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Ausgabe:

April/2022

Spalte:

384–386

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Hauenstein, Hans Ulrich

Titel/Untertitel:

Verlorene Seelen? Über die Gegenwart der Toten.

Verlag:

Kröning: Roland Asanger Verlag 2021. 272 S. m. Abb. Geb. EUR 34,50. ISBN 9783893346462.

Rezensent:

Kristian Fechtner

Der Schweizer reformierte Pfarrer Hans Ulrich Hauenstein hat eine ungewöhnliche Studie vorgelegt, die dem Nachleben von Verstorbenen auf die Spur kommen möchte. Sie setzt bei der Empfindung von Menschen an, für die »ihre« Toten – der früh verstorbene Vater, die Lebensgefährtin, von der man Abschied nehmen musste, das eigene Kind, das man zu Grabe trug – auch nach deren Tod lebensweltlich präsent sind. Dabei belässt es H. nicht bei der psychologischen Auskunft, dass ein Verstorbener in der Erinnerung der Lebenden als inneres Bild weiter existiert; eine Vorstellung, die sich heute im beliebten Sinnspruch in Todesanzeigen widerspiegelt: »Wer im Gedächtnis seiner Lieben lebt, der ist nicht tot, er ist nur fern.« Anders als in dieser Wendung geht es H. nicht um eine Empfindung der Ferne von Verstorbenen, sondern um Erfahrungen der Nähe zu den Toten. Und im Überschritt zu einer Anschauung, welche die Verstorbene im Trauerprozess innerpsychisch repräsentiert sieht, will er die Präsenz eines Toten auch als soziale Wirklichkeit begreifen: »Tote sind für Lebende, zu denen sie in einem lebensweltlichen Bezug standen und stehen, auf vielfältige, empirisch nachweisbare Weise gegenwärtig und anwesend, und diese Präsenz lässt sich phänomenologisch dicht beschreiben. Sie ist überdies verknüpft mit dem Status der Toten als Subjekte« (13). Als Subjekte, so die These H.s, behalten die Verstorbenen auch ihre Identität und sogar ihre Selbstwirksamkeit.
Das Buch mutet seinen Lesern etwas zu, es verlangt ihnen einiges ab. Das liegt nicht nur an der beunruhigenden Themenstellung, sondern auch an der Darstellungs- und Argumentationsweise des Buches. H. entfaltet seine These nicht in einem linearen Gedankengang, sondern verschränkt dichte Beschreibungen im Erfahrungsfeld, begriffliche Erwägungen, Befunde empirischer Studien und Einsichten unterschiedlicher Wissenschaften mit literarischen Vignetten und persönlichen Bemerkungen. Manches steht unausgeglichen nebeneinander, es gibt etliche lose Fäden. Nach einleitenden Bemerkungen zur Grundthese, dass die »Ge-genwart Verstorbener […] den Bereich der Emotionen« bei Weitem übersteigt und sich ihre Präsenz »empirisch beschreiben« lässt (6), gliedert sich das Buch in drei Abschnitte:
Im ersten Abschnitt geht es um »Die Toten« als Anwesende. Ein Mensch, so die Beobachtung, wird als Körper auch nach seinem Tod noch im Leichnam repräsentiert und wird in den Bestattungsriten nicht nur als Sache und Element, sondern auch als »Person« (36) behandelt. Selbst wo er kremiert wird, wird die Asche als »Nachlass der verstorbenen Person« (63) in der Anschauung und in den Handlungen (re)personalisiert. Auch in den Hinterlassenschaften wie Kleidern oder anderen persönlichen Utensilien bleibt die »Persönlichkeit, Präsenz und Identität der Toten« gegenwärtig. Fotografische Porträts zeigen nicht nur, wie die Verstorbene zu Lebzeiten ausgesehen hat, in ihnen blickt sie den Betrachter in actu an (88). Die Bestattungsorte, die Friedhöfe sind ein eigener sozialer Raum der Toten, der mit »Zeichen der persönlichen und sozialen Identität der Verstorbenen« (103) ausgestattet wird. Sie sind, wie Studien zu erkennen geben, auch Orte, an denen Angehörige mit ihren Toten kommunizieren. All diese Phänomene sind – darauf kommt es H. an – im empirischen Sinne als soziale Erfahrungen und kommunikative Erscheinungen wahr- und ernst zu nehmen.
Weil sich die »Präsenz und Identität der Toten […] nicht von deren sozialen Bezügen zu den Weiterlebenden trennen (lässt)« (121), gilt der zweite Abschnitt der Beziehung von »Toten und Lebenden«. Diese ist für die Wirklichkeit, in der Verstorbene in ihrer Identität und als Subjekte präsent sind, konstitutiv. In neueren Trauertheorien und -studien wird darauf abgehoben, dass Trauer ein Beziehungsgeschehen ist und bleibt, in dem es nicht um Ablösung von den Verstorbenen geht, sondern um Bindungen, die sich weiterentwickeln (continuing bonds). Mit dieser Wendung, die auch in der gegenwärtigen poimenischen Diskussion eine Rolle spielt, wird die häufiger zu beobachtende anhaltende Kommunikation oder sogar Interaktion mit den Toten entpathologisiert. Un­voreingenommen und irritierend nimmt H. auch das Feld gegenwärtiger spiritistischer Praktiken in den Blick und verweist auf die digitalen Welten der social media, in denen Tote (etwa bei Facebook) als Teil einer virtuellen Gemeinschaft präsent bleiben. Er resümiert: »Tote sind das Gegenüber in einer Vielzahl non-verbaler und verbaler Interaktionen, in denen sie als Subjekte wahrgenommen werden, in denen ihre Präsenz fortlaufend unterstellt, erlebt und weitergeführt wird und in denen sie ihre Identität sowohl bewahren wie verändern.« (173)
Den Referenzrahmen von H.s Erkundungen und Überlegungen bilden thanatologische Beiträge und Studien insbesondere in den anglo-amerikanischen Kultur- und Sozialwissenschaften sowie Subjekt- und Identitätstheorien, die auf das Subjektsein nicht als Eigenschaft eines Individuums abheben, sondern dieses im Gefüge sozialer Beziehungen, mithin als Moment von Intersubjektivität verorten. Tote sind, so das Leitmotiv, sozial gegenwärtig und anwesend. So gilt der dritte Abschnitt des Buches den »Begriffen und Konzepten«, die eine solche Sichtweise ermöglichen. Für die Vorstellung, dass das Ereignis des Todes nicht zugleich das Ende des Subjektes darstellt, sondern dessen Identität und Präsenz auch über den Tod hinausreicht, steht für H. der Begriff der Seele. So wendet er sich nach vielen Anläufen und Durchgängen in sozial- und kulturwissenschaftlichen Gefilden abschließend der theologischen Diskussion zu, in der er eine Reihe von dogmatischen Beiträgen namhaft macht, die über die klassisch gewordene sogenannte »Ganztod-Theologie« hinausführen. Während diese jede »postmortale Existenz Normalsterblicher« (211) bestreitet, bemühen sich jüngere Arbeiten – begrifflich vorsichtig tastend und fragend – um eine Brücke zwischen Leben und Leben nach dem Tod, so dass hier durch einen neuformatierten Seelenbegriff sich eine theologische »Tür zu einem näheren Verständnis eines innerweltlichen Nachlebens« (226) öffne.
Die Beobachtungen und Überlegungen, die H. zur Gegenwart der Toten vorträgt, sind anregend, aufregend und herausfordernd. Sie begeben sich in ein Feld, das praktisch-theologisch bislang eher gemieden wurde. Hans-Martin Gutmann hatte einen ersten markanten Impuls gesetzt (Mit den Toten leben – eine evangelische Perspektive, 2002, 22011), einzelne poimenische Arbeiten haben die Spur aufgenommen. H. wagt sich noch etwas weiter vor, wobei dann doch seine immer wieder pointiert vorgetragene These in seinen Formulierungen schillert: Welchen (Wirklichkeits-)Status will er der Präsenz der Toten in den Erfahrungen der Lebenden einräumen? Und weitergefragt: Ist die Vorstellung einer (Real-)Präsenz der Toten in der Lebenswelt der Lebenden, die es als Empfindung und Erfahrung gewiss gibt, nicht in erster Linie ein Schrecken der Seele, in dem die Untoten ruhelos und die Lebenden verstört bleiben? Dies würde dann doch dafürsprechen, dass die Rede vom Tod als definitive und schmerzhafte Scheidelinie zwischen Lebenden und Toten für beide Seiten heilsam ist.