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Ausgabe:

Mai/2022

Spalte:

445–447

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Müller, Christoph Gregor

Titel/Untertitel:

Den Fußspuren Christi folgen (1 Petr 2,21). Untersuchungen zum Ersten Petrusbrief und seinem Umfeld.

Verlag:

Stuttgart: Verlag Katholisches Bibelwerk 2020. 300 S. = Stuttgarter Biblische Aufsatzbände, 71: Neues Testament. Kart. EUR 52,00. ISBN 9783460067110.

Rezensent:

Jisk Steetskamp

Mit acht thematisch geordneten Beiträgen zum Ersten Petrusbrief und drei weiteren Untersuchungen begleitet Christoph Gregor Müller, Hochschullehrer an der Theologischen Fakultät Fulda, seine Neubearbeitung des Kommentars zum 1Petr im EKK. Die ursprünglichen Publikationsdaten reichen von 2007 bis 2018. Der Band beginnt mit den Themen Diaspora und Fremdheitserfahrung und -deutung in 1Petr. Die Fremde ist ein Grundmotiv des Schreibens. Diaspora bezeichnet eine Minderheitssituation. Als Fremdgewordene begreifen die Adressaten ihr Leiden an Ausgrenzung und Diffamierung als Teilhabe an den Leiden Christi. Fremdsein, als Kehrseite der Erwählung verstanden, ist sowohl individuell wie auch gruppenbezogen identitätsstiftend. Das Leben in den Fußspuren Christi vereinigt die Adressaten als »lebendige Steine« zu einem »geistlichen Haus«. Das Bild vom Hausbau wird um Tempel- und Kultmetaphorik erweitert. In 2,9 (»Ihr aber seid ein erwähltes Geschlecht, eine königliche Priesterschaft, ein heiliges Volk, ein Volk zum Eigentum …«) wird den Adressaten eine Identität und ekkesiologische Disposition angetragen, die »von einem gesättigten Selbstbewusstsein geprägt« ist. Die Beziehung zur Um­welt soll durch eine authentische Lebensführung und Gesprächsbereitschaft »als Hoffnungszeugen« gestaltet werden.
Es folgen Überlegungen zu den »intertextuellen Beziehungen des 1Petr zu den Schriften Israels«, die »den Deutehorizont, vor allem des Christusereignisses«, und den »Ausgangspunkt für das konsequente Verstehen der christlichen Existenz …« bilden. Der Beitrag »Der Erste Petrusbrief und die Schrift« erkundet die »starke Dichte an alttestamentlichen Zitaten und Anspielungen«. Es geht M. darum, »Grundlinien der Intertextualität in diesem Schreiben zu markieren«. Als wichtigste Quellen führt er die Bücher Levitikus, Jesaja, Psalmen und Sprüche an. Das umfangreichste Zitat Ps 34,13–17 dient wie vor allem auch die Zitate aus Lev und Spr der Paränese. Der Autor des 1Petr rechnet mit »schriftkundige[n] Leserinnen und Leser[n]«.
Ein Schwerpunkt der Untersuchungen richtet sich auf den metaphorischen Sprachgebrauch des 1Petr. Metaphorische Rede eröffnet kreative Möglichkeiten der Veränderung. Die Aufforderung »Umgürtet die Hüften eurer Gesinnung« (1Petr 1,13) hat »eine paränetische Valenz«. Daran anknüpfend fokussiert sich M. auf den Ausdruck »geistliches Opfer«. Der Weg vom Kultopfer zum »geistlichen Opfer« ist nicht weniger als eine Revolution. Sie hat »unterschiedliche Traditionsstränge«, unter denen die prophetische Opferkritik hervorsticht, wozu aber auch Philo und die Qumranliteratur Impulse setzen. Bei griechischen und römischen Dichtern und Denkern von Isokrates zu Seneca sind Stimmen zu hören, die ausdrücken, dass es »weniger um die Gabe, sondern vor allem um die Gebende« geht.
Das »Zusammenspiel von metaphorischer Rede und nichtmetaphorischer Begrifflichkeit im Ersten Petrusbrief« hebt hervor, dass in der metaphorischen Wendung »Umgürtet die Hüften eurer Gesinnung« ein Phänomen auftritt, das Paul Ricœur als »semantische Impertinenz« bezeichnet hat. Die Betonung der Gesinnung ist ein »Plädoyer für den Verstandesgebrauch« und das Bild des »Hochbindens des Gewands« dient »der größeren Konzentration auf das, was kommen soll.« Als »Kinder des Gehorsams« sollen die Adressaten sich auf eine neue Lebensweise konzentrieren. In der Metapher »Verlangt nach der vernünftigen, unverfälschten Milch!« (1Petr 2,2) produzieren die nichtmetaphorischen Adjektive »vernünftig« und »unverfälscht« den Effekt, dass das kindliche Wachstum durch Milch in die Welt der Erwachsenen transponiert wird: In den Spuren Christi zu gehen wird so zum dauerhaften Lernprozess.
Das »geistliche Haus« steht im Mittelpunkt des Beitrags »›Le­bendige Steine‹. Ekklesiologische Formationen im Ersten Petrusbrief«. Darin untersucht M. vor allem 1Petr 2,1–10. Durch die ekklesiologischen Aussagen sieht er eine Balance mit den individualistischen Bekehrungsaussagen von »Neugeburt« und »Seelenheil« ge­geben. In einem weiteren Beitrag, ursprünglich als Studienvortrag gehalten, beschreibt M. die angemessene, priesterliche Antwort auf das Erwählungshandeln Gottes. Vom Licht Gottes be­strahlt, können die Angesprochenen »Hoffnungszeugen in der Welt« sein, »um die Großtaten Gottes zu verkünden«. Sie sind ge­mäß einem Buchtitel von Torrey Seland »strangers in the light«.
Unter Berücksichtigung der schon vorangehenden exegetischen Beobachtungen wendet sich M. den »Identitätsklärungen anhand des Ersten Petrusbriefs« zu. Er bescheinigt den kleinasiatischen Adressaten – folgt man dem 1Petr – »ein enormes Selbstbewusstsein und Profil«. Die gelebte eigene Identität wird als Differenz-Erfahrung wahrgenommen. Die »widrige[n] Umstände« (vgl. 1Petr 4,12) sollen als Identifikationsmerkmal gedeutet werden. Durch ihr Anders-Sein sollen die Adressaten überzeugend auf ihre Umgebung wirken.
In den drei Beiträgen »zum Umfeld des Ersten Petrusbriefs« gibt M. einen Überblick über die »eschatologische[n] Konzepte im Neuen Testament« und fragt nach den biblischen Ausgangspunkten der »Diakonie als Grundvollzug kirchlichen Lebens«. Mit »Singen und Gesänge im Neuen Testament« klingt der Band aus. Ein Stellenregister ist angehängt.
Die Aufsätze reflektieren den weitgefassten exegetischen Diskurs zum Ersten Petrusbrief. Gut fundiert führt der Band zuverlässig in die protopetrinische Denkwelt ein. Innovatives Potential hat m. E. insbesondere M.s Blick für die stilistische Eigenheit des 1Petr in »›Umgürtet die Hüften eurer Gesinnung‹ (1Petr 1,13)«.
Zu den Stärken der Beiträge gehört die Offenheit für die Verwurzelung des 1Petr in den Schriften Israels und in den frühjü-dischen Traditionen bei gleichzeitiger Anschlussfähigkeit für Themen und Topoi des nicht-jüdischen Umfeldes.
Das Interesse M.s an 1Petr hat einen Grund in der gegenwärtigen Lage von Kirchen und Gemeinden, die sich »zunehmend in einer diasporalen Minderheitensituation« wahrnehmen. Die Auseinandersetzung mit 1Petr dient der »Selbstvergewisserung und Identitätsentwicklung«. Daher ist M.s wiederholte Beschäftigung mit 1Petr 1,13 ff. und 2,1–10 verständlich. Auch wenn es unredlich wäre, von einem Aufsatzband Vollständigkeit zu erwarten, führt doch die Beschränkung auf wenige Textabschnitte zu Fragen. Meine wichtigsten sind: Wenn in 1Petr das Imperium Romanum als Ganzheit in der Untertanenparänese und in seiner Bezeichnung als »Babylon« angesprochen wird, gibt es dann nicht auch eine politische Dimension zu entdecken? Müsste dementsprechend nicht auch gefragt werden, welche Rolle das Exodusnarrativ spielt? Im Beitrag »Der Erste Petrusbrief und die Schrift« wird es kaum erwähnt. Jacques Schlosser hat in seinem Artikel »Le thème exodial de la Prima Petri« (1991) die These aufgestellt, dass in 1Petr das Exodusthema den christlichen Glauben strukturell prägt. Ohne diesen Bezug bleibt die alte, aber nie ganz abgeschlossene Diskussion, ob 1Petr letztlich der Akkulturation an sein gesellschaftliches und politisches Umfeld dient oder einem »sanften«, aber entschiedenen messianischen Widerstand zugunsten der Zukunft Gottes für die Erde das Wort redet, in der Schwebe. Liegt das an 1Petr selbst oder an zählebigen Deutungstraditionen?