: »Aus christlicher Sicht können sittliches Scheitern und Gelingen als relativ verstanden werden, ist doch sittliches Leben stets vorletztes.« (335) Und daraus folgt ein ganz bestimmter Identitätsbegriff: »Christliche Identität ist stets offene Identität. Sie entwickelt sich zwar innerhalb der biographischen und damit sittlichen Lebensgeschichte, findet aber ihren Abschluss und ihre Vollendung in der Ewigkeit. Somit steht vor jedem Gelingen das Kreuz als Vorzeichen. Gelingen ist nur im Scheitern zu haben.« (334)
Insgesamt erscheint die Arbeit des Vf.s als eine gelungene be­griffliche Argumentation, die in der Wahl der Fragestellung, Aufbau und Gliederung sowie der argumentativen Durchführung überzeugt. Es werden nicht nur Zitate aneinandergereiht, sondern ethische Fragen argumentativ bearbeitet. Dass dies vor dem Hintergrund einer katholischen Moraltheologie geschieht und manches in evangelischer Alltagsethik etwas anders gesehen wird, tut der Arbeit keinen Abbruch, im Gegenteil: Sie fordert die ökumenische Diskussion der Thesen geradezu heraus. Weiterführend wäre es, seine Thesen an literarischen oder alltagspraktischen Beispielen durchzuspielen. Denn die Fragen von Gelingen und Scheitern sind im Bildungsroman seit dem 19. Jh. wiederholt bearbeitet worden. Das ethische Instrumentarium, das der Vf. entwickelt, sollte an Lebensgeschichten (Interviews, Literatur) erprobt werden. Diese letzten Vorschläge sind nicht als Kritik gemeint, sondern als weiterführende Fragen zu einer sehr anregenden und überzeugenden Monographie.