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Ausgabe:

Mai/2022

Spalte:

443–445

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Mittmann, Ulrike

Titel/Untertitel:

Die Weisheit und der Gottessohn. Studien zur hermeneutischen Grundlegung einer Theologie des Neuen Testaments.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2021. X, 456 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 462. Lw. EUR 154,00. ISBN 9783161560637.

Rezensent:

Lukas Bormann

In dem zu besprechenden Band hat die Osnabrücker Neutestamentlerin zwölf Beiträge zusammengestellt, von denen zwei bisher unveröffentlicht waren. Um die Eigenheit des exegetischen Zugangs zu verstehen, den Ulrike Mittmann wählt, empfiehlt es sich, zuerst den programmatischen Artikel aus dem Jahr 2012 »Die neutestamentliche Rezeption von Ps 2 und Ps 110 […]. Hartmut Geses traditionsgeschichtlicher Ansatz in der Diskussion« zu lesen (373–412).
In diesem werden sowohl die Vorannahmen für das Verständnis der Biblischen Theologie, wie sie durch Gese und Peter Stuhlmacher begründet wurden, als auch die Pfade, auf denen diese von M. weiterentwickelt wurden, recht gut fassbar. Der genannte Beitrag wendet sich exegetisch der neutestamentlichen Rezeption zweier für die christologische Vorstellungsbildung der Jesusanhänger herausragend bedeutsamer Psalmen zu. Bevor der Leser nun aber an die wichtigen exegetischen Fragen, die mit diesen Psalmen und ihrer antik jüdischen sowie frühchristlichen Rezeption verbunden sind, herangeführt wird, geht der Beitrag auf Grundfragen der Bib­lischen Theologie und den theologisch-exegetischen Forschungsstand ein. Allerdings werden diese Sachverhalte in einer sehr bestimmten Perspektive dargestellt. Der Leser wird mit Fragestellungen und Urteilen konfrontiert, die aufmerken lassen. Ihm wird referiert, dass der biblisch-theologische Entwurf von B. S. Childs »großen Einfluss […] auf die deutsche Wissenschaft gewonnen hat« (374 f.). Das Interesse an den Arbeiten von Gese und Stuhlmachersei hingegen verloren gegangen, »ohne dass wichtige exegetische Ergebnisse überhaupt zur Kenntnis genommen […] wurden« (375). V or allem sei die »offenbarungsgeschichtliche Systematisierung der Traditionen« durch Gese nicht ausreichend wahrgenommen worden. Damit ist das Grundthema der in diesem Band zusammengestellten Beiträge erkennbar: In Anknüpfung an Gese und Stuhlmacher, deren theologische und exegetische Bedeutung weithin verkannt worden sei, sollen die im Neuen Testament erkennbaren und über das antike Judentum vermittelten alttestamentlichen Traditionen in ihrer offenbarungsgeschichtlichen Systematik exegetisch analysiert und systematisch-theologisch profiliert werden. Die Kritik, die bereits im vergangenen Jahrhundert gegen die Arbeiten der beiden genannten Gewährsleute vorgebracht wurde, dass nämlich mit dieser Positionierung eine nicht nachvollziehbare geschichtstheologische Verengung des historisch-exegetischen Zugangs auf vermeintlich phänomenologische und traditionsgeschichtliche, tatsächlich aber »offenbarungstheologische« Zusammenhänge einhergeht, wird zurückgewiesen. Vielmehr nimmt die beständige, zum Teil nachvollziehbare und anregende, oft aber auch stereotype Kritik an dem Weg, den die exegetische Spezialforschung überwiegend beschritten hat, viel Raum ein. Diese sei »atomistisch«, ihre Vertreter begingen »Textbeugung« usw. Schon in der Habilitationsschrift M.s wird der Forschungsstand zum Lukasevangelium verworfen, so dass diese kritische Herangehensweise denjenigen, der mit den Publikationen M.s bereits vertraut ist, nicht besonders überraschen wird. Auch die vorliegenden Beiträge bieten im Wechsel knappe Polemiken gegen die opinio communis und langatmige Anmerkungen und Exkurse, die die vermeintlich verfehlten Ergebnisse einzelner wissenschaftlicher Beiträge geradezu anprangern.
Was sind aber die nachvollziehbaren und anregenden Elemente der Beiträge? Zunächst einmal ist es richtig, dass die neutestamentlichen Texte selbst die Beziehung zum Alten Testament herstellen und einige dieser Inbezugnahmen eine besondere Bedeutung für die frühchristliche Theologie und Identitätsbildung haben. Zu nennen sind hier Ps 2; 8 und 110, aber auch Jes 53 und Ex 19–24. Die traditionsgeschichtliche Fragestellung ist auch durchaus in der Lage, einzelne dieser Bezugnahmen auf ihre Entstehungszeit und erste Rezeption im frühen Christentum zurückzuführen und im Abgleich mit antik jüdischen Inanspruchnahmen, Weiterführungen und Neuschreibungen alttestamentlicher Traditionen, Motive, Wendungen und Vorstellungszusammenhänge semantisch zu profilieren. Zu Recht stellt M. die Bedeutung der weisheitlichen und apokalyptischen Konzepte in den Mittelpunkt der christologischen traditionsgeschichtlichen Prozesse. Sie zeigt, dass die Rede vom »Menschensohn« durch weisheitliche und apokalyptische Motive angereichert werden musste, um überhaupt erst christologisch wirksam zu werden. Zu Recht wird auch in der Rezeption von Ps 2 und 110 die Thematik der Machtbeteiligung bzw. -übertragung gegenüber einer sogenannten adoptianischen Interpretation stark gemacht (auch wenn es nicht überzeugt, hier ein Entweder-oder zu konstruieren). Die Bedeutung der Melchizedek-Tradition (30–50) und der Sapientia Salomonis (86–112) für die weisheitliche Vorgeschichte der christologischen Ausdrucksbildung wird ebenfalls zu Recht hervorgehoben. Weitere Themen, die im Horizont einer offenbarungstheologischen Systematik interpretiert werden, sind: die theologische Bedeutung der jüdischen Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit (11–29), Joseph und Aseneth (51–85), Thesen zur Christologie (115–138), die Verklärung Jesu (139–184), die Emmausperikope und ihre Funktion für die Erinnerung an die soteriologische Deutung der Lebenshingabe Jesu (185–217), die Bedeutung des hebräischen und des griechischen Textes von Jes 53 für die Deutung des Todes Jesu (218–233), die inkarnatorische Bedeutung der synoptischen Überlieferung von der Versuchung Jesu (234–283), die anthropologische Bedeutung des Dämonischen im Markusevangelium (284–310), die Deutung von Hebr 4,9 »Ruhe« ( σαββατισμός bzw. im Kontext κατάπαυσις) und die Eschatologie des Hebräerbriefs (311–372).
Als Ergebnis der Lektüre des Aufsatzbandes wird man allerdings kaum zu dem Resümee kommen, dass es den Beiträgen in ihrer eindrucksvollen inneren Geschlossenheit gelungen sei, das offenbarungstheologische Kontinuum vom Sinai bis zur Auferstehung und Erhöhung des gekreuzigten Nazareners nachzuweisen oder auch nur eine umfassende Systematisierung der königlichen, pries-terlichen und weisheitlichen Traditionen im antiken Judentum plausibel zu machen. Die Prozesse sind vielmehr disparat, durch die verschiedenen Trägergruppen bestimmt und die Inanspruchnahme von Texten bedeutet eben nicht, dass bestimmte im Überlieferungsprozess seit der Sinaioffenbarung fixierte Semantiken transformiert oder gar unverändert übernommen wurden. Das Intertextualitätsparadigma und die rezeptionsgeschichtliche Forschung weisen vielmehr daraufhin, dass für die Analyse der Aufnahme von Textpassagen und Vorstellungszusammenhängen die synchrone Kontextualität weit bedeutender ist als die diachrone Herkunftsgeschichte, d. h. für das Verständnis der Inanspruch-nahme von Ps 110 in neutestamentlichen Texten ist der jeweilige Kontext, der Charakter der religiösen Trägergruppe und der Kommunikationszusammenhang interpretationsmächtiger als die ur­sprüngliche Bedeutung des Psalms, seine Einbettung in die verschiedenen Psalmsammlungen und seine Stellung in einer vermeintlichen theologischen Systematik des antiken Judentums. Die Beiträge nehmen diese Kritik gelegentlich auf (z. B. 231 f.), begegnen ihr aber in der Regel alleine mit der oft wiederholten Zurückweisung »soziologischer«, »kultursoziologischer« oder »literaturgeschichtlicher« Interpretationsweisen, die als »Axiome« erscheinen, die einer vermeintlich sachgemäßeren »theologischen« bzw. traditionsgeschichtlichen Interpretation im Wege stünden.
Ein Stellenregister und ein umfangreiches Namen- und Sachregister erschließen den Inhalt des Bandes auf vorbildliche Weise.