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Ausgabe:

Mai/2022

Spalte:

474–477

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Troeltsch, Ernst

Titel/Untertitel:

Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen(1912). Hg. v. F. W. Graf. In Zusammenarbeit m. D. Bielefeld, E. Hanke, J. Heider, F. Komotoglou u. H. Loidl-Emberger. 3 Teilbde.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2021. XXXIV, 2086 S. = Ernst Troeltsch Kritische Gesamtausgabe, 9/1–3. Geb. EUR 570,00. ISBN 9783110440928.

Rezensent:

Christian Danz

»Ich möchte an dieser Stelle auf ein Buch hinweisen, von dem ich wünschte, dass es in Ihrer aller Hand wäre und daß Sie sich mit seinem Inhalt möglichst tief durchdrungen hätten. Ich meine Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Tübingen 1912 bei Mohr. Bedeutungsvoll ist es in erster Linie für die Theologie; hier hat es Epoche gemacht, wie Harnacks Dogmengeschichte und die Schriften Ferdinand Christian Baurs. Es hat zum ersten Male die Zusammenhänge zwischen christlicher Ethik und gesellschaftlicher Entwicklung, die wechselseitigen Bedingtheiten und die tiefen Probleme, die sich daraus ergaben und noch ergeben, mit voller Klarheit erfaßt.« (P. Tillich, Berliner Vorlesungen I [1919–1920), Berlin/New York 2001, 30)
Mit diesen Worten wies der junge Privatdozent Paul Tillich die Hörer seiner im Sommersemester 1919 an der Berliner Universität gehaltenen Vorlesung Das Christentum und die Gesellschaftsprobleme der Gegenwart gleich in der ersten Sitzung auf Ernst Troeltschs Soziallehren und ihre Bedeutung hin. Sowohl die Problemstellung seiner eigenen Vorlesung als auch das präsentierte historische Material entnahm Tillich diesem Buch. Freilich, Troeltsch habe die Probleme erfasst, die mit der wechselseitigen Bedingtheit von christlicher Religion sowie Ethik und gesellschaftlicher Entwicklung verbunden sind, nicht jedoch ihre Lösung. Diese setze, so Tillich, eine gegenüber Troeltsch veränderte Grundlegung von Religion und Theologie voraus. Deren Ausarbeitung galt die Vorlesung des jungen Privatdozenten an der Berliner Universität. Paul Tillich ist nicht der einzige derjenigen jungen Theologen, die nach dem Weltkrieg die akademische Bühne betraten, die sich auf Troeltschs Soziallehren bezogen, diese rezipierten, kritisierten oder, wie Tillich selbst, zu überbieten trachteten. Das Buch, von Troeltsch als sein »Lieblingsbuch« deklariert, ist in der Tat ein Klassiker der modernen protestantischen Theologie. Mehr als einhundert Jahre nach seinem Erscheinen liegt es nun in einer mustergültigen textkritischen Edition im Rahmen der Kritischen Gesamtausgabe der Werke Ernst Troeltschs als Band 9 in drei Teilbänden vor. Herausgegeben ist der umfangreiche Band von Friedrich Wilhelm Graf in Zusammenarbeit mit Daphne Bielefeld, Eva Hanke, Johannes Heider, Fotios Komotoglou und Hannelore Loidl-Emberger.
Die drei Teilbände der textkritischen Ausgabe der Soziallehren präsentieren sowohl den Erstdruck von Troeltschs Artikelserie im von Edgar Jaffé herausgegebenen Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik als auch die überarbeitete Fassung dieser Artikel im ersten Band seiner Gesammelten Schriften sowie die Notate und Literaturhinweise, die Troeltsch schon kurz nach dem Erscheinen des Bandes für eine mögliche zweite Auflage zu sammeln begann. Dadurch wartet die kritische Edition mit einem komplexen textkritischen Apparat auf, der der Leserin und dem Leser zusammen mit der Textgenese die Arbeitsweise Troeltschs anschaulich vor Augen führt. In die Entstehung der Soziallehren führt ein von dem Herausgeber verantworteter umfangreicher Editorischer Bericht (73–132) ein. Ihm ist eine ebenso umfassende Einleitung vorangestellt, welche die Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte von Troeltschs Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen minutiös rekonstruiert (1–71). Mitgeteilt werden hier aufschlussreiche Untersuchungen zu den problemgeschichtlichen Hintergründen der Soziallehren, zur Begriffsgeschichte des Titelstichwortes, welches nicht auf den römischen Katholizismus zurückgeht, sondern von dem lutherischen Theologen Alexander von Oettingen in den 1860er Jahren geprägt wurde (5–11), der Zielsetzung des Buches im debattengeschichtlichen Kontext der Zeit sowie vor allem die Re­zeption der Schrift.
Ausführlich wird den innertheologischen und außertheologischen Aufnahmen des Buches nachgegangen (57–71), wie der Kontroverse über die Lutherdeutung mit Karl Holl (41–57), den Lektüren der Soziallehren im römischen Katholizismus und bei den jüngeren Theologen, die um 1900 ihre theologische Ausbildung erhielten, oder in der englischsprachigen Welt. Demgegenüber zeichnet der Editorische Bericht die werkgeschichtliche Entstehung der Soziallehren nach, einsetzend mit der Artikelserie im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Troeltschs Plan, die Artikel in einer Monographie zusammenzufassen sowie der ständigen Weiterarbeit an der Schrift bis 1920. Berücksichtigt werden ebenfalls der Absatz des Buches (114), diverse Übersetzungen (117–127) und Nachdrucke der Schrift, wie die Studienausgabe von Mohr Siebeck aus dem Jahre 1994 oder der verbreitete Nachdruck, der 1961 im Scientia Verlag in Aalen erschien (115 f.).
Troeltsch selbst hat, wie er auch im Vorwort des Buches betont (139–141), die Soziallehren als eine Vorarbeit für sein eigentliches Werk betrachtet. »Dieses muss eine Religionsphilosophie und eine Ethik sein, worauf eine Glaubenslehre und eine christliche Ethik folgen sollen« (109 f.), wie er am 25. Februar 1912 Friedrich von Hügel mitteilte. Das umfassende Werk über die religiösen Vergesellschaftungsformen von den Anfängen der christlichen Religion bis ins konfessionelle Zeitalter dient der Klärung der Problemstellungen einer zeitgemäßen Religionsphilosophie, Ethik und Glaubens-lehre. Aufmerksam auf das Ungenügen einer Dogmengeschichte, welche lediglich den Wandel der Dogmenbildungen nachzeichnet, wurde Troeltsch um die Jahrhundertwende, als ihm 1898 der zweite Band von Reinhold Seebergs Lehrbuch der Dogmengeschichte zur Rezension angeboten wurde (1–4).
Seine 15-seitige Besprechung des Buches, die zwei Jahre später in den Göttingischen Gelehrten Anzeigen erschien, skizziert auch »ein eigenes, alternatives Deutungsprogramm« (3) der Dogmengeschichte. Den konkreten Anlass zur Ausarbeitung der Soziallehren gab wieder eine Rezensionsanfrage, nämlich die Aufforderung des Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Martin von Nathusius’ Buch Die Mitarbeit der Kirche an der Lösung der sozialen Frage zu besprechen. Aus der Auseinandersetzung mit Nathusius ging zunächst die Artikelserie im Archiv hervor, die wiederum die Grundlage der 1912 erschienenen Monographie bildete. Gegenstand der Untersuchung von Troeltsch sind die religiösen Vergesellschaftungsformen und deren komplexe Entwicklung in der Christentumsgeschichte vor dem Hintergrund sich wandelnder sozialer Verhältnisse. Dabei geht er – anders als Nathusius und viele andere Theologen seiner Zeit – von einem soziologisch geschärften Verständnis des Sozialen aus. Dieses bedeute »einen ganz bestimmten und eng begrenzten Ausschnitt aus dem allgemeinen soziologischen Phänomen, nämlich die von der staatlichen Regulierung und dem politischen Interesse freigelassenen oder nur sekundär berührten soziologischen Beziehungen, die sich aus dem wirtschaftlichen Leben, der Bevölkerungsspannung, der Arbeitsteilung, der Ständegliederung und einigen anderen nicht direkt als politisch zu charakterisierenden Interessen ergeben, die aber tatsächlich das staatliche Gesamtleben aufs stärkste beeinflussen« (159).
Das Programm der Soziallehren ergibt sich aus der Verzahnung dieses Verständnisses des Sozialen mit der Religion. Diese ist für Troeltsch eine innere Stimmung bzw. Erregung, die sich in äußeren Symbolen artikuliert. Zugänglich ist jedoch nicht die innere Religion, die im Menschen bereits angelegt ist, sondern es sind lediglich die symbolischen Formen, in denen sie sich darstellt und die einem geschichtlichen Wandel unterliegen. »Die Frage nach den inneren Wirkungen des Christentums auf die Selbstempfindung der Persönlichkeit und auf die ethische Wechselbeziehung als solche, ist gewiß ungeheuer wichtig, aber sie ist so im allgemeinen unbeantwortbar und unfaßbar. Sie kann gerade nur dadurch beantwortet werden, daß man die konkrete Einwirkung auf die verschiedenen Lebenskreise untersucht.« (162) Troeltschs Fragestellung in Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen baut auf seiner religionsphilosophischen Konstruktion der Religion auf, indem das Wechselverhältnis von innerer Religion sowie deren symbolischer Darstellung und den sich wandelnden politisch-sozialen Bildungen minutiös im Rückgriff auf Quellen und vor allem eine umfangreiche Sekundärliteratur herausgearbeitet wird. Strukturiert ist die Untersuchung in drei Teile: Altertum, Mittelalter und Reformation, wobei eine »innere Einheitlichkeit des Gesamtlebens« (169) in der gesamten Christentumsgeschichte nicht erreicht wurde. Auch das Mittelalter und das konfessionelle Zeitalter kennt diese Durchdringung nur »in Ideal und Theorie; in der modernen Welt ist der Zwiespalt wieder aufgeklafft« (ebd.).
Im Rahmen dieser Rezension ist es freilich weder möglich noch nötig, auf Troeltschs Soziallehren im Detail einzugehen. Für die einschlägige Forschung liegt jedenfalls mit ihrer Edition in der Kritischen Gesamtausgabe ein Text vor, der Benutzerinnen und Benutzern diesen umfassend erschließt. Keine Beschäftigung mit dem Werk Ernst Troeltschs wird in Zukunft an dieser Edition vorbeikommen.