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Ausgabe:

Mai/2022

Spalte:

435–437

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Frey, Jörg, u. Manuel Nägele[Hgg.]

Titel/Untertitel:

Der Nous bei Paulus und in seiner Umwelt. Griechisch-römische, frühjüdische und frühchristliche Perspektiven.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2021. XII, 375 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 464. Lw. EUR 139,00. ISBN 9783161602313.

Rezensent:

Friedrich W. Horn

Die 15 Beiträge dieses Bandes gehen teilweise zurück auf eine interdisziplinär angelegte Fachtagung vom 17.–19.10.2019 in Zürich, die maßgeblich von Manuel Nägele vorbereitet wurde, der auch für die Redaktion und Edition dieses Bandes verantwortlich zeichnet und der gegenwärtig an einer Dissertation über den Terminus nous bei Paulus und den Autoren der neutestamentlichen Umwelt arbeitet. In seinem eigenen einführenden, forschungsgeschichtlich und lexikalisch orientierten Beitrag verzeichnet er insgesamt 14 Belege für nous in den Paulusbriefen (Röm 1,28; 7,23.25; 11,34; 12,2; 14,5; 1Kor 1,10; 2,16 [2x]; 14,14.15 [2x].19; Phil 4,7). Vernachlässigt und teilweise im Register nicht einmal notiert sind die vielen Komposita, Adjektive und Substantive, die sich von noeō bzw. nous ableiten (ThWNT IV 947 zählt 21 Begriffe, die freilich nicht alle bei Paulus begegnen). Nägele schließt in seinem Ausblick mit der Einführung eines dreidimensionalen Sprachgebrauchs von nous bei Paulus (ethisch, epistemologisch, kommunikativ) und einem reichen Bün­del für ihn ungeklärter Fragen. Er formuliert gleichwohl recht, m. E. zu optimistisch die Gewissheit, dass die Klärung dieser Fragen die Paulusforschung zu basalen Ergebnissen hinsichtlich der Anthropologie und Psychologie führen werde, ja verhelfe »ein neues Licht auf die paulinische Verarbeitung der weitestgehend ganzheitlichen Anthropologie der Septuaginta und des klassisch dua-listischen Modells griechischer Philosophie zu werfen« (20).
Doch nicht Paulus (drei Beiträge, die nicht durchgehend auf nous bzw. Paulus bezogen sind), sondern wie im Untertitel des Bandes präzise angezeigt, griechisch-römische und frühjüdische Horizonte sowie frühchristliche Rezeptionsformen (elf Beiträge) stehen im Fokus der Betrachtung. Es ist, wie Jörg Frey einleitend festhält, »nicht mehr möglich, in der Nachzeichnung des paulinischen Denkens komplett auf die antik-philosophischen Diskurse zu verzichten« (IX). Allerdings gelingt es dem Band nicht, diese teilweise grundlegenden, wenn auch sehr disparaten und zeitlich von der frühgriechischen Dichtung bis hin zu Origenes und Evagrius inkl. lateinischen Textgrundlagen reichenden Beiträge in einer Gesamtschau zu bewerten oder eine Antwort auf die Frage ihres Einflusses auf die frühchristliche Anthropologie zu suchen. Das umfangreiche Register (319–375) kann allerdings hierzu eine Hilfe anbieten. Troels Engberg-Pedersen bewertet überzeugend nous innerhalb der paulinischen Anthropologie in einer deutlich untergeordneten Rolle gegenüber pistis und pneuma, was auch daran erkennbar werde, dass Paulus in allen anderen als den oben angeführten Briefen anthropologisch argumentieren kann, ohne auf nous zu rekurrieren. Berührungen zur stoischen Philosophie erkennt Engberg-Pedersen in der Vorstellung der Erneuerung des nous durch das pneuma from above (Paul) bzw. den divine nous (Stoics) (41). Andrew Bowden bespricht (in einem außerhalb der Züricher Fachtagung stehenden Vortrag) zwei Lasterkataloge im Römerbrief, um darzulegen, dass die Laster wie auch in der Stoa Manifestationen der Begierde sind, die wiederum dem (vorchristlichen) nous entspringen.
Die griechisch-römischen Horizonte behandeln zunächst Martin Hose, der auf den nous in der frühgriechischen Dichtung und im griechischen Drama eingeht. Christoph Riedweg stellt Facetten des nous in der platonischen Anthropologie vor und Clare K. Rothschild bespricht Editorial Hermeneutics and Galen’s de indolentia, einen erst im Jahr 2005 in Thessalonich entdeckten Brief. Die frühjüdischen Horizonte eröffnet Beatrice Wyss mit einem umfang-reichen Beitrag zu Philon von Alexandrien, der den Geist als den Ort der Ebenbildlichkeit mit Gottes Logos im Menschen begreift, dessen Gefährdung von der Seele herrührt, in der Elemente des Geistes, aber auch der Leidenschaften und Emotionen verbunden sind. Jan Willem van Henten bietet einen Überblick über den Ge­brauch von nous in den Schriften des Flavius Josephus, der sich für ihn weitaus komplexer darstellt als zumeist bisher erkannt wurde. Ein Appendix (165–172) listet alle Belege der Hauptschriften auf, verortet sie im Kontext und bietet Übersetzungs- und Verstehenshinweise. Petra von Gemünden zeigt, dass das philosophische Leitwort des logismos im 4. Makkabäerbuch, verstanden als fromme und gottesfürchtige Urteilskraft, als Herrscher über die Affekte ausgearbeitet wird.
Die frühchristlichen Rezeptionsformen eröffnet Annette Weissenrieder mit einem Beitrag zu Wegen der Gotteserkenntnis im Epheserbrief. Ekaterina Matusova verweist auf die nur zweimal im Neuen Testament begegnende Wendung logos akoēs (1Thess 2,13; Hebr 4,12), die auf eine Übermittlung des Logos durch Predigt verweise, und sie deutet auf eine exegetisch-philosophische Tradition, die auch bei Philo, QE 2,16 begegne. Was ist der Mensch – fragt Thomas J. Kraus im Blick auf die apokryphe Apokalypse des Paulus/Visio Pauli (nicht zu verwechseln mit der Apokalypse des Paulus in NHC V/2), für deren Textüberlieferung die lateinischen Fassungen leitend sind. Von nous handelt der Text nicht – das Lexem begegnet in der Apokalypse nicht –, sondern fragt nach corpus, carnis, spiritus und anima. Diese Seele (psychē/anima) ist in ihrer Be­deutung im Gegenüber zu den anderen Lexemen klar definiert. In der Trennung der Seele vom Leib wird mit Blick auf die anima als der Größe, die das Verhalten des Menschen ausgerichtet und geprägt hat, Lohn und Strafe festgelegt. Dass Kraus den Aussagen der Apokalypse des Paulus eine gegenwärtig wegweisendere Kraft im Gegenüber zu allen philosophisch-anthropologischen Schriften seit Kant einräumt (257), verwundert doch sehr. Auch in dem Beitrag von Jan N. Bremner zu Body and Soul in the Pre-Valerian Chris-tian Martyr Acts spielt der Begriff nous keine Rolle (260), wohl aber psychē. Auch wenn Christen aus der christlich-philosophischen Tradition um den Gegensatz von Körper und Seele wohl wussten, so spielt diese Unterscheidung in den Märtyrerakten keine Rolle, da die zukünftige postmortale Existenz nicht körperlos gedacht wird. Freilich ist die Gattung der Märtyrerliteratur stets mit zu bedenken, so dass aus diesen Texten keine allgemeinverbindliche frühchristliche Anthropologie abgeleitet werden kann. Abschließend bietet Ilaria L. E. Ramelli einen Ausblick auf The Reception of Paul’s Nous in the Christian Platonism of Origen and Evagrius.
Man darf abschließend festhalten, dass nous bei Paulus und ebenfalls in den angezogenen Horizonten wohl nicht die wegweisende Position einnimmt, die ihm einleitend von Nägele eingeräumt wird. Viele Beiträge kommen ganz ohne einen Verweis auf nous aus. Dass allerdings die Anthropologie des Paulus und der Stoa auch nicht ohne ein Bedenken des erneuerten nous auskommen, zeigt Troels Engberg-Pedersen klar auf.