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Ausgabe:

April/2022

Spalte:

382–384

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Greifenstein, Johannes

Titel/Untertitel:

Vom Text zur Predigt. Ein Beitrag zur Praxistheorie homiletischer Bibelauslegung.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2021. X, 636 S. = Praktische Theologie in Geschichte und Gegenwart, 34. Kart. EUR 109,00. ISBN 9783161608612.

Rezensent:

Michael Meyer-Blanck

Die gegenwärtige Homiletik bewegt sich mit Fragen der Predigtgestaltung und Rhetorik, teilweise auch mit empirischen Untersuchungen, vorwiegend im Bereich der seit Alexander Schweizer als »formal« bezeichneten Aspekte der Disziplin. Aber auch die »prinzipielle« Homiletik findet in den Lehrbüchern und Grundrissen weiterhin erhöhte Aufmerksamkeit, während die materiale Homiletik eher in den Hintergrund tritt. Demgegenüber hat die vorliegende Studie von Johannes Greifenstein, die im Sommer 2019 in München als praktisch-theologische Habilitationsschrift angenommen wurde, etwas im besten Sinne Unzeitgemäßes. Der – präzise den Inhalt anzeigende – Titel des Buches erinnert an die Diskussionen in der Mitte des letzten Jahrhunderts, als die evangelische Theologie insgesamt unter dem Vorzeichen der Exegese und der hermeneutischen Theologie stand.
Die Lektüre des Buches macht deutlich, dass das Thema Bibel und Predigt einfach einmal wieder an der Reihe war. Aufgeworfen und beantwortet werden die für die evangelische Kirche zentralen Fragen: Was wird gepredigt? Wie verhält sich das zur Bibel? Was und wie soll mit der Bibel gepredigt werden?
Die Untersuchung ist systematisch und historisch angelegt. Man kann wohl mit Fug und Recht feststellen, dass G. so ziemlich alles, was irgendjemand irgendwann im deutschen Sprachraum zum Thema geschrieben hat, gesichtet, kommentiert, eingeordnet und bewertet hat. Insbesondere in der Homiletik des 19. Jh.s stellt G. eine enorme Belesenheit unter Beweis. Immer wieder begegnen u. a. Heinrich Bassermann, Theodor Christlieb, Karl R. Hagenbach, Theodosius Harnack, Paul Kleinert, Theodor Kliefoth, Christian Palmer, Alexander Schweizer und Franz Ludwig Steinmeyer. Dabei stellt man fest, dass vieles als neu Erscheinende bereits in der Theo riegeschichte des 19. Jh.s gedacht wurde. Das gilt etwa für die Schlüsselrolle der Person des Predigers (dazu vgl. das schöne Horaz-Zitat »si vis me flere, dolendum est primum ipsi tibi«, 455) ebenso wie für die produktive Fremdheit des biblischen Textes.
Der historische und systematische Zugriff auf die homiletische Bibelauslegung erfolgt in zwei Teilen mit acht etwa gleichlangen Kapiteln. Im ersten Teil (37–286) werden die vier Kategorien »Bibel«, »Text«, »Auslegung« und »Bibelauslegung« bedacht, im zweiten Teil (287–570) dann die Praxisformen »Bibelauslegung im Gottesdienst«, »Bibelauslegung als Vergegenwärtigung«, »Bibelauslegung und Religion« sowie »Bibelauslegung und Predigtgestaltung«. Hinzu kommen eine problemorientierte Einleitung (1–35) und ein ge­raffter Rück- und Ausblick (571–582) sowie Literatur (583–629), Sach- und Personenregister (631–636).
Neben der fachlichen und fachgeschichtlichen Belesenheit ist ein zweites Merkmal des Buches der durchgehende Praxisbezug. Immer wieder streut G. homiletische Situationen ein, anhand derer er Entscheidungen bei der Predigtvorbereitung vor Augen führt. Die Beispiele sind weder aus der Literatur noch Daten aus empirischen Erhebungen, sondern offensichtlich der eigenen und von anderen mitgeteilten Erfahrung entnommen. Die jeweiligen theoretischen Fragestellungen werden anhand dieser homiletischen Situationen entwickelt oder vertieft. Da G. durchgängig von der geltenden Perikopenordnung (in der Regel der neuen von 2018) ausgeht, lohnen die Beispiele das Nachschlagen und die Auseinandersetzung. Umso mehr vermisst man in dem Band ein Perikopen- bzw. Bibelstellenregister.
Ein drittes Merkmal ist G.s durchgehendes systematisches Interesse. Für die Aufgabe der Bibelauslegung ist »nicht eine der theologischen Disziplinen alleine und eindeutig zuständig« (477). Aus diesem Grund macht G. den Vorschlag, auf dem Weg der Groß- und Kleinschreibung zwischen der »Systematischen Theologie« (als Disziplinname) und der »systematischen Theologie« (als Dimension aller Disziplinen) zu unterscheiden (478). Man wird G. gern zustimmen: Die systematische und gegenwartsbezogene Auslegung der Bibel kann weder der Homiletik noch der Exegese oder der Dogmatik allein überlassen werden. Es kommt vielmehr auf das »systematische« (nicht nur beiläufig-zufällige) Zusammenspiel aller Disziplinen an, negativ formuliert: Dogmatik ohne Bibel, Exegese ohne Predigtlehre und Predigt ohne Exegese und Dogmatik kommen nicht weiter als an die Grenzen ihres je eigenen Theoriegerüstes. So ist auch die Frage nach der homiletischen Kritik der Exegese mindestens zu erwägen (225).
Was das Verhältnis von Altem und Neuem Testament angeht, rät G. zu einem Abschied von einer prinzipiellen Zuordnung »zu­gunsten einer Wahrnehmung des homiletischen Einzelfalls« (90). Denkt man an die klassischen Modelle wie »Verheißung und Erfüllung«, wird man zustimmen und zugleich den hohen theoretischen Anspruch an die Predigtvorbereitung realisieren. Prägnant heißt es: »Die Kirche ist, was sie mit dem Kanon tut.« (113)
Es ist also notwendig, die systematische Bedeutung der Exegese für die homiletische Praxis unter den heutigen Umständen ein-gehend zu thematisieren, wie das in dem einleitenden Abschnitt »Geschichte und Offenbarung« (62–70) geschieht. Hier wird vor allem hinter die verbreitete Rede von der »Fremdheit« der Bibel ein systematisches Fragezeichen gesetzt (Fremdheit drohe umzuschlagen in »Abständigkeit ohne Reiz«, 69; vgl. 544); mehrfach spricht sich G. gegen die Kritik an der »metaskripturalen« Hermeneutik aus (100 ff.165). Bemerkenswert ist aber auch, dass er die Vorbehalte der Wort-Gottes-Theologie gegenüber der geisteswissenschaftlichen Hermeneutik für »keinesfalls erledigt« hält (213).
Sehr erfreulich ist es, dass der zweite Teil der Untersuchung (»Formen der Praxis«) mit einem ausführlichen Kapitel zur Bibelauslegung im Gottesdienst einsetzt (289–371). Über diesen Punkt hat die Homiletik verschiedenster Epochen und theologischer Richtungen grandios hinweggesehen und damit der Wirklichkeit nur unzureichend Rechnung getragen. Treffend heißt es: »Eine Predigt geht nicht auf in ihrem Bezug auf einen Text, sondern ist Teil einer […] Sonntags- oder zumal Festtagskultur.« (356)
Auch die – in letzter Zeit nahezu unisono gescholtene – »Skopusauslegung« wird hermeneutisch teilweise rehabilitiert (393–403). Es gehe um eine Entscheidung, was und in welcher Absicht gepredigt wird: Ein Skopus ist notwendig für die Predigt, ohne dass deswegen der Bibeltext enggeführt werden muss (400 f.); denn wer »meint, er habe genau verstanden, was einem Autor biblischer Texte mit diesem Text als Aussageabsicht vor Augen stand, hat diesen Text in formaler Sicht bereits missverstanden« (405). Die biblische Predigt ist für G. nicht notwendig die dem Bibeltext formal folgende; vielmehr votiert er für die thematische Predigt, »die als Rede auf etwas hinaus will« (522, dort kursiv).
Insgesamt markiert die Arbeit transdisziplinären Gesprächs-bedarf. Die zunehmende historische Ausdifferenzierung der alt- und neutestamentlichen Wissenschaft hat dazu geführt, dass die Exegeten Fachleute für immer speziellere historische Gegenstände geworden sind, wodurch das im eigentlichen Sinne theologische Interesse kaum gefördert wird. Immer neu ist darum die Frage zu stellen, welchen systematischen Sinn der sensus historicus für Glaube und Predigt hat und wie sich die im Kirchenjahr dargestellten kirchlichen Lehrgehalte (Inkarnation, Christologie und Pneumatologie) zu den Anstrengungen der Biblischen Theologie verhalten. Folgt man der Logik von G.s Untersuchung, dann sind die materiale Homiletik und die Bibelwissenschaften noch stärker aufeinander zu beziehen. Das Christentum rekurriert nun einmal auf ein historisches Ursprungsgeschehen. Zur systematischen Vertiefung des Historischen hätte es sich auch angeboten, das von Hans-Joachim Iwand und anderen seinerzeit entwickelte Konzept der »homiletischen Auslegung« als einer Gattung der Predigtvorbereitungsliteratur kritisch zu bedenken (G. nimmt ausschließlich Be­zug auf die »Predigtstudien«, nicht auf die »Göttinger Predigtmeditationen«).
Fazit: Die Fülle der Referenzen, der genauen Differenzierungen und subtilen Interpretationen G.s ist mit diesen Bemerkungen nur angedeutet. Man wird G.s Buch, das auch gut lektoriert und korrigiert ist, als Markstein der materialen Homiletik künftig immer wieder heranziehen.