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Ausgabe:

Mai/2022

Spalte:

455–457

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Leppin, Volker [Hg.]

Titel/Untertitel:

Schaffen und Nachahmen. Kreative Prozesse im Mittelalter.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2021. XI, 661 S. m. 88 Abb. u. 12 Tab. = Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung. Beihefte, 16. Geb. EUR 119,95. ISBN 9783110713787.

Rezensent:

Maximilian Benz

Der von Volker Leppin herausgegebene Sammelband geht auf ein Symposium des Mediävistenverbands im März 2019 zurück und enthält eine Vielzahl höchst anregender Beiträge zum Verhältnis von Schaffen und Nachahmen. Die beiden Konzepte, das des Schaffens und das des Nachahmens, stehen gerade unter der Maßgabe, dass es um kreative Prozesse gehen soll, in einer heuristisch fruchtbaren Spannung, und zwar nicht nur wenn man von den Vorgaben der Moderne aus auf sie blickt: Inwiefern kann gerade die prima vista ›unkreative‹ Nachahmung einen Schaffensprozess ins Werk setzen? Und inwiefern lassen die spezifischen Verfahren, die »ge­wählt wurden, um nachahmend und schöpferisch zugleich tätig zu sein« (2), eine Epochensignatur erkennen? Der Band fügt sich mit dieser übergeordneten Fragestellung in jüngere Forschungs zusammenhänge ein, in denen – wie im Fall des von Gerald Schwedler und Jörg Sonntag geleiteten Netzwerks zur ›Imitation‹, aus dem heraus bereits einige Publikationen vorgelegt wurden – gerade die Nachahmung als wichtiges »kulturelles Prinzip des Mittelalters« ausgemacht wird.
Das Feld des reichen Bands lässt sich strukturieren, indem man differenziert, welche konzeptionellen Größen durch die Akte des Nachahmens und Schaffens miteinander verbunden werden. So gibt es einerseits den großen Bereich der Text-Text-Beziehungen, der neben dem Phänomen der Kompilation auch schon ganz basal die handschriftliche Überlieferung einschließt: Gerade Verfahren der Ent- und Neukontextualisierung können hier ertragreich analysiert werden (eine Reihe von materialphilologisch informierten Studien widmet sich in diesem Sinne konkreten Überlieferungszusammenhängen, etwa der Überlieferungsgeschichte des »Welschen Gastes«, dem Verhältnis von zwei Zeugen des »Rappoltsteiner Parzifals«, der Komposition einer spätmittelalterlichen Sammelhandschrift aus Klosterneuburg oder den Fassungsunterschieden im »Evangelienwerk« des Österreichischen Bibelübersetzers). Aber auch die axiologische Übersetzung der Spannung von Schaffen und Nachahmen in die von Kreativität und Epigonalität wird thematisiert (bis hin zu den Fragen, wann man von einem »Kompilator«, wann hingegen von einem »Autor« sprechen soll [am Beispiel von Frau Ava], und inwiefern es sinnvoll ist, »rhetorische Schulübungen« [141] von Dichtung im emphatischen Sinne abzugrenzen).
Andererseits kann das Verhältnis des Menschen zu Gott (und der von Gott geschaffenen Welt) in Betracht gezogen werden. Dieses Verhältnis kennt eine ästhetische (auf die Kunstpraxis bezogene) und eine ethische Ausfaltung. Ersterer widmet sich Christian Kiening, indem er an einem Corpus von lyrischen und epischen Texten der Reiseliteratur die »Erschaffung literarischer Welten im späten Mittelalter« untersucht. Hier lasse sich keine Konkurrenz zum Schöpfergott ausmachen; vielmehr zeige sich die ›Eigenlogik‹ literarischer Texte gerade dort, wo in die Schwebe gerate, »ob hier etwas eher ab- und nachgebildet oder eher eigenlogisch konturiert wird« (110). Das Ausmessen solcher Spielräume literarischer Eigenlogik kann neben christlichen Konzeptionen auch pagane integrieren, wie Manfred Kern mit Blick auf den Bildersaal in Thomas von Britanniens »Tristan« zeigt. An die Seite der antiken Traditionen von Mimesis und Pygmalionik träten so auch »Praxis und ›Theorie‹ sakraler Ikonographie und Bilderverehrung« (225).
Handelt es sich bei den Text-Text-Relationen und auch bei den Reflexionen über den Komplex der Kunstschöpfung um genuin literarische Phänomene, so weist die Frage nach kreativen Nachahmungsprozessen im Verhältnis von Mensch und Gott auch ethische Implikationen auf, die Selbstkonzepte betreffen. Häufig, aber in je unterschiedlichem Maße spielen dabei auch Text-Text-Beziehungen eine Rolle. Es ist angesichts der im Spätmittelalter immer bedeutender werdenden Menschnatur Christi, der gesteigerten Passionsfrömmigkeit und der Akzentuierung einer, wie Berndt Hamm sie genannt hat, ›nahen Gnade‹ nicht nur in der Sache an-gemessen, sondern besonders erhellend, dass sich einige Beiträge gerade um die spätmittelalterlichen Zusammenhänge drehen. Hier entsteht in der Kombination der einzelnen Studien ein besonders dichter und weiterführender Zusammenhang: Krijn Pansters untersucht die vielfältigen Dimensionen der imitatio in frühen franziskanischen Texten; Ulrike Treusch akzentuiert die formale und inhaltliche Offenheit des Traktats De imitatione Christi des Thomas von Kempen, die wiederum unterschiedliche rezeptive Anschlüsse zuließ; Daniela Blum hingegen zeigt, dass es sich bei Formen der imitatio nicht um einen »Sesam öffne dich« mittelalterlicher Frömmigkeit handelt, sondern dass weitere Konzepte (in diesem Fall das der intercessio) hinzuzuziehen sind.
Es werden somit in sinnvollem, historisch adäquatem Umfang auch die Grenzen des avisierten Zusammenhangs sichtbar. Dies gilt nicht nur in analytischer, sondern auch in geschichtlicher Perspektive. Denn dass der kreative Zusammenhang von Schaffen und Nachahmen eben historisch auch überdehnt werden konnte, zeigt Christoph Markschies mit Blick auf die frühmittelalterliche Neukonfiguration des Manichäismus an der Seidenstraße und die Konsequenzen der vielfältigen Transformationsprozesse für die Be­wahrung der Religion. Die multireligiöse Umwelt erzeuge Überschneidungen, Zusammenhänge und Verflechtungen, die üb­rigens auch in analytischer Hinsicht ertragreich sind, da diese Prozesse es unwahrscheinlich werden lassen, Religionen als distinkte < /span>Einheiten anzusehen. Historisch aber zeigt sich ein besonderer Effekt: Was nämlich zunächst zu einer Bereicherung führe, könne schließlich auch den Kern der Auflösung in sich tragen: »Wer bloß irgendwie alles übernimmt, verliert am Schluss […] vollkommen sein Profil und damit auch alle Attraktivität.« (322)
Nur summarisch aufführen kann ich, dass im Band auch die Welt der Höfe untersucht wird und Perspektiven auf die Geo- und Kartographie eröffnet werden. Eine besondere Hervorhebung verdienen zudem die Beiträge, die sich aus musikwissenschaftlicher Sicht mit Tradition und Wandel des Gregorianischen Chorals beschäftigen und dabei auch Methoden der Digital Humanities integrieren, die auch an anderen Stellen im Band aufgegriffen und thematisiert werden.
Der Band liefert ein umfassendes und aktuelles mediävistisches Panorama über kreative Prozesse im Spannungsfeld von Schaffen und Nachahmen. In der Zusammenschau der Beiträge, die auch diesseits der jeweiligen Disziplinen ein interessiertes Publikum ansprechen, zeigt sich, dass Verallgemeinerungen über eine eher der imitatio verpflichtete Vormoderne hin zu einer dann auf die creatio ausgerichteten Neuzeit, ja Konzeptionen, in denen »die Neuerungsfeindlichkeit mittelalterlicher oder vormoderner Wissensordnungen als das schlichtweg Andere moderner Dynamiken« (434) aufgefasst wird, viel zu kurz greifen und den Blick auf das Wesentliche verstellen. Zugleich wird deutlich, dass das allgemeine Spannungsfeld von Schaffen und Nachahmen je spezifische Ausformungen erfährt. Mit seinen fallweisen Beschreibungen komplexer Gemengelagen trägt der Band in diesem Sinne entschieden zu historischer Erkenntnis bei.