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Ausgabe:

April/2022

Spalte:

380–382

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Preisler, Karoline M.

Titel/Untertitel:

Demokratie aushalten!Über das Streiten in der Empörungsgesellschaft.

Verlag:

Stuttgart: S. Hirzel Verlag 2021. 156 S. Kart. EUR 18,00. ISBN 9783777629445.

Rezensent:

Ingolf U. Dalferth

Die in der DDR aufgewachsene Juristin Karoline M. Preisler verknüpft ihre Erfahrungen als schwer an COVID-19 Erkrankte mit ihren bedrückenden Erfahrungen im Querdenkermilieu. Die Narben, die die SED-Diktatur bei ihr hinterlassen hat, machen sie be­sonders sensibel für die Attacken auf die liberale Demokratie, die von der Protestbewegung gegen eine angebliche Diktatur in der Bundesrepublik Deutschland ausgehen. Sie sieht richtig, dass die öffentlichen Debatten in Deutschland »nicht vom besten Argument bestimmt werden, sondern von der größtmöglichen Empörung« (18). Dem versucht sie entgegenzuwirken, nicht, indem sie energisch dagegenhält, wie das Sahra Wagenknecht (Die Selbstgerechten, 2021) kürzlich von ganz anderer Position aus getan hat, sondern indem sie die aufgeheizten Debatten argumentativ abzukühlen versucht. Sie ist überzeugt: Die »nuancenreiche Betrachtung und die breite Debatte sind der Grundstein für einen Ausstieg aus der Empörungsgesellschaft« (46).
Nach kurzer Einleitung (9–18) setzt sie sich in neun unterschiedlich langen Kapiteln mit den Themen »Demokratie im Deutschland des 21. Jahrhunderts« (19–46), »Demokratie und Infektionsschutz« (47–72), »Demokratie und Kirche« (73–87), »Demokratie und Umwelt« (88–104), »Demokratie und Migration« (105–112), »Demokratie und Familie« (113–123), »Demokratie und Medien« (124–130), »Demokratie und Sprache« (131–142) und »Plädoyer für eine gesunde Streitkultur« (143–148) auseinander. In den ersten beiden Kapiteln, etwa der H älfte des Buches, geht es um gegenwärtige Herausforderungen und Gefährdungen der Demokratie in Deutschland mit einem Schwerpunkt auf den Grundrechtsfragen im Streit um den Infektionsschutz in der Corona-Krise. Die folgenden knapperen Kapitel sind aufschlussreicher, um die Sicht- und Denkweise der Vfn. kennenzulernen. Durchweg argumentiert sie erfahrungsbasiert als persönlich betroffene Bürgerin, der daran liegt, die Errungenschaften der deutschen Demokratie nicht wieder zu verspielen. Und sie schreibt als Christin, wie sie ausdrücklich betont (73 ff.).
Das nicht für Fachleute geschriebene Buch ist ein lesenswerter Beitrag zur gegenwärtigen Demokratiedebatte in Deutschland. Die Vfn. stellt unterschiedliche Positionen klar dar und vertritt deutlich eine eigene Meinung, und nicht immer ist es die Mehrheitsmeinung. Mit Verweis auf ihre eigene Lebenserfahrung hält sie etwa die Kirchen in Deutschland »für einen essenziellen Teil unserer lebendigen Demokratie« (76). »Laizismus, also das Prinzip der konsequenten Trennung von Staat und Religion, in unserem Fall der christlichen, würde unsere Demokratie von den Wurzeln ihrer Werte abtrennen.« (83) Deutschland habe »einen guten Mittelweg gefunden« (83). Dass immer weniger Menschen in Deutschland diese Überzeugung teilen, wird in den kommenden Jahren noch manchen Anlass für Auseinandersetzungen geben.
Die Bemühung um die Vermeidung der Extreme und die Suche nach einem Mittelweg kennzeichnen durchweg ihr Argumentieren. Zu Recht betont sie, dass Sprache fair sein müsse, weil »alle Menschen den Anspruch auf eine Sprache« haben, »die sie nicht ausschließt.« (133) Für sich selbst weist sie den Genderkauderwelsch von »OpferInnen«, »MenschInnen, KinderInnen und Gei- selInnen« ebenso zurück wie die Gendersternchen- oder Un­terstrichpraxis, aber sie vermeidet es, Sprachschändung als das zu benennen, was sie ist. Stattdessen empfiehlt sie, aus dem emo-tionsbestimmten Gegeneinander herauszutreten und »Sprache als Mittel der Wertschätzung und des Austausches zu verwenden« (137). Sprachgewalt führe zur Destabilisierung der Demokratie, und das gälte es zu verhindern (142).
Ihr Versuch, den Dialog über strittige Themen in Gang zu halten, ist zu würdigen, auch wenn sie den Gegensatzparteien manchmal beinahe zu weit entgegenkommt. Ihre Stärke ist es, immer wieder auf der Grundlage eigener Erfahrung in der ersten Person zu argumentieren. Das macht ihr Buch zugänglich und leicht zu lesen. Doch der Stilwechsel von der dritten zur ersten Person ist nicht nur ein Gewinn. Er legt nahe, ihr andere Erfahrungen ebenfalls in der ersten Person entgegenzustellen. Extreme lassen sich so nicht vermeiden. Meinung steht dann gegen Meinung, Erfahrung gegen Erfahrung, und das vermittelnde »weder so, noch so, sondern so« führt auch nicht immer weiter. Die Überlegungen der Vfn. sind immer dort am stärksten, wo sie – oft im Anschluss an andere – nicht nur das ausführt, was sie für richtig hält, sondern kritische Diagnosen und Argumente bietet, über die man streiten kann. Das aber tut sie durchweg, und deshalb ist ihr engagiertes Buch auch für andere nicht nur als Erfahrungsbericht lesenswert.