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Ausgabe:

Mai/2022

Spalte:

420–422

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Schmid, Konrad, u. Jens Schröter

Titel/Untertitel:

Die Entstehung der Bibel. Von den ersten Texten zu den heiligen Schriften. 2., durchges. Aufl.

Verlag:

München: C. H. Beck 2019 (3. Aufl. 2020). 504 S. m. 48 Abb. u. 4 Ktn. Geb. EUR 32,00. ISBN 9783406739460.

Rezensent:

Marianne Grohmann

Konrad Schmid und Jens Schröter zeichnen in ihrem Buch den Entstehungsprozess der Bibel in Judentum und Christentum nach. Sie versammeln Grundlagenwissen aus der Geschichte Israels, des antiken Judentums und Christentums sowie der alt- und neutes-tamentlichen Literaturgeschichte bzw. Einleitungswissenschaft in allgemein verständlicher Sprache.
Nach einer kurzen Einführung gibt das 1. Kapitel einen Überblick über die unterschiedlichen Textüberlieferungen jüdischer und christlicher Bibeln sowie über terminologische Fragen. Ein Schwerpunkt liegt hier auf unterschiedlichen äußeren Erscheinungsformen jüdischer und christlicher Bibeln, wie z. B. Schriftrolle vs. Kodex. Betont wird der prozesshafte Charakter der Kanonisierung, der schrittweisen Sammlung verbindlicher Schriften. Der Begriff »Kanon« ist in christlichem Kontext entstanden, er ist »eng mit Kontroversen über die Rechtmäßigkeit der Lehre und die Autorität von Bischöfen und Synoden verbunden« (65). Im Sinne einer verbindlichen Schriftensammlung ist er erst seit dem 4. Jh. n. Chr. verbreitet. Um die unterschiedlichen Entstehungstexte der alt- und neutestamentlichen sogenannten »apokryphen« Texte aufzuzeigen, verwenden Schmid/Schröter – wie in jüngerer Zeit üblich – die Terminologie »jüdische Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit« und »antike christliche Apokryphen« (67).
Die Entstehungszeit der genuin alttestamentlichen Texte wird in zwei Epochen unterteilt: die Königszeit Israels und Judas im 10. bis 6. Jh. v. Chr. (2. Kapitel) und das entstehende Judentum in der babylonischen und persischen Zeit, 6. bis 4. Jh. v. Chr. (3. Kapitel). Die Literatur des königszeitlichen Israel und Juda wird in den Kontext der aufkommenden Schriftkultur, des Schreiberwesens und epigraphischer Zeugnisse in der Levante eingeordnet. Alttestamentliche Schriften, die sich in ihren Grundbeständen der frühen Königszeit zuordnen lassen, sind nach Schmid: die Jakobsüberlieferungen, die Mose-Exodus-Erzählung, königszeitliche Psalmen (z. B. Ps 2; 18; 21; 45; 72 und 110) und frühe weisheitliche Texte wie Spr 10–29. In der Zeit zwischen dem Untergang des Nordreichs Israel 722 v. Chr. und dem Beginn des babylonischen Exils 587 v. Chr. werden die Anfänge der Schriftprophetie – Kernbestände von Hosea, Amos und Jesaja – verortet sowie die ältesten biblischen Rechtstexte – Bundesbuch (Ex 20–23) und der Kern des Deuteronomiums. Auch wenn die Rekonstruktionen der alttestamentlichen Literaturgeschichte in Details unterschiedlich ausfallen, besteht in der heutigen kritischen Forschung ein Konsens darin, dass »die Zeit des Zweiten Tempels die wichtigste Epoche der Formierung der biblischen Literatur« ist (159): z. B. Priesterschrift, Chronik, prophetische (z. B. Jer; Ez) und deuteronomistische Texte sowie Hiob haben ihre prägende Gestalt in exilisch- und vor allem nachexilischer Zeit erhalten.
Der Abschnitt (4.) über Schriften und Schriftgebrauch im Judentum der hellenistisch-römischen Zeit, 3. bis 1. Jh. v. Chr., umspannt ebenso einen weiten Bogen: von späten Texten des Alten Testaments (wie z. B. Kohelet) über Qumran-Schriften, die Septuaginta, den Samaritanischen Pentateuch bis hin zum Werk Philos von Alexandria. Er macht deutlich, dass die Literatur der Zeit des 2. Tempels nur interdisziplinär erforscht und dargestellt werden kann. Dass unter dem Stichwort »Rewritten Bible«-Literatur so­wohl die Bücher Esra-Nehemia behandelt werden, die Teil des jüdischen und christlichen Kanons geworden sind, als auch das Jubiläenbuch, das außerhalb steht, zeigt das Anliegen der Autoren, die historische Relativität der kanonischen Grenzziehungen deutlich zu machen.
Ein eigener Abschnitt (5.) ist der Verwendung der Schriften des antiken Judentums bzw. der Schriften Israels im entstehenden Christentum des 1. und 2. Jh.s n. Chr. gewidmet. Hier wird versucht, zwischen der Schriftverwendung des historischen Jesus und der christologischen Schriftauslegung zu unterscheiden, die bei Paulus beginnt. Das Wirken Jesu und sein Bezug auf die Schriften Israels sind nach Schröter im Rahmen des Judentums zu verstehen. Bei Auseinandersetzungen – etwa mit den Pharisäern –, die im Neuen Testament oft bewusst polemisch dargestellt werden, geht es um Fragen der angemessenen Schriftauslegung. Die christliche Interpretation der Schriften Israels beginnt zwar im Judentum, aber in der »Überzeugung, dass Gottes Heil durch das Wirken Jesu Christi vermittelt wird und der Glaube an Jesus Christus zur Rettung führt« (285), unterscheidet sie sich von anderen jüdischen Interpretationen.
Das Kapitel (6.) über die Formierung der christlichen Bibel und die Entstehung weiterer Traditionsliteratur im 1. bis 4. Jh. n. Chr. gibt einen Überblick über neutestamentliches Einleitungswissen – auch hier mit dem Ansatz, den Blick über christliche Kanongrenzen hinaus zu werfen. Christliche Autoren knüpfen an jüdische Schriften an und setzen so die Schriftauslegung, die bereits innerhalb der Hebräischen Bibel beginnt, fort. Ein Abschnitt (7.) über die Formierung der jüdischen Bibel und die Entstehung von Mischna und Talmud im 1. bis 6. Jh. n. Chr. setzt mit dem lange variablen Abschluss der »Ketuvim« (»Schriften«) ein und nennt verschiedene Listen von als verbindlich geltenden biblischen Schriften im 1. Jh. n. Chr., etwa bei Josephus. Ein knapper Abschnitt zu Grundlagen jüdischer Traditionsliteratur beschließt den Abschnitt.
Ein Kapitel (8.) über die Wirkungsgeschichte der jüdischen und der christlichen Bibel steht am Ende des Buches: Es vermittelt Beispiele von Bibelübersetzungen in Judentum und Christentum sowie Überlegungen zum Bibelverständnis in den Kirchen des Westens und in der Orthodoxie. Andere Zugänge zur Bibel – wie z. B. feministische oder befreiungstheologische – werden zwar kurz genannt, aber insgesamt ist das Buch ein Plädoyer für einen klassischen historisch-kritischen Zugang zur Bibel. Sofern sich historische Kritik ihrer eigenen Relativität und des hypothetischen Charakters ihrer Rekonstruktionen bewusst ist, hat sie aufklärerische und ethische Funktion: »Sie verhindert auch ein vorschnelles und unreflektiertes Berufen auf die Bibel, das mitunter vor allem die eigenen Sichtweisen und Interessen legitimieren soll« (403). In den abschließenden Beispielen zur Wirkungsgeschichte der Bibel in bildender Kunst, Literatur und Musik kommen sowohl alt- als auch neutestamentliche Motive vor. Darin und insgesamt im Buch gelingt es den Autoren, die alt- und neutestamentlichen Teile auf sinnvolle Art und Weise miteinander zu verschränken.
Ein Anliegen der Autoren ist es, die Grenze zwischen »kanonisch« und »nicht kanonisch« als nicht feststehend darzustellen. Die unterschiedlichen jüdischen und christlichen Kanones haben feste Kernbestände, sind aber an den Rändern immer wieder fließend. Die Entstehung des Christentums aus dem Judentum und die sich fortsetzende Entwicklung beider Religionen werden als historische Prozesse nachgezeichnet. In der Darstellung werden parallele Entwicklungen und Kontinuitäten stärker betont als Auseinandersetzungen und Spannungen. Die interdisziplinäre Zu-sam­menarbeit und Ko-Autorenschaft ist gelungen, die Übergänge zwischen den alt- und neutestamentlichen Teilen gestalten sich ohne g rößere Brüche. Das Buch hat gute Voraussetzungen, zu einem Standardwerk zur Entstehungsgeschichte von jüdischen und christlichen Bibeln zu werden.