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Ausgabe:

Mai/2022

Spalte:

437–439

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Gleich, Daniel A.

Titel/Untertitel:

Die lukanischen Paulusreden. Ein sprachlicher und inhaltlicher Vergleich zwischen dem paulinischen Redestoff in Apg 9–28 und dem Corpus Paulinum.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2021. 352 S. zahlr. m. Tab. = Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte, 70. Geb. EUR 88,00. ISBN 9783374068685.

Rezensent:

Matthias Becker

In der überarbeiteten Fassung seiner von Armin D. Baum (FTH Gießen) betreuten und an der Evangelische Theologische Faculteit (ETF) Leuven eingereichten Dissertation geht der am Theologischen Se-minar St. Chrischona lehrende Verfasser Daniel A. Gleich der Frage nach, welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Paulusreden der Apg und dem Corpus Paulinum festgestellt werden können (24). Obzwar in der Acta-Forschung eine unüberwindliche Diastase zwischen dem lukanischen Paulus und dem Paulus der Briefe längst nicht mehr unisono vertreten wird, fehlte es bislang an einer Aufarbeitung des Gesamtbefunds. Bevor G. diese im Hauptteil seiner Untersuchung in Angriff nimmt (99–315; Kapitel 6–9), werden im Anschluss an einen Forschungsüberblick (27–59; Kapitel 2) drei Präliminarien geklärt (61–97; Kapitel 2–5).
Erstens wird die »Redewiedergabe« in der antiken Historiographie behandelt (61–76). Aus den methodischen Überlegungen des Thukydides und des Polybios sowie aus (recht selektiv) ausgewählten Beispielen für die Wiedergabe parallel überlieferter Reden bei Josephus und Tacitus zieht G. den (zu pauschalen) Schluss, dass es antiken Historikern weder an reiner Fiktion noch an minutiöser Reproduktion des exakten Wortlauts gehaltener Reden, sondern daran gelegen gewesen sei, Inhalte des Gesagten wiederzugeben. Zweitens wird das eigentliche »Quellenmaterial« umrissen (77–84): Um einen möglichst breiten Vergleich mit dem Corpus Paulinum zu erzielen, untersucht G. nicht allein die längeren, sondern alle in oratio recta dargebotenen Paulusreden der Apg, deren Analyse er nach den in der Forschung etablierten Gattungen »Abschiedsrede«, »Missionsrede« und »Verteidigungsrede« ordnet. Um den paulinischen Charakter der Parallelen schärfer zu konturieren, sammelt G. im Sinne einer Gegenprobe auch Parallelen außerhalb des Corpus Paulinum, die dem Neuen Testament und den Schriften der Apostolischen Väter entnommen sind. Was drittens die Methodik an­belangt (85–97), werden Inhalts- und Wortparallelen in den Blick genommen, die zur besseren Übersichtlichkeit tabellarisch präsentiert werden. Die »inhaltliche Identität« zwischen den Parallelen klassifiziert G. dabei als »hoch« (A) oder »gering« (B), wobei gegebenenfalls ein ergänztes Pluszeichen (A+/B+) eine »teilweise Wortlautidentität« markiert (89). Den Begriff »Paulinismus« gebraucht G. eingedenk unterschiedlicher Verwendungsweisen im weiten Sinne als Bezeichnung aussagekräftiger Inhaltsparallelen aus dem Corpus Paulinum.
Die Analyse der Abschiedsrede in Milet (Apg 20,18–35) eröffnet den Hauptteil (99–143). Es werden 13 Parallelen aus den unumstrittenen Paulusbriefen präsentiert, von denen die meisten aus 1Thess stammten; hinzu kommen elf Parallelen aus den umstrittenen Paulinen, von denen die größte Zahl im Eph zu finden sei. Was die Verteilung der Parallelen angeht, führt die Untersuchung der drei Missionsreden (Apg 13,16b–41; 14,15b–17; 17,22–31) zu anderen Ergebnissen (145–226): Aus den Protopaulinen trägt G. 41 Parallelen zu diesen Reden zusammen, von denen mehr als die Hälfte aus dem Röm stamme. Bemerkenswert sei, dass sich aus den umstrittenen Paulusbriefen nur neun Parallelen beibringen ließen (die meisten aus Kol und Eph), denen insgesamt 39 weitere Parallelen außerhalb des Corpus Paulinum gegenüberstünden. Im Vergleich zur Ab­schiedsrede in Apg 20 fallen also die umstrittenen Paulusbriefe weniger, die Protopaulinen sowie Schriften außerhalb des Corpus Paulinum hingegen mehr ins Gewicht. Diesen Befund versucht G. mit der besonderen Thematik der Missionsreden zu erklären. Im vorletzten Kapitel des Hauptteils (227–295) stehen die Verteidigungsreden im Fokus (Apg 22,1–21; 23,1b.3.5–6b; 24,10–21; 26,2–23). Die Paulinismen verteilen sich auf insgesamt 46 Parallelen aus den Protopaulinen (die meisten aus Röm) und auf 20 breit verteilte Parallelen aus den umstrittenen Paulusbriefen. Dass im Vergleich zu den Missionsreden relativ wenige Parallelen außerhalb des Corpus Paulinum zu verzeichnen seien (nämlich 20), führt G. auf den hohen Anteil biographischer Themen in den Verteidigungsreden zurück. Das letzte Kapitel des Hauptteils (297–315) ist kurzen, bisher vernachlässigten Redepartien in Apg 13; 14; 17; 18; 19; 21 und 28 gewidmet. Auffällig sei, dass von 29 Parallelen aus dem gesamten Corpus Paulinum wiederum die meisten aus dem Röm stammten. In der Summe beläuft sich die Gesamtzahl der von G. festgestellten Parallelen auf 169, von denen 123 auf die Protopaulinen entfallen (mit Röm an der Spitze) und 46 auf die umstrittenen Paulusbriefe (mit Kol und Eph an der Spitze, gefolgt von 2Tim). Auch jene Stellen der Paulusreden, für die sich keine Parallelen im Corpus Paulinum angeben lassen, werden aufgelistet (322).
Die Schlüsse, zu denen G. gelangt, lauten erstens, dass sich die in der Forschungsgeschichte oft postulierten inhaltlichen Widersprüche zwischen den Paulusreden und den Paulusbriefen (etwa mit Blick auf Apg 13,38–39 oder die Areopagrede) nicht bestätigen ließen; und zweitens, dass die Bezüge zwischen Reden und Briefen nicht auf eine literarische Abhängigkeit zurückzuführen seien (322–323.349). Obwohl G. bedauerlicherweise keine eigene einleitungswissenschaftliche Verortung der Apg auf der Basis seiner Er­gebnisse wagt, ja dezidiert »keinen Beitrag zur Diskussion um die Verfasserschaft der Apostelgeschichte leisten« will (26), sprechen die erzielten Resultate nach eigenem Bekunden gegen einen »rein lukanischen Ursprung« der Paulusreden sowie gegen »eine sehr späte Abfassungszeit« der Apg (349). Bedingt die inhaltliche Nähe zu paulinischen Themen also die zeitliche Nähe zum Paulus der Briefe? Erstaunlicherweise bezieht G. in diesem Zusammenhang die Wir-Stücke nicht in seine Überlegungen ein, obwohl die These von Lukas als (einem temporären) Paulusbegleiter seit einiger Zeit wieder ernsthaft in Erwägung gezogen wird.
Aufs Ganze betrachtet schließt G.s Monographie, deren Benutzbarkeit durch Indizes hätte gesteigert werden können, eine empfindliche Lücke der Acta-Forschung. Die Parallelen werden behutsam und ausgewogen behandelt, wenngleich deren Überzeugungskraft mitunter schwankt, weil es sich oft um einzelne, aus ihren jeweiligen Kontexten herausgerissene Wörter oder Ausdrücke handelt oder weil die Herkunft der Parallelen manchmal auch anders denn als durch eine Rezeption paulinischer Inhalte erklärt werden könnte (die Areopagrede z. B. weist in weiten Teilen thematische Parallelen zu pagan-philosophischen Diskursen auf). Dass die Suche nach dem hinter den Paulusreden stehenden Paulus der Briefe erkenntnisleitend ist, leuchtet angesichts der Fragestellung ein. Allerdings zeigt schon ein flüchtiger Blick in den von G. vielfach erwähnten äußeren Rand des Nestle-Aland, für den er insgesamt 69 Ergänzungen anregt (142.189.198.224.247.257. 68.292. 315.321–322), dass auch in anderen Reden der Apg (z. B. den Petrusreden) Aussagen als Paulinismen im definierten Sinne gedeutet werden könnten. Zu diesem Befund bezieht G. nicht Stellung. Als eigenständig-kreativer Theologe und Erzählschriftsteller verliert Lukas jedenfalls, da er in den Paulusreden zum Sprachrohr authentischer Paulusaussagen stilisiert wird, im vorliegenden Buch bedenklich an Gewicht. Methodisch ist es in diesem Zusammenhang als problematisch anzusehen, dass G. den Parallelen aus dem Doppelwerk keinen Vorrang gegenüber dem Corpus Paulinum gewährt, sondern sie zu den Parallelen außerhalb der Paulusbriefe rechnet, die im Kapitelaufbau immer erst nach den Paulinen besprochen werden. Außerdem werden Forschungen zur Narrativität antiker Historiographie ausgeblendet, an denen gerade dann kein Weg vorbeiführt, wenn literarische Abhängigkeit von den Paulusbriefen (zu Recht) abgelehnt wird. Davon abgesehen hat G. insgesamt eine beachtenswerte Studie zu paulinischen Tönungen in der lukanischen Sprache vorgelegt, die mit ihren 218 Tabellen zugleich eine überaus nützliche Materialsammlung für künftige Forschungen zum Thema bereitstellt.