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Ausgabe:

Mai/2022

Spalte:

457–460

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Prautzsch, Felix

Titel/Untertitel:

Heilige und Heiden im legendarischen Erzählen des 13. Jahrhunderts. Formen und Funktionen der Aushandlung des religiösen Gegensatzes zum Heidentum.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2021. XII, 416 S. m. 1 Abb. = Literatur – Theorie – Geschichte, 20. Geb. EUR102,95. ISBN 9783110659108.

Rezensent:

Susanne Köbele

Die Dissertation zielt auf die grundsätzliche Frage nach der Funktion legendarischen Erzählens für Prozesse christlicher Identitätsbildung. Vor dem kulturgeschichtlichen Horizont des 13. Jh.s entwickelt Felix Prautzsch differenzierte Kriterien zur möglichst präzisen Beschreibung genuin narrativer Inszenierungen des religiösen Gegensatzes zum »Heidentum«. Im Zentrum seiner Textanalysen stehen drei Parameter: Martyrium (Sterben für Gott), Krieg (Töten für Gott) und Konversion (Bekehrung zu Gott). Diese christlichen »Leitbilder« (4) sieht P. unter den wechselnden Vorzeichen der zeitgenössischen Kreuzzug- und Missionspolitik in den von ihm ausgewählten Texten unterschiedlich aktualisiert und – be­sonders aufschlussreich – wechselseitig in Beziehung gesetzt.
Für seine Schlüsselfrage nach der »Konstruktion des christlichen Eigenen und des heidnischen Fremden im Modus legendarischen Erzählens« (22) entwirft P. eine methodisch anspruchsvolle Synthese heterogener Kultur- und Erzähltheorien, ohne dabei historische Differenzierung preiszugeben. Diese konsequent durchgehaltene historisch-systematische Doppelperspektive macht die Textanalysen ergiebig und die Theoriedebatten komplex. Bereits der Titel des Buches bringt ins Nachdenken. »Heilige und Heiden« klingt von fern an das seinerseits alliterierende Begriffspaar »Helden und Hei-lige« an, das Schlüsselfelder der mediävistischen Literaturwissenschaft besetzt. Implizit freilich zitiert die Titelformel den Gegensatz von »Christen und Heiden«, dessen grundsätzliche Asymmetrie vor allem die Geschichtswissenschaften in die Debatte gebracht haben. Doch P. will weder ein weiteres Mal »heilige Helden« als christlich-höfische Kompromiss-, Überblendungs- und Integrationsfiguren rekonstruieren, noch einfach nur Thesen zur epochalen Asymmetrie der Leitdifferenz von Christen und Heiden reproduzieren. Stattdessen verbindet er gewissermaßen quer zu beiden Forschungsdiskursen Heiligkeit mit Heidentum und versteht beide Kategorien als »dynamische« Gegenbegriffe (44), als maximal entgegengesetzte Pole religiös-kultureller Selbstbeschreibung (vgl. 62).
Wiewohl auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt, stünden beide Kategorien »in einer systematisch-strukturellen Analogie«, was P. mit dem Tertium paralleler »Aushandlungsprozesse von Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit« begründet (7). Die Titelformel des Buches, »Heilige und Heiden«, hat also einen bewussten Widerhaken. Ein Symptom dafür sind Sätze wie der folgende: »Heiden sollen – oder können zumindest – Heilige werden« (7), in denen sich die axiologische Asymmetrie der historischen Objektebene (»Heiden« als Bekehrungsbedürftige) überlagert mit der analytischen Asymmetrie von »Heiligen« und ›Heiden‹ auf der Beobachtungsebene. Auch der quer durch das Buch schwankende Gebrauch distanzierender Anführungszeichen (»Heiden«/Heiden, »Unglauben« der Heiden/wahrer Glauben, z. B., 274) weist auf solche perspektivischen Verschränkungen.
Nach einer instruktiven ›Einleitung‹ entfaltet Kapitel 2 die grundlegende Relation von Heiligkeit und Heidentum im 13. Jh. Theoretisch und geschichtlich jeweils weit ausgreifend entwickelt P. skrupolös seine Begrifflichkeit. Ausgewogen rekapituliert er die Forschung zum legendarischen Erzählen und diskutiert den »epis-temisch prekären Status« der Texte (3) sowie deren spezifisches (handlungslogisches, axiologisches) Potential zur Aushandlung des Eigenen und des Fremden. Legendarisches Erzählen vermittle »zwischen Transzendenz und Immanenz« (24), Heiligkeit werde narrativ »prozessualisiert« bzw. »prozessiert« (26 f.), was in den Folgekapiteln immer wiederkehrt. Die Auswahl des Textcorpus überzeugt. P. berücksichtigt einerseits Texte aus den großen Legendaren, der lateinischen Legenda aurea und dem mittelhochdeutschen Passional, anderseits umfangreiche höfisch-romanhafte Transformationen von Legenden (Barlaam und Josaphat Rudolfs von Ems, Der heilige Georg Reinbots von Durne) bzw. Texte für ein städtisches Milieu wie den Silvester Konrads von Würzburg.
Die drei textanalytischen Hauptkapitel der Studie stellen dann jeweils spezifische Konstellationen von Christen und Heiden in den Mittelpunkt. So verhandelt Kapitel 3 das christliche Märtyrertum als Grundmodell von Heiligkeit für Margareta und Katharina sowie Franziskus, mit Blick auf die ordenspolitisch unterschiedlich instrumentalisierte Verbindung von Martyrium und »Heidenmission«. Kapitel 4 widmet sich dem Gotteskriegertum und seiner umstrittenen Legitimität. Unter dem Titel »Heidenkampf als Glaubenszeugnis?« rekonstruiert P. anhand der Zentralfigur Georg hier die aufschlussreiche Dynamik, wie frühchristliche Soldatenheilige, u rsprünglich Märtyrer, angesichts des biblischen Tötungstabus umbesetzt werden als Glaubensstreiter im Heidenkampf, mit signifikanten Interferenzen von Kreuzrittertum und Martyrium. Kapitel 5 zum Modell Konversion wendet sich friedlich missionierenden Bekennerheiligen zu: zum einen Silvester, hier erweitert um den Aspekt der Beziehung von Christentum und Judentum, zum andern Josaphat (der »Bekehrte als Bekehrer«). Kapitelübergreifend widmet P. sich jeweils ausführlich der Genese der historischen Semantiken und Erscheinungsformen von martyrium, militia Christi und conversio. Sein Zugriff auf die Legenden ist gezielt unterschiedlich: Während die differenzierten Fassungsvergleiche in Kapitel 3 und 4 stärker von paradigmatischen Überlegungen bestimmt sind, folgen die Interpretationen zweier umfangreicher Einzelwerke in Kapitel 5 mehr dem Textsyntagma, unter Einbezug der variablen Entstehungs- und Rezeptionszusammenhänge. Eine knappe »Zusammenfassung« rekapituliert nochmals die Theorievoraussetzungen und Ergebnisse der vergleichenden Analysen.
P. verarbeitet eine Fülle von Literatur. Die Arbeit besticht durch Scharfsinn und gedankliche Intensität. Sie hat einen bemerkenswert weiten Horizont. Thematisch und methodisch reiht sie sich ein in die mediävistische (Interkulturalitäts-)Forschung zu Dynamiken von Integration und Desintegration, sie schließt aber auch an jüngere Arbeiten zur Transzendenz-Kommunikation in religiöser Literatur an. Indem P. die Texte einerseits auf ihre konkreten literar- und diskurshistorischen Kontexte öffnet, anderseits – mit gleicher Energie – in systematisch-theoretischer Hinsicht von konkreten Einzelbefunden und diachroner Variabilität abstrahiert, gelingen ihm für die drei Muster Martyrium, Krieg und Konversion jeweils prägnante Ergebnisse. Zwar kehrt angesichts der zum Teil vieldiskutierten Texte und prominenten Hintergrunddebatten einiges Bekannte wieder, zumal P. die Voraussetzungen seiner A rgumentation je neu herleitet. Der breite Raum, den er der sys-temtheoretischen Reformulierung religiöser Paradoxien gibt, leuchtet nicht immer ein. Auch nimmt der wiederholte Bezug auf den kommunikativ regulierten »Code« des Religionssystems, auf kommunikative Immanentisierung der Transzendenz etc. eine Reihe von Formulierungsdubletten in Kauf. Doch die Lektüre des Buches lohnt durchweg, auch und gerade dort, wo der beständige Wechsel der analytischen Perspektive überraschende Durchblicke und Detailbeobachtungen ermöglicht. So kann im Verlauf der Untersuchung die Perspektive zwischen Funktionsanalyse, historischer Semantik, Kultursemiotik und religiöser Hermeneutik unvermittelt umspringen (in ein und demselben Satz etwa für missionstheologische Paradoxien von Inklusion und Exklusion: »Der Gegensatz zwischen Christen und Heiden erscheint dann nicht als ein absolut und endgültig gegebener, sondern als ein dynamischer, dessen Trennlinie bis zur letzten Scheidung am jüngsten Tag nie genau gewusst werden kann und daher immer wieder neu be­stimmt und erzählt werden muss.« (58) Gerade in dieser virtuosen Vervielfältigung der Perspektiven liegt das Hauptverdienst der Studie, die umso überzeugender argumentiert, je enger sie analytische Abstraktion und fallbezogene Konkretion verbindet.
Dank konsequenter Zusammenführung frömmigkeitshistorischer, theologischer, religionssoziologischer und narratologischer Beobachtungen entsteht ein differenziertes Gesamtbild der jeweils textspezifischen »Konstruktion und Transformation von Heiligkeitsmodellen unter sich wandelnden gesellschaftlichen Erfor-dernissen« (12). Die von P. vorgelegten Analysen lösen den theore-tischen Integrationsanspruch ein, gerade weil sie sich mutig zwischen die Stühle funktionsanalytischer und historisch-hermeneutischer Fragen begeben.