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Ausgabe:

Mai/2022

Spalte:

472–474

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Norton, Robert E.

Titel/Untertitel:

The Crucible of German Democracy. Ernst Troeltsch and the First World War.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2021. XV, 649 S. = Beiträge zur historischen Theologie, 197. Lw. EUR 129,00. ISBN 9783161598289.

Rezensent:

Gangolf Hübinger

Der Theologe, Philosoph und Politiker Ernst Troeltsch (1865–1923) zählt ganz generell zu den Klassikern der Moderne und speziell auch zu den zeitgeschichtlichen Gründungsfiguren der Demokratie in Deutschland. Troeltsch engagierte sich für liberale Reformen im Deutschen Kaiserreich, für einen »Verständigungsfrieden« mit den militärischen Gegnern im Ersten Weltkrieg und als Politiker der »Deutschen Demokratischen Partei« (DDP) für die Einführung einer parlamentarischen Demokratie in der Weimarer Republik. Deshalb ist es außerordentlich zu begrüßen, dass nunmehr aus der Feder von Robert E. Norton eine sehr ausführliche und gründlich recherchierte Studie zum Demokratie-Verständnis und zu den politischen Aktivitäten von Ernst Troeltsch im Ersten Weltkrieg vorliegt. N., Historiker an der Universität von Notre Dame (Indiana), hat 2002 eine viel beachtete Biographie über Stefan George verfasst. In seiner neuesten Studie zum Ersten Weltkrieg wertet er eine beeindruckende Fülle an zeitgenössischen Schriften, Reden und Manifesten aus, um Troeltsch in den heftigen Kontroversen der deutschen Gelehrten und Intellek tuellen um Kriegsziele und Reformen des politischen Systems zu verorten und besonders herauszustellen. In vielem konnte er dabei auf die kritische Ernst-Troeltsch-Gesamtausgabe zurückgreifen. Der von Friedemann Voigt herausgegebene Band zum Ersten Weltkrieg erscheint jedoch erst in Kürze und lag N. noch nicht vor. Das hätte den ein oder anderen Sachirrtum vermeiden helfen.
N. hat keine Biographie des liberalen Theologen und Ge­schichtsphilosophen verfasst. Geleitet ist seine Studie von zwei Thesen. Die moderne deutsche Demokratie sei in den inneren Ideenkämpfen des Ersten Weltkriegs entstanden, und zwar bevor der amerikanische Präsident Wilson äußeren Druck ausübte mit seinem Kriegsziel, die Demokratie in Europa »zu sichern«. Und schon gar nicht sei die Demokratie in Deutschland ein Resultat der Kriegsniederlage. Vielmehr habe es bereits früh nach Kriegsbeginn Denkschübe ge­geben, forciert von Gelehrten wie Hugo Preuß, Friedrich Meinecke und Otto Hintze. An deren Spitze habe Ernst Troeltsch gestanden und müsse deshalb als Meinungsführer der deutschen self liberation (11) neu in den historischen Blick kommen. Troeltschs permanenter Kampf für die Notwendigkeit der Demokratie sei in der deutschen Geschichtskultur zu Unrecht in Vergessenheit geraten.
N.s Buch zum Weltkrieg als »Schmelztiegel der Demokratie« kommt zur rechten Zeit. Seit Längerem gibt es in Deutschland einen heftigen Streit um die Chancen und Bedrohungen der Demokratie in Geschichte und Gegenwart. Steckt die Demokratie als der westliche Typus politischer Herrschaft heute in einer tiefen Existenzkrise, und wie haben im Vergleich dazu die Zeitgenossen die politische Neuordnung Deutschlands gesehen und beurteilt? Mit Troeltsch, dem »Einstein der Kulturwissenschaften«, will N. hier einen eigenen Akzent setzen.
Den deutschen Selbstinterpretationen, einen gerechten Krieg zu führen, lieferte Troeltsch mit zahlreichen Reden und Essays die entscheidenden Schlagworte. Der Krieg sei ein »Kulturkrieg« (De­zember 1915); verteidigt werden müsse die »deutsche Idee von der Freiheit« (Januar 1916); die Deutschen kämpfen für die »Ideen von 1914« (Mai 1916) und folgen ihrem eigenen historischen Weg gegenüber den Ideen von 1789. N. wählt zum einen die Methode des close reading der wichtigsten Weltkriegstexte, in denen Troeltsch die ideenpolitischen Gegensätze des Krieges analysierte, aber auch in mobilisierender Sprache selbst als Kulturkämpfer in die Kontroversen um Kriegsziele und Kriegsführung eingriff. Zum Zweiten ordnet N. die Publizistik Troeltschs in die allgemeine Weltkriegsgeschichte ein und steckt den »Kampfplatz Berlin« ab, auf den sich Troeltsch begab, als er im April 1915 von seiner theologischen Professur in Heidelberg an die philosophische Fakultät der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität wechselte.
Ins Zentrum rückt N. Troeltschs Essay »Der Ansturm der westlichen Demokratie« von 1917. Wichtig ist der Kontext. Am 2. April 1917 hatte Präsident Woodrow Wilson vor dem amerikanischen Kongress verkündet, »the world must be made safe for democracy«, und vier Tage später traten die USA in den Krieg ein. Zur deutschen Reaktion gehörte der gemeinsame Protest der »fünf führenden gemäßigt-liberalen Intellektuellen«, wie sie N. nennt (402), das sind Adolf von Harnack, Friedrich Meinecke, Max Sering, Ernst Troeltsch und Otto Hintze. Deren Reden im Saal des Preußischen Abgeordnetenhauses – nicht vor den preußischen Abgeordneten, wie N. schreibt –, veröffentlicht im September unter dem Titel »Die deutsche Freiheit«, sind als direkte Antworten auf Amerikas Eintritt in den Krieg zu lesen. N. verweist zu Recht darauf, dass der polemische Tonfall nicht den sachlichen Gehalt schmälern sollte. Bei Troeltsch geht es in der Sache um einen eigenen deutschen Pfad in die demokratische Moderne, stärker »genossenschaftlich« ge­prägt als in den westlichen Gesellschaften. Zugleich folgt Troeltsch der von Otto Hintze vertretenen Lehre vom Primat der Außenpolitik. Innere Freiheit und demokratische Ordnung haben sich auch für Troeltsch der äußeren Sicherheit unterzuordnen. Das änderte sich erst, nachdem er im Frühjahr 1918 von Max Weber »Parlament und Regierung« gelesen hatte. Nun hielt Troeltsch eine parlamentarische Regierung für den Königsweg in die Demokratie und für die Voraussetzung einer europäischen Nachkriegsordnung. Führend engagierte er sich im »Volksbund für Freiheit und Vaterland«, der im November 1917 als Bund für innere Reformen und für eine Verständigung mit den Kriegsgegnern gegründet worden war. Bei Kriegsende befand sich das liberale und demokratisch gesinnte Bürgertum, für das Troeltsch sprach, in einer extrem schwierigen Situation. Gegenüber den konservativen Eliten, welche die Demokratie bekämpften, und gegenüber den radikalen Sozialisten, die eine andere Demokratie, eine Räterepublik, verlangten, agierte Troeltsch in seinem parteipolitischen Kampf für die DDP als Repräsentant einer linksliberalen Minderheit.
N. porträtiert Troeltsch als Idealisten, der sich zu realpolitischem Denken zwingt. Typisch für Troeltsch war in der Tat die enge und originelle Verknüpfung von Demokratie-, Europa- und Geschichtsdiskurs. In dieser Verknüpfung war er ein Denker der »Kultursynthesen« wie der politischen Ethik des »Kompromisses« und der »Mittebildung«. Darauf zielten seine Schriften von der Revolution 1918/1919 an bis zu seinem Tod im Februar 1923. Dazu zählt der fulminante Essay »Naturrecht und Humanität in der Weltpolitik«, der es Thomas Mann erleichterte, sich zum Demokraten zu bekehren. Troeltsch hat die demokratische Republik weder als eine einfache Erfolgsgeschichte gefeiert, noch sah er sie von vornherein zum Scheitern verurteilt. Seine große Bedeutung als ein Klassiker des demokratischen Denkens in Deutschland liegt darin, die Chancen und die Bedrohungen einer demokratischen Transformation der deutschen Politik in ihren inneren Spannungen zu diskutieren. Wir haben N. zu danken, uns am Beispiel von Ernst Troeltsch die fragile Geschichte der Demokratie in Deutschland so intensiv vor Augen zu führen (vgl. ausführlicher und in vielfachen Bezügen zu Max Weber die Besprechung des Rezensenten »The German Idea of Democracy«, in: Max Weber Studies 22.1 [2022], 125–131).