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Ausgabe:

April/2022

Spalte:

374–376

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Ernst, Stephan

Titel/Untertitel:

Am Anfang und Ende des Lebens. Grundfragen medizinischer Ethik.

Verlag:

Freiburg u. a.: Verlag Herder 2020. 400 S. Geb. EUR 30,00. ISBN 9783451388125.

Rezensent:

Thorsten Moos

Der Würzburger römisch-katholische Theologe Stephan Ernst hat eine profilierte Einführung in die Medizinethik am Beispiel der klassischen Fragen des Lebensanfangs und Lebensendes vorgelegt. Sie ist auf breite Rezeption durch Studierende, Verantwortliche in Bildung und pastoraler Praxis, Medizin und Pflege angelegt und entspricht dem durch gute Lesbarkeit, einen abwägend-deliberativen Stil, eine Vielzahl von Binnenverweisen im Text sowie durch einen zurückhaltenden Umgang mit Fußnoten und anderen In-signien der Gelehrsamkeit. Es geht E., so erläutert er in den knappen Prolegomena (15–28), um »Kommunikabilität« (12.20) theologischer Ethik, näherhin darum, »ausgehend von den Anliegen und Aussagen des Lehramts sowie ihren Begründungen diese mit den Anfragen und Einwänden säkularer Wissenschaft und Erfahrung zu konfrontieren und ihnen auszusetzen« (20). Normative Vorgaben des Lehramts, an denen E. sich an verschiedenen Stellen abarbeitet (vgl. etwa 16 ff.52 ff.197 ff.) können dabei weder als solche Geltung beanspruchen noch als Ausgangspunkt ethischer Deduktionen dienen. In der Tradition der autonomen Ethik dienen vielmehr menschliche Vernunft und Erfahrung als ausschlaggebende Quellen der Ethik (20 f.). Der Glaube hat demgegenüber die Funktion, »zum tatsächlichen ethischen Wollen und Handeln zu motivieren und zu befreien« (21).
Im konzentrierten Grundlegungsteil (29–82) fundiert E. im Anschluss an seinen akademischen Lehrer Peter Knauer seine Me­dizinethik auf dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Dieses Prinzip soll die Schwierigkeiten prinzipienethischer Ansätze ebenso umgehen wie die des in der Medizinethik pandemischen Prinziplismus nach Beauchamp und Childress. Erstere erweisen sich E. zufolge in konkreten Entscheidungssituationen als untauglich, da sie die individuellen Konstellationen nicht hinreichend berücksichtigen bzw. nicht zu Kriterien der Entscheidung vordringen. Auch führt die faktische Pluralität nebeneinanderstehender Prinzipienethiken zur Skepsis gegenüber deren wechselseitig exklu-siven Letztbegründungsansprüchen. Der Prinziplismus umgeht dieses Problem, indem er in sich plural angelegt ist. Er weist aber kein Kriterium der Abwägung zwischen den verschiedenen Prinzipien mittlerer Reichweite aus: Wie ist etwa Respekt vor der Autonomie je und je mit Fürsorge auszugleichen? Eben hierzu dient nach E. das Verhältnismäßigkeitsprinzip: »Ethisch gutes und verantwortliches Handeln ist [genau, T. M.] dann gegeben, wenn das angezielte Gut, etwa die Wiederherstellung der Gesundheit oder die Lebensrettung, die zugefügten Übel und Schäden rechtfertigen kann.« (46) Das Kriterium der Rechtfertigbarkeit der Übel und Schäden wird nun nicht durch Rekurs auf die Situation der Rechtfertigung diskursethisch eingeholt, sondern wiederum kriteriologisch unterlegt. Hierzu dienen die vom juristischen Verhältnismäßigkeitsbegriff bekannten Kriterien der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit, die E. für die Ethik modifiziert. Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit wird dabei nicht im strengen Sinne begründet, sondern vielmehr plausibilisiert: zum einen als im ärztlichen Handeln ohnehin geltendes Prinzip, und zum anderen durch seine Kompatibilität mit den Prinzipien mittlerer Reichweite, aus denen es sich entwickeln lasse und die es inhaltlich sowie auf ihren Zusammenhang hin zu erhellen vermöge.
Die Pluralität der Prinzipien mittlerer Reichweite wird also eingehegt durch ein Metakriterium, das eine der medizinisch-professionellen Praxis selbst eingelassene grundlegende Orientierung des Handelns formuliert, die kriteriologisch expliziert werden und dadurch in Konfliktsituationen Entscheidungen anleiten kann. Hieraus resultiert die große Praxisnähe und Anschlussfähigkeit dieser Ethik. Dadurch, dass das Verhältnismäßigkeitsprinzip konsequentialistischer Natur ist, kann es unmittelbar an Basisintuitionen des Arztberufes anschließen und zudem in einem diskursiven Feld, das durch Tabukategorien geprägt ist, auf der Möglichkeit und Notwendigkeit des Abwägens bestehen. Zugleich werden hieran Grenzen deutlich: In einer handlungsorientierten Medizin ethik kommen Institutionen und Organisationen des Gesundheitswesens allenfalls sehr indirekt in den Blick. Auch führt der konsequenzialistische Ansatz zu Reduktionismen. So kann er Autonomie allein als Bestimmungshoheit über das eigene Wohl begreifen. Anspruchsvollere Konzepte von Autonomie treten zurück; so fallen etwa shared decision-making und informed consent nahezu ineins (59). Ähnlich kann die Behandlung der Triage nicht zwischen »save the most lives« und »save the most years« unterscheiden (63). Hier unterläuft die Ethik das Differenzierungsniveau gegenwärtiger medizinethischer Debatten. Es zeigt sich, dass diese Ethik für eine Einführung sehr stark positioniert ist und daher gerade in der Grundlegung stärker den Charakter eines eigenständigen Ansatzes hat. Wenn ein Leser sich dessen bewusst ist, ist das Werk nichtsdestotrotz auch als Einführung mit hohem Gewinn zu lesen, wie sich insbesondere an den materialethischen Ausführungen zeigt.
In zwei großen Teilen behandelt E. zunächst ethische Fragen am Lebensende, wobei fünf Kapitel dem Themenbereich der Sterbehilfe (Tötung auf Verlangen [zwei Kapitel], Behandlungsverzicht und indirekte Sterbehilfe, Patientenwille, assistierter Suizid) und eines den Fragen von Organspende und Hirntod gewidmet sind (83–233). Der zweite Teil behandelt Fragen des Lebensanfangs, näherhin des moralischen Status des Embryos, der Stammzellforschung, der technisch assistierten Reproduktion, des Schwangerschaftsabbruchs, der Pränatal- und Präimplantationsdiagnostik sowie der Humangenetik (234–388).
Im Kapitel zum assistierten Suizid, das hier exemplarisch be­sprochen werden soll, stellt E. in konziser Weise die rechtliche Situation in Deutschland einschließlich des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom Februar 2020 und anschließend einige ›säkulare‹ ethische Grundpositionen dar. Das strikte römisch-katholische Verbot der Suizidbeihilfe hält er für wenig überzeugend, während er an die in der ökumenischen Erklärung »Gott ist ein Freund des Lebens« entfaltete Unterscheidung zwischen dem Respekt für eine Entscheidung und dem Gutheißen einer Tat anschließt. Verhältnismäßigkeitserwägungen führen ihn dazu, bei Suizidwünschen nach milderen Mitteln der Leidensminderung zu suchen, aber grundsätzlich den Sterbewunsch als »wirklich autonome Entscheidung« (195) und dann auch als rechtfertigbar zu verstehen. Für die Frage, ob dann Beihilfe zum Suizid erlaubt ist, schlägt er anstelle der katholisch-traditionellen Unterscheidung von formeller und materieller Mitwirkung an einer schlechten Handlung das Kriterium von (unerlaubter) direkter und (erlaubter) indirekter Mitwirkung vor. Letztere liegt vor, wenn nur mitgewirkt wird mit dem Ziel, noch Schlimmeres, also etwa die Fremd- oder Selbstschädigung durch einen Suizidversuch, zu verhindern. Hier wird das grundlegende Pathos dieser Ethik, durch rigoristische Normie-rungen festgefahrene Situationen zu öffnen und sie wieder in den Bereich der Abwägung, mithin: der ausführlichen Würdigung der vorgetragenen Gegengründe, zu überführen. Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit erscheint damit insgesamt weniger als ein vereinheitlichendes und kriteriologisch klar zu entfaltendes Grundlegungsprinzip medizinischer Ethik denn als Leitorientierung einer ethischen Öffnungs- und Versachlichungspraxis. Insofern handelt es sich um eine im besten Sinne diskursive Ethik, von der auch profitiert, wer hinsichtlich Grundlegung oder einzelner Kriterien an­ders optieren würde.