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Ausgabe:

Mai/2022

Spalte:

433–435

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Becker, Eve-Marie, u. Hermut Löhr [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Die Exegese des2 Kor und Phil im Lichte der Literarkritik.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020. XX, 248 S. = Biblisch-Theologische Studien, 185. Kart. EUR 50,00. ISBN 9783788734732.

Rezensent:

Lukas Bormann

Die in dem Band zusammengestellten Beiträge gehen auf Vorträge zurück, die in den Jahren 2011 bis 2018 auf verschiedenen Jahrestagungen der Studiorum Novi Testamenti Societas (SNTS) gehalten wurden. Von den insgesamt acht Beiträgen befassen sich sieben mit der umstrittenen literarischen Integrität des Zweiten Korintherbriefs und einer mit der des Philipperbriefs. Die seit Mitte des 19. Jh.s diskutierten Teilungshypothesen hatten sich in der deutschsprachigen Exegese in den 1970er Jahren bereits so weit durchgesetzt, dass Wolfgang Schenk für seinen Kommentar ausdrücklich den Plural »die Philipperbriefe« (1984) verwendete und Hans Dieter Betz die Kapitel acht und neun des 2. Korintherbriefs als zwei eigenständige Briefe kommentierte (1985). Nach diesem Höhepunkt der Vorherrschaft von Teilungshypothesen setzte sich wieder der sogenannte »holistische« Zugang durch, d. h. für viele Spezialforschungen zu den beiden Briefen legte man dann doch lieber die Einheit der Schreiben zugrunde. Diese Wende wurde wesentlich durch die verstärkte Integration literaturwissenschaftlicher Methoden in die Exegese bewirkt und von einer abnehmenden Plausibilität der Formgeschichte, die mit großer Selbstverständlichkeit vermeintliche Briefgattungen wie Dankesbrief, Verwaltungsbrief u. a. unterschied, begleitet.
Der Beitrag von Andreas Lindemann (1–38) insistiert darauf, dass die Widersprüche im Zweiten Korintherbrief durch die Annahme, dass hier mehrere ursprünglich voneinander unabhängige Briefe bzw. Texte zusammengestellt worden seien, besser gelöst würden als durch die der Einheit des Schreibens. Ein Rückblick auf die Forschung seit dem 19. Jh. macht deutlich, dass sogar historistische Traditionalisten wie Theodor von Zahn mit der Frage der Einheitlichkeit dieses Paulusbriefs ringen mussten. Schließlich wirft Lindemann der Forschung der Gegenwart die Neigung vor, »entsprechende Fragen nicht mehr zu stellen oder aber Antworten zu geben, die die erkennbaren Probleme überspielen« (38).
Dietrich-Alex Koch (39–52) sieht in drei Abschnitten des Zweiten Korintherbriefs deutlich unterschiedliche Situationen (40), die eine Briefteilung unausweichlich machen. Davon ausgehend fragt er, welche Bedeutung die Kompilationsthese für die Auslegung des Textes hat. Zum einen sei es notwendig, jeden Briefteil in seine Entstehungs- und Kommunikationssituation einzuordnen und von daher historisch zu interpretieren. Zum andern ist nach der Be-deutung und Intention der Zusammenstellung der Briefteile zum kanonischen Brief zu fragen. Diese seien in der Beantwortung der Frage nach dem angemessenen Verständnis des Apostelamtes zu sehen.
Peter Arzt-Grabner (53–102) hält gleich zu Beginn fest, dass seine papyrologischen Vergleichsforschungen nur den »Wahrscheinlichkeitsrahmen« für Kompilationsthesen bestimmen, nicht aber die Diskussion um unterschiedliche oder gar widersprüchliche Entstehungssituationen entscheiden könnten (54). Nachdem die von der Mitherausgeberin des zu besprechenden Bandes in die Diskussion gebrachten Vermutungen zum Gebrauch von Wachstäfelchen oder einzelnen Papyrusblättern durch Paulus als »unwahrscheinlich« verworfen worden sind (74 u. 81), stellt der Beitrag die papyrologischen Argumente für eine Briefkompilation zusammen. Aus einer Briefsammlung habe nicht Paulus, sondern ein Kompilator einen größeren Brief zusammengestellt und entgegen der sonstigen Praxis auf abgrenzende Markierungen der einzelnen Briefe verzichtet (89). Ein anderer materialer Ausgangspunkt für eine Kompilation sei durch das Vorliegen unvollständig erhaltener oder beschädigter Briefe gegeben, die zu einer Zusammenstellung genötigt hätten (100). In beiden Fällen sei es unwahrscheinlich, dass Paulus selbst Hand angelegt hätte, vielmehr sei es naheliegend, dass das korinthische Gemeindearchiv der Ausgangspunkt für die Briefkompilation durch eine andere Person gewesen sei (101 f.).
Margaret M. Mitchell (103–145) möchte die Gegenüberstellung von Teilungshypothesen und holistischer Interpretation überwinden, indem sie zeigt, dass es für das Verständnis des Briefes vor allem auf die Abfolge der Argumente im Schriftstück (ἀκολουθία) und der Beziehung von Teil und Ganzem (μέρος καὶ ὅλον) an­komme. Dies zeigt sie an vier Beispielen der patristischen Korintherexegese und schließt mit dem Plädoyer, dass alle Leser des paulinischen Schreibens im interpretatorischen Prozess Teile herausgriffen und auf das Ganze bezögen, so dass die Teilungsfrage für diesen allen Leseweisen gemeinsamen Zugriff nur von nachgeordneter Bedeutung sei (109).
Lars Aejmelaeus (147–175) sieht drei Möglichkeiten: a) die Einheit des Briefes, b) die Abfolge 2Kor 1–9 und 10–13 als Ausdruck zweier Konflikte (»double controversies«) und c) die Abfolge 2Kor 10–13 (»Tränenbrief«) und 1–9 als eine Art Versöhnungsbrief, die er »the letter of tears solution« nennt. Er stellt die Gesichtspunkte zusammen, die für Lösung c) sprechen, und meint, das berühmte Ockhamsche Prinzip, dass die einfachste Lösung vorzuziehen sei, spreche für diese (174).
Thomas Schmeller (177–196) erläutert erneut seine umstrittene These von der vollständigen Einheitlichkeit des Gesamtschreibens, die seinem 2018 abgeschlossenen Kommentar zugrunde liegt. In dankenswerter Klarheit legt er die textlichen Widersprüche offen, meint aber, ähnlich wie der bereits genannte Theodor von Zahn, diese durch Annahmen über Verhaltensweisen und Absichten des Paulus und des Titus überwinden zu können. Er nennt die Lösung dann modernisierend »textpragmatisch« (196), was aber nur verdeutlicht, dass die Lösung jenseits des Textes und seiner Sinnkonstitution gesucht wird und deswegen exegetisch kaum überzeugen kann.
Paul B. Duff (197–231) wendet sich den sogenannten Kollektenbriefen 2Kor 8 und 9 zu. Er geht von der Uneinheitlichkeit des Schreibens aus und setzt sich vor allem mit dem Problem auseinander, dass 2Kor 8,3b–5 eine bereits erfolgreiche Geldsammlung, 2Kor 9,2–5 hingegen eine noch in Vorbereitung befindliche nennt. Die geographische Lösung schließt er aus und schlägt vor, dass Paulus die jeweiligen Gemeinden über den Stand der Kollekte falsch informiert und so die Konflikte, die in 2Kor 1–7 und 10–13 geschildert sind, ausgelöst hätte (228–231).
Paul A. Holloway (233–246), dessen Philipperkommentar (2017) von der Einheitlichkeit des Schreibens ausgeht und diesen als »Trostbrief« (»letter of consolation«) versteht, stellt einige Argumente für beide Thesen zusammen. Er sieht im Freudenthema die wichtigste Klammer der Einheit des Briefes, die auch nicht durch den abrupten Stimmungswechsel zwischen Phil 3,1 und 3,2 in Frage gestellt werde.
Den Herausgebern ist zuzustimmen, dass hier wichtige, aus langjähriger exegetischer Arbeit entwickelte Forschungsbeiträge zusammengestellt sind. Ein Schlusspunkt kann damit nicht ge­setzt sein. Es ist vielmehr zu hoffen, dass die Diskussion durch die vorliegenden eindringlichen und überwiegend sorgfältig begründeten Überlegungen vertieft wird und vorschnelle Lösungen vermieden werden. Den Beiträgern und Herausgebern ist deswegen für die entsagungsreiche Beschäftigung mit einem etwas aus der Mode gekommenen, aber dennoch für die historische Forschung am Neuen Testament bedeutsamen und unerledigten Thema zu danken.