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Ausgabe:

April/2022

Spalte:

376–378

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Hardecker, Georg

Titel/Untertitel:

Bildung – Eindruck und Ausdruck der Religion. Eine systematische Analyse von Schleiermachers Bildungsverständnis aus fundamentalethischer Perspektive.

Verlag:

Tü­bingen: Mohr Siebeck 2021. XII, 287 S. = Dogmatik in der Moderne, 33. Kart. EUR 74,00. ISBN 9783161597480.

Rezensent:

Folkart Wittekind

Das Buch ist als Dissertation in Tübingen entstanden, angeregt und wesentlich beeinflusst durch die Theologie und die Schleiermacher-Deutung von Eilert Herms. Es wurde 2017 durch Gutachten von Elisabeth Gräb-Schmidt und Christoph Schwöbel als Promotionsleistung anerkannt. Georg Hardecker will mit Hermsschen Ideen nicht nur (den ganzen) Schleiermacher, sondern die ganze Welt (bzw. die Wirklichkeit im Ganzen) erklären. Und er will dabei zeigen, dass aller menschlichen Wirklichkeitsdeutung, wenn sie An­spruch auf Wahrheit erhebt, letztlich immer Religion zu­grunde liegen muss. Damit ließe sich, so seine Ursprungsvermutung, ein spezifisch protestantisches Schul- und Bildungskonzept ableiten.
Die zehn Kapitel sind (neben dem einleitenden ersten und dem zusammenfassenden zehnten) in zwei Teile gegliedert, wovon die Kapitel 2–5 die Grundlegung einer Ontologie, Anthropologie und Erkenntnistheorie zusammenführenden Wissenschaftstheorie bie­ten, während von den umfangreicheren Kapiteln des zweiten Teils nach einer kurzen Einführung (6) je eins der Kulturtheorie Schleiermachers anhand seiner »Ethik« (7), der individual-anthropologischen Grundlegung anhand der »Pädagogik« (und »Psychologie«) (8) sowie schließlich den Unterrichts- und Bildungseinrichtungen anhand von Schleiermachers Pädagogik und seinen Vorschlägen zum Religionsunterricht (9) gewidmet ist.
In der Einleitung gibt H. über sein Vorgehen Auskunft. Er lehnt kulturgeschichtliche, theoriehistorische und werkgenetische In­terpretation ab zugunsten eines systematischen Deutungsanspruchs, der den Bildungsbegriff in einer fundamentalen Weise letztbegründet, nämlich durch seine Verlagerung in das aller Wirklichkeitsauffassung des Menschen zugrundeliegende Sein bzw. Seinsverständnis. Dies ist der Erkenntnispunkt, auf den die Dissertation hinarbeitet und von dem aus sie ihre gedankliche Überlegenheit gegenüber allen (zahlreichen) bisherigen Bemühungen um Schleiermachers Bildungsbegriff behauptet.
In der Durchführung beginnt H. mit der ontologischen Bedeutung von Bildung, insofern im Sein selbst (das es wiederum nur in Form von Seiendem »gibt«) ein Werden zu dem wahren Sein hin (das dann wohl als naturhafte Bestimmung des einzelnen Seienden zu denken ist) behauptet wird. Alles Seiende kann auch »ungebildet« existieren, wenn es im (oder vom, das bleibt unklar) »Korridor« (vgl. z. B. 123) seiner Möglichkeiten abweicht. Konstitutions- und Reflexionsprobleme werden durch den die Arbeit durchziehen-den Grundbegriff fundamentalen »Bezogenseins« abgewiesen. (Als Beispiel S. 138: Hier übersetzt H. Schleiermachers Rede vom »ur-sprünglichen Geistiggesetztsein der Natur in der Vernunft«: »Die Vernunft ist ursprünglich bezogen auf Natur.«) Daran anschließend wird das Gefühl des Menschen als seine Zugangsweise zu diesem auch ihn beherrschenden Prozess analysiert.
H. nimmt hier seine Erörterung des Gefühlsbegriffs ebenfalls aus der Ethik (in der von Braun gebotenen letzten Bearbeitung, die Ausgabe wird unter dem unaufgelösten Kürzel WA zitiert) und nicht aus der Glaubenslehre, womit der Zusammenhang mit der behaupteten Ontologie der Ethik gewahrt wird. Mit der Stufung der Gefühlsbegriffe wird Religion als umfassende Repräsentanz des ontologischen Bezogenseins und der bereits in ihm teleologisch-essentialistisch enthaltenen Bildung (vgl. dazu Anm. S. 123) verstanden. Religion wird zum Grundbegriff wahrer Reflexion des Menschseins. Gebildetes (religiöses) Gefühl ist Repräsentanz dessen, dass der Mensch die Wahrheit des Menschseins – seine Bestimmung – wahrnehmen kann, und es ist zugleich Ausdruck dafür, dass der Mensch sich in seinem Leben danach richtet. (Diese Doppelheit ist mit dem Titel des Buches gemeint). Die Schleiermachersche Grundlegung des Systems wird so von vornherein mit empirisch-phänomenologischen Einmischungen gelesen, die eine Beurteilung der geleisteten Rekonstruktion schwierig machen. Dies setzt sich auch da fort, wo H. die »ursprüngliche Sozialität des religiösen Gefühls« beschreibt. Schließlich wird in einem kurzen Ausblick auf die Reden und die Glaubenslehre konstatiert, auch dort sei das von H. gezeigte Strukturmodell immer schon gemeint gewesen. Die Rede vom Gefühl als »Möglichkeitsbedingung« (88) für die Wahrnehmung von Sein und Bildung ist aber nur pseudokritisch, denn die Theorie selbst wird über ihre Rede- und Wahrnehmungsbedingungen nicht aufgeklärt – woher weiß die Theorie (bzw. H. als Theoretiker) vom Sein, dem sie (bzw. er) inhaltlich weitreichende Funktionen zuschreibt?
Im Eingang in die Anwendungsteile kann H. sowohl die de­skriptive Ausrichtung von Schleiermachers Ethik gegen Sollensethiken als auch die bleibende normative Funktion der Güterethik gegen kultur- oder systemtheoretische Interpretationen betonen. Als Konsequenz des teleologischen Seinsbegriffs wird Normativität in die Wirklichkeit einfach hineingelesen. Auf ca. 20 Seiten bietet H. eine Gesamtrekonstruktion der komplizierten Inhalte mit ihren handlungsbezogenen, institutionentheoretischen und wissenschaftstheoretischen Quadrupeln (samt Kritik und Weiterführung, vgl. 153), bevor er auch der Güterethik seinen Religions- und Bildungsbegriff als gemeintes Fundament unterschiebt und von daher ih­ren Transzendenzbezug sowie ihre Wahrheitsfähigkeit behauptet.
Die grundlegende Funktion des (religiösen) Bildungsbegriffs wird dann auch auf die Anthropologie angewendet. H. benutzt den Text der Pädagogik (und Psychologie), um daraus in freier Weise die Bedingungen von Erziehung zu rekonstruieren. Temperament, Talent, Neigung, Leiblichkeit und Sinne sind die Grundlagen, um darauf Gesinnung und Religion aufzubauen. Mit dem Begriff des »Verhaltenskorridors« fügt H. wieder Normativität und mögliche Varianz ineinander. Auch hier wird Religion am Ende als (notwendiger) Transzendenz- und Wahrheitsbezug innerhalb der Bildung des Einzelnen herausgestellt.
Das letzte inhaltliche Kapitel gilt den Erziehungsmaßnahmen und ihren Institutionen. H. stellt die inhaltlichen Fächer- und Unterrichtsvorschläge Schleiermachers mit ihrem Bezug auf die anthropologischen Bedingungen dar sowie die Schulformen in ihrer Funktion in den Phasen des Älterwerdens und der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung der Berufe. Auch in der Erziehung steht am Ende »das Kriterium des Religionsbezugs«: Hier kämpft H. mit der von Schleiermacher geforderten Aufhebung von Religion als Schulfach, hilft sich aber dadurch, dass er den ihm notwendigen Religionsbezug in der Erziehung einfach verallgemeinert und vom Lehrer (und der Lehrerin?, vgl. S. 238, Anm. 144) die »religiöse Gewissheit über die Bestimmung des Menschen« (245) fordert, von der aus ein liebender Umgang mit den zu Erziehenden begründet werde.
Im kurzen Schlusskapitel überführt H. seine Schleiermacherdeutung in die gegenwärtigen Bildungsdebatten. Im Vorbeigehen werden die Kompetenzdiskurse (jetzt mit ausdrücklichem Verweis auf Herms’ Weiterführung Schleiermachers, 253) durch die religiöse Fundamentalanthropologie des »Vernehmens« des »grundsätzlichen Bedingtseins alles Handelns« (256) abgeräumt. H. liest den Begriff »Religion« nicht in seinem historischen und positiven Sinn, sondern deutet ihn einfach als »Zustandekommen eines Wahrheitsgefühls für die Bestimmung des Menschen« (259) um. Dieses soll sich am Ende in freien Bekenntnisschulen mit einem dezidiert konfessionellen Religionsunterricht in richtiger Weise realisieren.
Das Buch weist auf Lücken der Schleiermacherforschung hin: Es fehlt noch die Edition der Ethik und ihrer Bearbeitungsstufen in der KGA, und parallel wäre dringend eine philosophisch informierte, werkgenetische und problemgeschichtliche neue Bearbeitung zu wünschen, welche die Fortschritte der Aufklärungsphilologie – insbesondere zur Anthropologie z. B. bei Herder oder zur Ge­schichtstheorie z. B. beim frühen Schelling – aufnimmt.