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Ausgabe:

Mai/2022

Spalte:

441–443

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Maschmeier, Jens-Christian

Titel/Untertitel:

Reziproke Barmherzigkeit. Theologie und Ethik im Matthäusevangelium.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2020. 358 S. = Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament, 227. Kart. EUR 79,00. ISBN 9783170396425.

Rezensent:

Matthias Konradt

Ziel der Studie, die eine überarbeitete Fassung der 2019 von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bo­chum angenommenen Habilitationsschrift Jens-Christian Maschmeiers darstellt, ist es, einen Beitrag zum theologischen Verständnis des Begriffs ἔλεος im Mt zu leisten.
M.s Zugang zur Thematik zeigt sich gleich zu Beginn der Einleitung darin, dass er ἔλεος als einen »der zentralen soteriologischen« – nicht: ethischen (!) – »Leitbegriffe des Matthäusevangeliums« (11) bezeichnet und dass er in der Problemdisposition das Anliegen vorbringt, eine theologische Sachkritik am Mt, die an der lutherischen Deutung der paulinischen Rechtfertigungslehre Maß nimmt, überwinden zu wollen. Zentrale Bedeutung besitzt für M. das Verhältnis von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit bzw. Recht. Er will zeigen, dass Barmherzigkeit ein nicht einklagbarer Rechtsv erzicht ist, der das Recht an sich aber nicht negiert, und ihr zugleich eine normative Dimension eignet, die eng mit der von ihm postulierten Gegenseitigkeit der Barmherzigkeit verknüpft ist. Die Pfade seiner Deutung des Verständnisses von Barmherzigkeit im Mt werden durch eine ausführliche Erörterung von Mt 18,23–35 angelegt (Kapitel 1, 22–159); die Thematisierung der drei ἔλεος-Belege in Mt 9,13; 12,7; 23,33 (Kapitel 2, 160–262) und die Erörterung des Verhältnisses der Barmherzigkeitsthematik zu anderen mt Leitkonzepten – namentlich zur »besseren Gerechtigkeit«, Feindesliebe und Goldenen Regel – in Kapitel 3 (263–330) treten die Pfade (nur noch) weiter aus. Die Besprechung konzentriert sich daher im Folgenden auf Kapitel 1.
Die Erörterung von Mt 18,23–35 beginnt M. mit einem forschungsgeschichtlichen Zugang, der problemorientiert auf »wissenschaftliche Strategien der Marginalisierung des Gerichtsgedankens« (27) fokussiert ist. Als Prämisse dieser Strategien identifiziert M. das Postulat der Unvereinbarkeit oder doch zumindest einer starken Spannung zwischen Barmherzigkeit und Gerichtsgedanken. Wenn M. sich dabei zunächst der »Strategie« zuwendet, eine vormatthäische Fassung ohne den abschließenden Gerichtsgedanken (V. 34) oder gar ganz ohne die dritte Szene (V. 31–34) zu postulieren, illustriert dies anhand des literarkritischen Argumentariums zwar gut die genannte Prämisse, doch ist dies im Rahmen seiner Fragestellung insofern überraschend, als es in der Studie um das matthäische Verständnis der Barmherzigkeit gehen soll. Eine zweite Strategie, die M. »Strategie der Funktionalisierung der Ge­richtsaussagen« (53) nennt, wird neben 18,23–35 auch anhand der Auslegung von 18,15–18 illustriert. Zu 18,23–35 setzt M. sich kritisch mit der Interpretation von Ulrich Luz auseinander, in der die bipolare Spannung zwischen Erbarmen und Zorn letztlich aufgelöst werde, indem die Gerichtsaussage in den Dienst der Einschärfung der Barmherzigkeitsforderung gestellt würde. Zu 18,15–18 schließt sich M. dem Verständnis an, hier im Zusammenspiel mit 18,12–14 expliziert zu sehen, »wie den verirrten Gemeindegliedern nachzugehen ist« (64), doch konzentrieren sich seine Ausführungen auf die erneute Problematisierung solcher Auslegungen, für die 18,15–18 mehr oder weniger ein Fremdkörper in der Rede darstellt.
Auf den forschungsgeschichtlichen Zugang folgt eine gediegene, auf die Frage nach dem Verhältnis von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit hin zugespitzte Auslegung von 18,23–35. Um die dritte Szene in V. 31–34 einschließlich V. 34 organisch mit der ersten Szene in V. 23b–27 zu verbinden, sucht M. den Weg, Barmherzigkeit als ein auf Gegenseitigkeit angelegtes Beziehungshandeln zu verstehen, wie dies verdichtet schon im Titel der Studie »Reziproke Barmherzigkeit« zum Ausdruck kommt. M. beruft sich dafür auf den Ge­brauch von דסח in der Hebräischen Bibel. Selbst dann, wenn man konzediert, dass an wenigen Stellen beim Gebrauch von דסח der Aspekt mitschwingt, dass Menschen Gott דסח erweisen, wie M. dies insbesondere für Hos 6,6 vertritt, ist damit allerdings erstens noch nicht erwiesen, dass dieser semantische Gehalt auch bei der Übersetzung mit ἔλεος in der LXX mittransportiert wird. Zwei-tens muss man voraussetzen, dass dieses Übersetzungsidiom den Sprachgebrauch des Evangelisten bestimmt. Statt das matthäische Verständnis von Barmherzigkeit vom hebräischen דסח her semantisch aufzuladen, wäre es überzeugender gewesen, wenn M. sich auf die Verwendung von ἔλεος in der LXX und in der zeitgenössischen frühjüdischen Literatur konzentriert hätte. Letztere spielt in der vorliegenden Studie allerdings – von einem Abschnitt über »Barmherzigkeit als Opferäquivalent in Tob und Sir« (202–210) abgesehen – als Traditionskontext des Evangelisten insgesamt kaum eine Rolle. Vor allem aber evoziert die Leitidee einer reziprok angelegten Barmherzigkeit im Blick auf Mt 18,23–35 kritische Fragen. Unstrittig ist, dass mit dem barmherzigen Handeln Gottes die Erwartung verbunden ist, dass der Mensch sich von dieser Erfahrung in seinem zwischenmenschlichen Handeln bestimmen lässt und dies Ausdruck seiner Gottesbeziehung ist. Insofern kann man sagen, dass Menschen auf Gottes Barmherzigkeit durch ihr Verhalten zu ihren Mitmenschen antworten und es konsequent ist, dass Gott in die Beziehung eingreift, wenn diese Reaktion ausbleibt. Aber dies begründet schwerlich, den Aspekt der Reziprozität in den Barmherzigkeitsbegriff selbst einzuschreiben, und Mt 18,23–35 ist denn auch gerade kein Zeuge für eine solche Auffassung. Man kann im Sinne der imitatio Dei von einer Weitergabe des ἔλεος Gottes sprechen, und M. nimmt diese Redeweise auch selbst auf (133 u. ö.). Es wird aber eine gedankliche Unschärfe eingetragen, wenn dieses Moment durch die Rede von reziproker Barmherzigkeit bzw. in diesem Fall von »verweigerte[r] Gegenseitigkeit auf der Ebene der Barmherzigkeit« (86) eingefangen werden soll. Denn es geht hier gerade nicht um Wechselseitigkeit in einer zweigliedrigen Figurenkonstellation, also nicht um die Relation A <=> B, sondern um die Konstellation A → B → C. Der König kritisiert den Knecht in Mt 18,33 ja nicht dafür, dass dieser die erwiesene Barmherzigkeit nicht ihm gegenüber erwidert habe, sondern dass dieser sich nicht sei-nes Mitknechtes erbarmt hat. Kurzum: Es wäre exakter, nicht von reziproker Barmherzigkeit zu sprechen, sondern von mimetischer Barmherzigkeit, die Rückwirkung auf das Gottesverhältnis hat.
Die vorgebrachte Unterscheidung ist auch für das Verständnis der Aufnahme von Hos 6,6 in Mt 9,13; 12,7 relevant, der M. in Kapitel 2 nachgeht. Man kann M. darin folgen, dass die hier geforderte Barmherzigkeit »als Ausdruck der Hingabe an Gott« (184, Hervorhebung von mir) zu verstehen ist, jedenfalls in einem mittelbaren Sinn, aber man wird zugleich mit der opinio communis daran festhalten müssen, dass hier von Menschen gefordert wird, Barmherzigkeit gegenüber den Mitmenschen walten zu lassen, während M. die Aufnahme von Hos 6,6 so deutet, dass Matthäus »ἔλεος auf das menschliche Gottesverhältnis bezieht und die zwischenmenschlich gewährte Barmherzigkeit als Konkretion des menschlichen דסֶחֶ-Erweises gegenüber Gott versteht« (186). Auf der Basis dieses Verständnisses dient Hos 6,6 M. ferner als Schlüssel für die Zuordnung von Gottesliebe und Nächstenliebe in Mt 22,34–40.
Wenn das Augenmerk im Rahmen des begrenzten Umfangs dieser Besprechung auf kritische Punkte der Gesamtthese gerichtet wurde, so soll dies nicht verdecken, dass M. ein solide ausgearbeitetes, theologisch engagiertes Werk vorgelegt hat, das es verdient, in der Matthäusforschung, sei es in Weiterführung oder in Abgrenzung, Gehör zu finden.