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Ausgabe:

Mai/2022

Spalte:

466–468

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Spener, Philipp Jacob

Titel/Untertitel:

Nicht von dieser Welt? Positionen eines Pietisten. Einsichten aus seinen Briefen, ausgewählt, zum Teil aus dem Lateinischen übers. u. hg. v. M. Matthias = Edition Pietismustexte, 13.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2019. 272 S. Kart. EUR 20,00. ISBN 9783374057986.

Rezensent:

Dietrich Blaufuß

Das Buch bietet 31 Briefe Philipp Jacob Speners – in acht Themenbereichen zusammengestellt. Die Historische Kommission zur Er­forschung des Pietismus verantwortet diesen Band. Zur Kommission gehören sowohl der Redaktor des vorliegenden Bandes Chris-toph Windhorst als auch der Herausgeber Markus Matthias. Letzterer legt nun in der Reihe Edition Pietismustexte (EPT) zum zweiten Mal erläuterte Spenerbriefe vor, nachdem 2016 in EPT 7 Schreiben zu den »Anfänge[n] des Pietismus« publiziert wurden. Reiche Erfahrung als Spener-Briefeditor sammelte er als Bearbeiter einiger Bände der von Johannes Wallmann (†) und Udo Sträter herausgegebenen großen Spener-Briefausgabe. Die vorliegende Sammlung ist schmal im Umfang. Die lateinischen Texte sind übersetzt.
Spener hat sein ab 1700 veröffentlichtes Briefmaterial sehr be­wusst sachlich geordnet. Bis 1721 erschienen, mehrheitlich pos­tum, zehn Teile. Zur Anlage und Geschichte dieser Drucke ist in EPT 7 und in den von Erich Beyreuther (†) hg. Reprints von 1987–1999 das Nötige dargelegt. Aus jenen alten Drucken sind rund fünf Sechstel der nun publizierten Briefe entnommen. 13 Jahren (1670–1682) der Frankfurter Zeit entstammen über 20 Stücke. Aus vier Jahren (1686–1689) der Dresdener Zeit datieren sechs Briefe. Drei Schreiben aus der Berliner Zeit sind dem Zeitabschnitt von 1696 bis 1701 entnommen. Die Nr. 1 stammt aus dem Jahr 1653. In der er­wähnten großen Spener-Briefausgabe sticht die Publikation des ersten Bandes aus der Berliner Zeit (1691–1705) bevor.
Die thematische Breite des mit Stichwörtern in Titel und Untertitel Angedeuteten umreißt der Herausgeber im Nachwort. Fragen »von Welt« werden thematisiert. Natur, Geschichte und Wissenschaft, Wissenschaftliche Arbeit, Religionen bis Christliche Konversation, Krankheit und Leid bis Tröstung und Ermunterung sind sechs (von acht) Rubriken. Hinzu kommen auf 51 von 218 Textseiten ein großer Block zu Ehe und Sexualität sowie zwei unter Körperlichkeit rubrizierte Berliner Schreiben. Das eine thematisiert »Perücken«, das andere mit »Arbeit und Zucht« den Fall einer straffällig gewordenen Frau. Der Herausgeber beobachtet eine dezidierte Intention Speners: Eine Äußerung musste »in Übereinstimmung zu bringen sein« mit »seiner Erfahrung und den Aussagen der als göttliche Offenbarung verstandenen Bibel« (242).
Spener ordnete bei Vorbereitung seiner ab 1700 erscheinenden »Theologischen Bedencken« nach dem jeweiligen Hauptthema eines Briefes. Die Herausgeber der lateinischen und deutschen Sammlungen von 1709 und 1711 (1721) behielten dieses Ordnungsprinzip bei: »Zweitrangige« Inhalte jeweils eines Briefes sollten dank eines ausführlichen Registers mit Themenangaben nicht verlorengehen. Der dritte Artikel im dritten Kapitel in allen drei Brief- und Bedenkensammlungen war Stücken mit jeweils der »vornehmsten materie« »weltliche Geschäfte« vorbehalten. Das reicht vom Glücksspiel bis zum Schneiderhandwerk und vom sonntäglichen Wirtshausbesuch bis zum verantwortlichen Umgang mit Geld. Fragen der Nichtigkeitserklärung einer Ehe sind von besonderem Gewicht.
Der Herausgeber wählt nur zwei Stücke zu »Religiöse Toleranz« und »Perücken« aus dem von Spener »weltlichen Geschäften« ge­widmeten Artikel – völlig zu Recht bei der thematischen Fokussierung auf »Nicht von dieser Welt«, was Spener bei anderen Briefen als Nebenthema betrachtet haben mag.
Die Briefe hier in EPT 13 sind mitunter direkter seelsorgerlicher Zuspruch. Reflektierende Schreiben besprechen z. B. mit dem Korrespondenten Johann Benedikt II Carpzov (Nr. 25) die Frage der einem Geistlichen obliegenden Pflicht zur Seelsorge an Seuchenkranken. Vorliegende Auswahl bietet unter den gewählten Themen geradezu Kabinettstücke der Argumentation. Im Text zu religiöser Toleranz geht es auch um die Frage des Verhältnisses zu und des Verhaltens gegenüber Juden. Auf den Zeilen 2–4 der Seite 73 begegnet die Frage des pflichtmäßigen Besuchs christlicher Predigt für Andersgläubige (Juden an dieser Stelle nicht ausdrücklich). Heikle Fragen wie die der Abschaffung von Synagogen aber will Spener am richtigen Ort behandelt sehen. Auch erscheint ihm der 23-jährige Gießener Student Johann Grambs (ergänze Register, 259) nicht gerade geeignet für die Bearbeitung eines solch heiklen Dissertationsthemas: Immerhin sei Schaden im Verhältnis zur katholischen Kirche abzuwenden (Nr. 11, hier 76–77). Die hier vorliegende Verknüpfung von grund- sätzlichen Erwägungen mit konkreten Vorgängen ist ein in Spenerbriefen oft faszinierendes Moment.
Auf die Auswahl repräsentativer Schreiben will der Herausgeber ausdrücklich nicht festgelegt werden (234). Korrespondenten sind an allererster Stelle Theologen (11) und weitere vier Akademiker (Sprachen, Medizin, zwei Juristen). Des Weiteren kommen zu religiös-persönlichen Fragen Frauen (sechs Briefe) in den Blick, ferner eine andere Gruppe von Laien (fünf). Insgesamt wird auch die Frage nach Speners Standpunkt ›auf der Höhe der Zeit‹ angesprochen. Im Blick auf den Kometen C/1680 V 1 wird bei dem neu dem Empfänger David Nerreter zugewiesenen Brief (Nr. 4) sehr richtig an Speners Austausch zur Cometen-Frage mit Sigmund von Birken im Jahr 1681 herangeführt (26 f., Anm. 4–6). Auf den »Entdeckerbrief« Gottfried Kirchs und den mannigfachen Austausch dazu in Klaus-Dieter Herbsts 2006 erschienener dreibändiger Kirch-Korrespondenzausgabe von 2006 hätte hier hingewiesen werden können.
Die Ausgabe hat als Zielgruppe auch einen breiten Leserkreis sowie die Verwendung im Unterricht im Blick – gerade auch bei den Übersetzungen der lateinischen Briefe und den vier Registern. Sie hält wissenschaftliche Standards in Textdarbietung und wohl nur ein Mal unnötig breiter Erläuterung (144 f.).
Kenntnis der Materie sowie Erfahrung auf dem Feld der Edition von Spenerbriefen kommen der sehr nützlichen Briefsammlung zugute. Man könnte sich gut einen weiteren Titel zu »Obrigkeit« denken. Die laufende, umfassende Spener-Briefausgabe muss sich gewiss auch noch der Aufgabe der Übersetzung der lateinischen Stücke stellen. Dass Markus Matthias’ kleine Spener-Briefausgaben von 2016 und 2019 dies unübersehbar machen, ist nicht ihr gerings-tes Verdienst.