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Ausgabe:

April/2022

Spalte:

367–370

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Schnelle, Udo

Titel/Untertitel:

Einführung in die Evangelische Theologie.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2021. 453 S. Geb. EUR 38,00. ISBN 9783374068739.

Rezensent:

Ulrich H. J. Körtner

Gegenstand und Aufgabe der Theologie, ihre Fächer und deren in­neren Zusammenhang darzustellen, ist Sache der theologischen Enzyklopädie. Angesichts der fortschreitenden Ausdifferenzierung der theologischen Wissenschaft und ihrer Einzeldisziplinen fällt es zunehmend schwer zu beantworten, was die Theologie im Innersten zusammenhält. Auch über ihre wissenschaftstheoretische Einordnung im Haus der Wissenschaften besteht keine Einigkeit. Je nachdem, ob man Theologie als eine Kulturwissenschaft oder aber als eine eigenständige Wissenschaft im Kontext der Kulturwissenschaften bestimmt, fallen die Antworten auf Sinn und Zweck dieser Wissenschaft, die Aufgabenstellung ihrer einzelnen Disziplinen und die Verteilung der Gewichte zwischen ihnen recht unterschiedlich aus.
Versuche einer zeitgemäßen enzyklopädischen Einführung in die Theologie werden heute zumeist gar nicht mehr von einem Einzelnen, sondern von einem Autorenkollektiv unternommen, wobei die beteiligten Fachvertreter jeweils ihre eigene Disziplin vorstellen. Ein gemeinsamer Begriff von Theologie und ein ge­meinsames Verständnis ihres Gegenstandes und ihrer Aufgabe ist mehr als die Summe von Einzeldarstellungen. Wiederum stellt sich für jeden Fachvertreter einer Einzeldisziplin die Frage, was denn seinem eigenen Verständnis nach seine Disziplin und seine Forschung zu einer dezidiert theologischen macht. Die Beantwortung dieser Frage lässt sich nicht delegieren. Eine Antwort zu geben erfordert allerdings einen gewissen Mut, kann doch jemand die Frage für das eigene Fach wohl kaum beantworten, wenn er sich nicht auch darüber klarzuwerden versucht, worin die Theologizität der anderen Disziplinen besteht. In Anbetracht der eingangs beschriebenen Gemengelage lässt sich dieses Unterfangen wohl anders als mit einem gewissen Maß an Verwegenheit nicht in An­griff nehmen.
Der Neutestamentler Udo Schnelle beweist solchen Mut im vorliegenden Buch. Getreu dem Diktum K. Barths, wonach der Dogmatiker auch exegetische und der Exeget auch dogmatische Verantwortung trägt, wagt sich S. als neutestamentlicher Exeget auf das Feld Systematischer Theologie und plädiert zugleich für ein Programm von Bibelexegese, das man als Theologie im Vollzug von Schriftauslegung bezeichnen kann. Mehr noch: S. versteht die Theologie insgesamt im Verbund ihrer Disziplinen als Schriftauslegung. Das zeichnet sein Buch aus, ist doch diese Position heute alles andere als selbstverständlich, aber höchst bedenkenswert.
Das Role Model für S.s Theologieverständnis bietet das Neue Testament und das in ihm enthaltene »Modell der normativen Ursprungszeit« (51, im Orig. kursiv). S.s systematische Rekonstruktion neutestamentlicher Theologie bzw. einer Theologie des Neuen Testaments orientiert sich an dem Aufriss und der Begrifflichkeit einer lutherisch geprägten Normaldogmatik. Das kann man für problematisch oder aber für durchaus gewinnbringend halten. Es ist S. hoch anzurechnen, biblische Texte als theologische Texte mit Gegenwartsrelevanz ernst zu nehmen und zu interpretieren, auch wenn nicht immer die wünschenswerte begriffliche Präzision erreicht wird. Positiv ist zu würdigen, dass S. die systematische Rekonstruktion mit theologie- und forschungsgeschichtlichen Längsschnitten verbindet, was das Buch für Studierende zu einer lohnenden Lektüre macht.
Dass den exegetischen Disziplinen und allen voran der neutes-tamentlichen Wissenschaft im Fächerkanon ein starkes Gewicht zugemessen wird, liegt in S.s lutherisch geprägtem, offenbarungstheologischem Verständnis der Bibel als Heiliger Schrift und von dieser als Zeugnis des Wortes Gottes begründet (vgl. 52 ff.). Gegenstand und Grund christlicher Theologie »ist der Gott, der sich dem Volk Israel zeigte und sich in Jesus Christus einmalig und endgültig offenbarte« (346). Das die Einzeldisziplinen evangelischer Theologie »einigende, enzyklopädische Band« sind »[d]ie Auslegung und das Verstehen des in der Schrift bezeugten Christusgeschehens als Evangelium« (348, im Orig. kursiv).
Bei aller Kritik (vgl. 80 f.) steht S. Barth erkennbar näher als Bultmann, dessen Programm und Methode der existentialen Interpretation bzw. der Entmythologisierung er einer grundlegenden Kritik unterzieht. Eine seiner Grundthesen lautet, dass mythisches Denken nicht für Religion, den christlichen Glauben und christliche Theologie grundlegend, sondern ein Grundzug jeglicher Sinndeutung ist und auch am Grund aller Wissenschaft liegt. Der Be­griff des Mythischen steht für die Dimension der Transzendenz, n ämlich für »etwas, was in die Geschichte hineinragt und sie zugleich überragt« (16, im Orig. kursiv). Sodann operiert S. mit einem weit gefassten Glaubensbegriff, wonach jede Form des Denkens und des sich daraus ergebenden Wissens einen Glauben im Sinne eines elementaren Vertrauens fordere (vgl. 17). Religion – im vorliegenden Buch mit dem christlichen Glauben gleichgesetzt – bietet eine Form von Weltdeutung. Er kann sogar mit einem Weltbild gleichgesetzt werden (192), das sich am biblischen Schöpfungsgedanken orientiert. Gegenüber radikalkonstruktivistischen Positionen votiert S. für einen ontologischen Realismus (vgl. 365), was sich konkret in seinen Überlegungen zum Wirklichkeitsgehalt der neutestamentlichen Auferstehungsaussagen zeigt.
Zur Stellung der universitären Theologie liest man bei S., sie sei »an der Universität die letzte Wissenschaft, die vom Schöpferglauben her die Welt als Ganzes sieht und denkt« (29). Die ethischen wie systematisch-theologischen Herausforderungen, die von Globalisierung und Klimakatastrophe ausgehen, ziehen sich gleichermaßen als roter Faden durch das Buch (z. B. 289). Der Tendenz eines zunehmenden Relevanzverlustes von Theologie und Kirche stellt S. »Hinweise auf ein postsäkulares Zeitalter« (ebd.) gegenüber, die ein neues Interesse an Religion und Schöpfungsglauben verraten. Der Schöpfungsbegriff bleibt freilich schillernd, weil er einerseits vom biblischen Schöpfungsglauben her gefüllt wird und andererseits als anschlussfähig gegenüber Klimaforschung, Ökologie und Um­weltbewegung gesehen wird. Was der Begriff Schöpfung in deren Kontext genau besagen soll, ist alles andere als klar. Wenn S. für Er­gänzung der unterschiedlichen Wissenschaftszugänge zur Wirklichkeit anstelle von Konkurrenz votiert und »als gemeinsames Ziel die Bewahrung der Schöpfung/Natur« (421) bestimmt, bleibt er­kenntnistheoretisch durchaus ungeklärt, wie sich die sprachlichen Zeichen »Schöpfung« und »Natur« und die mit ihnen jeweils verbundenen Sprachspiele genau zueinander verhalten. Eine Spannung besteht erkennbar auch in der Charakterisierung der Theologie als »kritische Text- und Reflexionswissenschaft, die streng his­torisch arbeitet« (28), einerseits und der Bestimmung der Theologie »als positive Gottes- und Lebenswissenschaft« (ebd.) andererseits. Einerseits spricht S. der Theologie eine Sonderstellung unter den Wissenschaften zu, »weil Gott als ihr erster Gegenstand kein allgemein aufweisbares Element dieser Welt und kein Gegenstand des natürlichen Lebens ist« (27), andererseits lasse sich Theologie aber auch als »Theorie religiöser Erfahrung« definieren, wobei Religion »der übergeordnete Sinnzusammenhang« (40) sei, aus dem sich unterschiedliche Theologien speisen. Auf spannungsvolle Weise versucht S., einen im Gefolge Schleiermachers vom Religionsbegriff aus konzipierten Theologiebegriff und einen offenbarungstheologischen Theologiebegriff mit dem Wort Gott als Leitkategorie zu verbinden, was allerdings nicht ohne innere Widersprüche gelingt.
Auf vier fundamentaltheologische Grundlegungskapitel zur Stellung der Theologie in den Wissenschaften (9–29), zu den Begriffen Theologie, evangelisch und Religion (31–49), der Schrift als le­bendigem Zeugnis des Wortes Gottes als Grundlage christlicher Theologie in evangelischer Perspektive (52–123) sowie den Gegenständen evangelischer Theologie (125–239) folgt im fünften Kapitel (241–349) eine enzyklopädische Darstellung der theologischen Einzeldisziplinen, die einem einheitlichen Schema folgt (1. Name und Umfang, 2. Wegweiser der Forschungsgeschichte, 3. Gliederung des Faches, 4. Standort des Faches innerhalb der Disziplinen). Die Darstellung der Fächer Altes Testament und Neues Testament bietet in gedrängter Form Informationen zur Einleitung in Altes Testament und Neues Testament, zu der Geschichte Israels und des ältesten Chris-tentums sowie zur Theologie des Alten und des Neues Testaments.
Das Schlusskapitel »Evangelische Theologie und das Denken der Moderne« (351–421) nimmt die apologetische Aufgabe der Theologie in den Blick. Einleitend skizziert S. die Geschichte der Transformationen neuzeitlichen Denkens. S. ist davon überzeugt, »angesichts der rasanten Forschung des Menschen und am Menschen« komme »keine Form von Philosophie oder Anthropologie« ohne »begrifflich und zugleich bewertende philosophisch-religiöse Me­taebenen« (365) aus. S. beruft sich für diese These auf J. Habermas, wobei sein kombinatorischer Begriff »philosophisch-religiös« Anlass zu kritischen Rückfragen bietet. Ein fruchtbares Gespräch zwischen Philosophie und Theologie lässt sich nur führen, wenn beide zugleich sorgfältig unterschieden werden. Das Konglomerat »philosophisch-religiös« steht jedenfalls zu einem offenbarungstheo-logischen Theologieverständnis im Gefolge der Barmer Theologischen Erklärung (vgl. 57) erkennbar in Spannung. In apologetischer Absicht vertieft S. seine Überlegungen zum Verhältnis von Vernunft, Offenbarung, Glaube und Mythos (370–392), die schon am Beginn des Buches standen. Die bleibende Relevanz evangelischer T heologie und ihr Zukunftspotential erörtert S. noch einmal im Kontext der ökologischen Krise und der negativen Folgen der Moderne. Zentrum evangelischer Theologie ist für S. die »Teilhabe am Schöpferhandeln Gottes« (392–421), worin sich dogmatische und ethische Perspektive verbinden. Affirmativ – und m. E. unterkomplex – greift S. die Idee der Bewahrung der Schöpfung auf – wobei er auf Schweitzers Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben rekurriert (411), ohne die Unausgeglichenheit mit dem offenbarungstheologischen Erbe der Wort-Gottes-Theologie zu reflektieren. Dass »der Schöpfungsgedanke« heute »die einzige Vorstellung« bleibt, »die die Welt noch zusammenhalten kann« (ebd.), ist ein theologisches Postulat, das wohl kaum auf allgemeinen Konsens unter den Wissenschaften hoffen kann.
Dennoch lohnt sich die Lektüre dieses anregenden enzyklopädischen Entwurfs. Er eignet sich nicht nur für Studierende als Lehrbuch, das auch didaktisch gut gestaltet ist. Einmal mehr zeigt sich S. als versierter Lehrbuchautor. Leitbegriffe und Stichworte werden durch Kästen im Text hervorgehoben. Auch gibt es durch Kästen hervorgehobene Zusammenfassungen am Ende der Teilkapitel wie auch von Zwischenabschnitten. Mehrfach zitierte Literatur findet sich am Ende des Buches in einem Literaturverzeichnis. Für den Gebrauch hilfreich ist auch das Register. In seinen historischen Ausführungen zum ältesten Christentum charakterisiert S. das frühe Christentum als Bildungsphänomen (102–105). Damit ist ein wichtiger Aspekt des gesamten Buches angesprochen: christlichen Glauben und Theologie als Bildungsphänomen verständlich zu machen.