Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

April/2022

Spalte:

388–389

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Roth, Ursula, u. Anne Gilly[Hgg.]

Titel/Untertitel:

Die religiöse Positionierung der Dinge. Zur Materialität und Performativität religiöser Praxis.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2021. 250 S. Kart. EUR 40,00. ISBN 9783170364301.

Rezensent:

Ralph Kunz

Der material turn ist in der Praktischen Theologie angekommen. Was aber ist Material? Nicht alles, was der Fall ist, ist Ding, wenn auch alles zum Gegenstand erklärt werden kann. Und nicht alles, was stofflich greifbar ist, ist Zeugs, wiewohl auch bloßes Zeugs bedeutsam werden kann. Religiöse Praxis hat mit alldem zu tun, auch mit der Frage, wie Dinge sich in Symbole verwandeln. Denn Dinge, die religiöse Verwendung finden, werden nicht nur ge­braucht, sondern auch genossen. Im vorliegenden Band heißt diese Verwendung Positionierung. Mit der räumlichen Metapher wird der material turn in den spatial turn hineingeschoben. Mit dem Hinweis auf die Bewegung und Stellung der Dinge und das Be­wegt- und Hingestelltwerden durch die Dinge im Raum rückt auch der performative turn ins Blickfeld. Es sind so viele turns, dass es einem richtiggehend schwindlig werden könnte.
Was Ethnologie und Soziologie angezettelt haben und was in der Phänomenologie diskutiert, in der Theaterwissenschaft aufgegriffen und in Ritualtheorien übernommen wurde, kann mit resonanztheoretischen Überlegungen verknüpft, exegetisch validiert oder sakramentstheologisch verifiziert werden. Dabei geht es im­mer (auch) um die Positionierung der Dinge: das Stück Brot auf dem Altar, den Weihnachtsschmuck im Kirchenraum, die Tücher auf dem Kopf, die Engel im Rucksack oder die Kreuze am Straßenrand.
Der Band bietet eine kunterbunte Sammlung an Beiträgen, die in unterschiedlichen Flughöhen das Thema auf verschiedenen Bahnen verfolgen. Positionierung, Materialität und Performativität bilden den dreiuneinigen Fluchtpunkt, auf den alles gebündelt und wieder zerlegt wird. Die Lektüre ist anspruchsvoll. Wer sich mit einfachen Dingen beschäftigt, sieht sich mit dem Paradox und der Crux phänomenologischer Ansätze konfrontiert: Die Beschreibung des Einfachen und Alltäglichen bringt einen großen Theorieaufwand mit sich. Um etwas von der Lektüre zu haben und die Orientierung nicht zu verlieren, ist Hilfe bei der Entflechtung der verflochtenen Diskursstränge gefragt.
Die ersten drei Artikel leisten diesen Dienst. Vielleicht hätten die Herausgeberinnen gut daran getan, den einführenden Beitrag von Sonja Beckmayer »Materielle Kulturforschung und Praktische Theologie« (37–46) und damit die weniger elaborierte Unterscheidung von Ding, Sache, Zeug und Artefakt (39) voranzustellen. Begriffsklärungen sind hilfreich. Hans Peter Hahn macht in seinem einführenden Artikel »Materialität zwischen Alltag und Religion« (13–26) dasselbe, nur sehr viel fundierter. Seine These – er nimmt hier Bezug auf Heidegger – bringt ein Paradox, das in beinahe allen Beiträgen aufscheint, treffend auf den Punkt: »Ihre spezifische Bedeutung erhalten die geringen Dinge, gerade weil es unmöglich ist, ihnen eine stabile Position in der gesellschaftlichen oder kulturellen Ordnung zu geben. Es sind beiläufige Dinge, die in vielen Situationen ohne eine explizite Rollenzuweisung auskommen, entweder, weil ihr Nutzen selbstverständlich erscheint, oder aber, weil ihnen kein spezifischer Wert zuzukommen scheint.« (24)
Voraussetzungsreich ist auch der Beitrag von Torsten Cress. Ausgehend von der semiotischen Offenheit der Dinge fragt C., wie es kommt, dass jedes beliebige Objekt einen sakralen Status erhalten kann. Er antwortet mit Bezug auf Schatzki (Social Practices) praktikentheoretisch und kommt auf »Felder der Intelligibilität, in die ein jeweiliges Objekt gestellt ist« (36) zu sprechen. Was durch Verwendung Bedeutung bekommt, ist immer in Handlungszusammenhänge hineingestellt.
Das ist sehr abstrakt und entsprechend vielfältig ist die Konkretisierung im zweiten Teil des Bandes, der mit »Praxisfelder« (47–228) überschrieben ist. Möglicherweise spiegelt das bunte Sammelsurium der versammelten Beiträge die Genese der Publikation? Die Idee dafür geht auf ein Symposium anlässlich des 70. Geburtstags von Hans-Günter Heimbrock zurück, hat aber auch eine Verbindung zu dem vom LOEWE-Programm des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst geförderten Forschungsschwerpunkt »Religiöse Positionierung« an den Universitäten Frankfurt a. M. und Gießen. Der Wunsch des Rezensenten nach ein wenig mehr Ordnung, das in dieser denkbar weiten thematischen Anlage in den Sinn kommen kann, bleibt unerfüllt. Die Schublade Praxisfelder ist ein wenig zu groß. Dem L esevergnügen, den einige Beiträge bereiten, tut es keinen Ab­bruch.
Anregend ist die Spurensuche von Melanie Köhlmoos in Sachen Bundeslade (49–60), bedenkenswert die Kritik der christlichen Diffamierung fremdreligiöser Kulte von Stefan Alkier (61–73). Was in diesem schönen Durcheinander gefällt oder auffällt, ist bei den vielen Dingen, die den Leserinnen und Lesern feilgeboten werden, mehr oder weniger Interessens- und Geschmackssache. Der Rezensent hat viel profitiert von Ursula Roths erhellenden Überlegungen zur Materialität und Performativität des Abendmahls (90–103). Einen besonderen Reiz entfalten die drei Texte, die sich mit dem adventlich-weihnachtlichen Festkreis auseinandersetzen. Einen deutlich spürbaren Willen zur theoretischen Einbettung zeigt Silke Leonhard, die eine »Religionspädagogik im Horizont von Kompetenz, Performanz und Resonanz« (166–180) in den Horizont der Materialität hineinstellt. Klug, klärend und inspirierend.
Und das Fazit? Man ist versucht zu sagen: Jeder macht sein Zeugs, man kommt zu keinem Schluss und das ist gut so. Außer vielleicht der Einsicht: Wer verstehen will, warum Dinge in den »Niederungen des Alltags« religiöse Bedeutung erlangen, ist mit Rücksicht auf die vielen Turns, die beim Aufstieg zu theoretischen Höhen zu bewältigen sind, besser schwindelfrei.