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Ausgabe:

Mai/2022

Spalte:

418–420

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Kollmann, Bernd

Titel/Untertitel:

Martin Luthers Bibel. Entstehung – Bedeutung – Wirkung.

Verlag:

Gütersloh u. a.: Gütersloher Verlagshaus (Penguin Random House) 2021. 208 S. m. zahlr. Abb. Geb. EUR 25,00. ISBN 9783579071565.

Rezensent:

Albrecht Beutel

Friedrich Nietzsche, den man schwerlich unter die Luther-Freunde wird rechnen wollen, zollte dem Hauptwerk des Reformators auf hinterlistige Weise Respekt: »Das Meisterwerk der deutschen Prosa«, befand Nietzsche in Jenseits von Gut und Böse (Nr. 247), »ist […] das Meisterwerk ihres grössten Predigers: die Bibel war bisher [!] das beste deutsche Buch. Gegen Luther’s Bibel gehalten ist fast alles Übrige nur ›Literatur‹«. Was sich dabei hinter der unscheinbaren Vokabel »bisher« verbarg, eröffnete Nietzsche am 22. Februar 1884 dem Freund Erwin Rohde im Blick auf sein soeben fertiggestelltes Werk Also sprach Zarathustra: »Es war, nach Luther und Goethe, noch ein dritter Schritt zu thun«. Mag die literarische Selbsteinschätzung des Philosophen auch maßlos hypertroph anmuten, so wird man seiner kulturgeschichtlichen Würdigung der Lutherbibel kaum widersprechen wollen: Tatsächlich, hält der in Siegen lehrende Neutestamentler Bernd Kollmann im Vorwort des anzuzeigenden Buches fest, prägte diese »philologische Meisterleistung […] wie kaum ein anderes Werk die deutsche Sprache und Kultur« (7).
Der üppig bebilderte Prachtband mit seinem atemberaubend günstigen Preis schildert Entstehung, Bedeutung und Wirkung der unter Luthers Namen firmierenden, gleichwohl teilweise aus der Kooperation einer Wittenberger Gelehrtengruppe hervorgegangenen Übersetzung der Heiligen Schrift. Dabei ist es dem Autor höchst eindrücklich gelungen, die Allgemeinverständlichkeit seiner in glänzendes Layout eingebetteten farbenfrohen Erzählung jederzeit auf dem Niveau der einschlägigen Wissenschaftszweige zu halten. Schon das doppelseitige Inhaltsverzeichnis (4 f.) stiftet exquisiten Rezeptionsgenuss: Umrahmt von zwei illustren Bildzeilen, orientiert es feingliedrig über die Titel und Zwischenüberschriften der insgesamt 14 Kapitel (für Kapitel 9, 12 und 14 sind die Seitenangaben fehlerhaft angezeigt).
Die Vorgeschichte der Lutherbibel erhält die ihr gebührende Aufmerksamkeit. So bietet K. zunächst kompetente, bündige Basisinformationen zur Entstehung der christlichen Bibel, zu den als »Kulturgüter ersten Ranges« (33) ausgewiesenen Versionen der Septuaginta und Vulgata, sodann zu den mittelalterlichen Pracht-, Armen- und Historienbibeln sowie den Evangeliaren, wobei hier wie auch sonst beifällig zu vermerken ist, dass die produktionstechnischen und -ästhetischen Umstände ebenso wie die geistesgeschichtlichen und politischen Rahmenbedingungen durchweg organisch in die Darstellung integriert worden sind. Mit der präzisen Inspektion der Gutenbergschen Erfindung des Buchdrucks, der spätmittelalterlichen deutschen und hebräischen Bibeldrucke, des humanistischen Ad fontes-Programms sowie der skandalumwitterten Complutensischen Polyglotte, die der spanische Erzbischof Francisco Jiménez de Cisneros, dieser »Großinquisitor mit humanistischer Ader« (90), initiiert hat, wird dann das unmittelbare Vorfeld des eigentlichen, ab Kapitel 7 bedachten Gegenstandes erreicht.
Sachgemäß setzt K. dabei mit der Schilderung von Luthers Wartburg-Aufenthalt ein, wobei er auch die mittelbaren und un­mittelbaren Anstöße, die den Reformator zur Bibelübersetzung veranlasst haben, berücksichtigt. Eingehend wird sodann die im September 1522 erschienene und darum »Septembertestament« genannte Erstausgabe der NT-Dolmetschung Luthers gewürdigt: hinsichtlich der erbrachten philologischen Leistung, der beigegebenen, die einzelnen Schriften des Neuen Testaments bewertenden Vorreden und Randglossen und der in der Werkstatt Lucas Cranachs erstellten buchkünstlerischen Gestaltung sowie nicht zuletzt auch unter Einbeziehung der »schillernde[n] Welt des Wittenberger Buchdrucks« (110). Ein weiteres Kapitel widmet sich dem komplexen Entstehungsprozess, aus dem die Übersetzung des Alten Testaments hervorging, wobei selbstverständlich auch die Zusammenarbeit Luthers mit dem Wittenberger Hebraisten Matthäus Aurogallus und anderen akademischen Weggefährten angemessene Berücksichtigung findet.
Es mag überraschen, wenn danach eigens in einem gesonderten Kapitel die Übersetzung der Apokryphen in den Blick gefasst wird. Allein hier scheint die Schilderung mit der Wendung, Luther habe die Apokryphen »aufs Abstellgleis geschoben« (139), ein wenig ins Plakative abzugleiten, da doch der Umstand, dass der Reformator diesen biblischen Teil vornehmlich nur aus der lateinischen Vulgata übersetzt hatte, kaum eine programmatische Geringschätzung dieser Schriftengruppe ausdrücken sollte, sondern, wie K. dann auch nüchtern darlegt, vornehmlich dem wettbewerbsökonomischen Druck geschuldet war, den soeben in Worms, Straßburg oder Zürich produzierten deutschen Vollbibeln, welche die schon vorliegenden Teilübersetzungen Luthers durch Übertragungen anderer Reformatoren ergänzten, ein Gesamtwerk aus eigener Hand entgegenzusetzen (vgl. 141). Dass mit der ersten, 1534 vollendeten Gesamtausgabe der Lutherbibel, deren Aufbau und künstlerische Gestaltung anschaulich repräsentiert werden, zwar ein wichtiges Etappenziel erreicht, zugleich aber auch ein fortwährender Selbstrevisionsprozess in Gang gesetzt worden war, sieht sich in einem weiteren Kapitel kenntnisgesättigt entfaltet.
Die letzte thematische Einheit nimmt die Rezeptionsgeschichte der Lutherbibel ins Visier. Dabei findet die durch Hieronymus Emser und Johannes Dietenberger gebahnte Spur der »Katholische[n] Gegenbibeln«, die K. ebenso pointiert wie treffend einer »feindliche[n] Übernahme« (179) bezichtigt, eingehende Aufmerksamkeit, während die Geschichte und Vorgeschichte der 1892 einsetzenden kirchenamtlichen Revisionskoordination, was man verstehen, aber vielleicht auch bedauern kann, nur noch in leicht rhapsodischer Weise bedacht wird. Allerdings ist die Frage, wie es im deutschen Sprachraum zwischen dem 16. und 19. Jh. zu derart vielen unterschiedlichen Textversionen der Lutherbibel kommen konnte, einstweilen noch nicht geklärt, und die Ausgabe von 2017 markiert zu Recht den aktuellen Schlusspunkt dieses eindrück-lichen diachronen Überblicks. Übrigens hat auch das dramatisch missglückte »NT 1975«, das der unlängst verstorbene Praktische Theologe Dietrich Rössler gegenüber dem Rezensenten einmal mit dem Bonmot quittiert hatte, dieses Buch gehöre nicht auf die Kanzel, sondern in den Ofen, seine gerechte kritische Beurteilung gefunden (vgl. 197 f.).
Zwar verzichtet das vorliegende Werk, das einem breiten Rezipientenkreis zugedacht ist und zugewünscht sei, durchweg auf gelehrte Anmerkungen, doch mag das ausführliche, der Kapitelgliederung folgende Literaturverzeichnis, in dem manche Experten vielleicht manchen Titel vermissen werden, punktuell oder großflächig zu vertiefender Nacharbeit anregen. Auch die ans Ende gestellte »Chronologie« bietet nützliches Rekapitulationspotential.
Möge dieser außergewöhnlich qualitätsvolle Text- und Bildband dem interessierten Publikum ein lehrreiches Bildungsvergnügen eröffnen, den Fachleuten zur Überprüfung und Auffrischung ihrer Wissensbestände verhelfen und dergestalt allenthalben die respektvolle Aufmerksamkeit finden, die er verdient.