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Ausgabe:

April/2022

Spalte:

364–367

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Evers, Dirk, u. Malte Dominik Krüger [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Die Theologie Eberhard Jüngels. Kontexte, Themen, Perspektiven.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2020. X, 324 S. Kart. EUR 69,00. ISBN 9783161593444.

Rezensent:

Wolf Krötke

Am 28. September 2021 ist Eberhard Jüngel verstorben. Seine Stimme jedoch war schon länger nicht mehr zu hören. Die Herausgeber dieses Bandes haben versucht, da in die Bresche zu springen. Von Verfasserinnen und Verfassern der »jüngeren Generation« wird nach »der Aktualität, der Relevanz und den Grenzen« seiner Theologie gefragt (V). Das geschieht in 34 kleinen Essays von höchstens zehn Seiten. Sie sind in drei Rubriken untergebracht.
In der ersten Rubrik (»Kontexte«) geht es um Jüngels Umgang mit theologischen Traditionen (Thomas von Aquin, Martin Luther, Friedrich Schleiermacher, Rudolf Bultmann, Karl Barth [3–49]). Sodann werden die Stellung seiner Theologie in der deutschsprachigen Dogmatik nach 1945, seine Kontroverse mit Wolfhart Pannenberg (49–62) sowie sein Verständnis »hermeneutischer Theologie« dargestellt (63–68). Ein Text »Zur Biographie« ist sehr ergänzungsbedürftig. In ihm wird z. B. fälschlich mitgeteilt, dass Jüngel 1961 »von der Professorenschaft (?) an das neutestamentliche Fachgebiet der Kirchlichen Hochschule Ostberlin berufen« wurde (70). Das ist leider ein Indiz für die unzureichende Beachtung, die Jüngels Herkunft aus der Kirche der DDR und für das dort entwickelte, bleibende Profil seiner Theologie in diesem Band gefunden hat.
Die zweite Rubrik trägt die Überschrift »Themen«. Sie sind systematisch geordnet: Sieben Mal geht es um die Gotteserkenntnis (77–147). Dann folgen Beiträge zum Verständnis der Schöpfung, zur Gleichnisauslegung, zur Frage nach dem »historischen Jesus« und zur Bedeutung des »Todes Gottes« (149–189). Die Sünde, das Böse, die Rechtfertigung, die Sakramente und die Eschatologie schließen sich als Themen an (191–233). Zwei Beispiele seiner ethischen Argumentationsweise und eine Reflexion zum Verhältnis von Theologie und Philosophie schließen diesen Hauptteil des Bandes ab (235–259). Man könnte in dieser Rubrik zwar auch andere thematische Schwerpunkte setzen. Im Ganzen werden hier aber wichtige Aspekte der »Theologie Jüngels« sachgerecht dargestellt und in der Regel kritisch beleuchtet.
Die dritte Rubrik nimmt »Perspektiven« in den Blick, »die über die akademische und protestantische Dogmatik hinausführen« (VI). Martin Hein beschreibt Jüngels »Impulse für kirchenleitendes Handeln« (263–270). Johanna Rahner nimmt auf die Bedeutung von Jüngels Sakramentsverständnis für die katholische Ekklesiologie Bezug. Die »lebendige Auseinandersetzung mit Eberhard Jüngel« (288) in der angelsächsischen Theologie ist eine weitere große »Perspektive« (281–288). Dagegen bewegen sich die Versuche, Jüngels »Me­tapherntheorie« mit islamischer Theologie (289–297), mit neuerer »Metapherntheorie und Linguistik« (299–305) sowie dem Philosophen Jan-Luc Marion (307–312) ins Gespräch zu bringen, in ziemlich speziellen Diskursen.
Es ist klar, dass diese 34 Essays hier unmöglich im Einzelnen besprochen werden können. Es kann nur um einige Schlaglichter und um den Gesamteindruck von diesem Band gehen. Die Herausgeber möchten »ganz unterschiedliche Forschungsperspektiven zur Geltung« bringen. Diese Pluralität entspricht nach ihrer Meinung Jüngels »zentrale(r) Einsicht«, »dass Gott von dem her verstanden werden muss, was im Werden Ereignis wird und dem Menschen als wohltuende Öffnung begegnet« (V). Ob eine derartige Diversität des Werdens theologischer Diskurse mit dem Ereignis Gottes zusammengehört, um das es Jüngel ging, muss man allerdings fragen. Das gilt vor allem für die Beiträge zu diesem Band, die solches Zusammenstimmen verneinen.
Michael Murrmann-Kahl stellt z. B. mit erkennbarem Widerwillen die Rezeption der Theologie Karl Barths durch Jüngel dar (41–48). Er beschuldigt ihn unter anderem, eine »doketische Verkürzung der Menschheit Jesu« zu befördern (44), und behauptet, dass Jüngel die »allmächtige Liebe« Gottes »mit den Farben der absoluten Herrschaft gemalt« habe, »anstatt Herrschaft und Allmacht durch die Liebe (neu) bestimmt sein zu lassen« (48). Was hier vermisst wird, kann man sogar wörtlich bei Jüngel lesen. Christine Axt-Piscalar hat ein solches Verdrehen von Jüngels klaren Aussagen faktisch korrigiert (»Gott – um seiner selbst willen interessant«, 49–57; vgl. auch Christiane Tietz, Eberhard Jüngel als Vertreter der hermeneutischen Theologie, 63–68, und Philipp David, Tod des lebendigen Gottes?, 187).
Noch mehr aus dem Rahmen einer Kritik, welche Jüngels Texte ernst nimmt, fallen die Überlegungen zum »Gottesgedanken«, die Jörg Dierken angestellt hat (83–90). Er bemüht sich darum, Jüngels Denken des offenbaren Gottes in den Zusammenhang der »Erkundung Gottes« mit einer »Grenzvermessung der Vernunft« zu bringen (84). Jüngels Verständnis Gottes als Liebe muss sich darum z. B. eine Reduktion auf Denkweisen Hegels und Spinozas sowie deren Aporien gefallen lassen. Die oft zitierte Formulierung, Gott sei im überströmenden Reichtum seiner Liebe »mehr als notwendig«, wird am Ende verdächtigt, Gott das »Prädikat der ›Verhältnislosigkeit‹ zu Eigen« zu geben (90). Nach Jüngel ist – wie auch in dies em Band dargestellt wird (vgl. 197–204) – das Verhältnislose das Böse (mythologisch gesprochen: der Teufel). Die Unterstellung, dass er dem mit seinem Gottesverständnis »allzu nahe« gekommen sei (ebd.), hat nichts mit der angekündigten »wohltuenden Öffnung« (V) zu tun.
Die Fragen, die in diesem Bande ansonsten an Jüngels Theologie gestellt werden, sind den jeweiligen Themen entsprechend mannigfach. Auffällig ist aber, dass es viele mit dem »Allgemeingültigkeitsanspruch« (55.95) des Denkens von »Gottes Kommen« her zu tun haben. Es wird bezweifelt, ob die von Jüngel zur Begründung des Gottesglaubens abgelehnte »natürliche Theologie« durch eine »natürlichere Theologie«, die alle Erfahrung in das Licht »Erfahrung mit der Erfahrung« stellt, tatsächlich überwunden werden kann (so Christoph Kock, 96 f; vgl. zu dieser Kurzformel auch: Laura Christin Krannich, 107–120). Eine solche Theologie, der auch »apologetisches« Agieren unterstellt wird, könne heute nicht mehr den »Nachweis der Selbstverständlichkeit Gottes« liefern. Sie vermöge »keine Gewissheit ohne Zweifel« zu vermitteln (97). Nach Michael Schulz erweckt Jüngel aber den Eindruck, dergleichen zu wollen, indem er aus »seiner Offenbarungstheologie philosophisch nachvollziehbare Argumente für Gottes Wahrheit entwickelt« (80).
In die gleiche Richtung weist die Kritik an Jüngels Analogieverständnis von Philip Rolnik. Die analogia fidei kann nach seiner Meinung mit einer »Metaphysik der Teilhabe« und also mit der ohne den Glauben möglichen »analogia entis verbunden werden«, »um den Glauben auszudrücken« (105). Bekanntlich wird in der von Jüngel kritisierten metaphysischen Tradition die analogia entis als Mitte zwischen Ähnlichkeit und Unähnlichkeit verstanden. Sie vermag Gott nicht definitiv auszusagen, während Jüngels Denken von der Offenbarung Gottes her gerade das ermöglicht. Malte Dominik Krüger kommt jedoch zu dem umgekehrten Ergebnis. Jüngels Gottesverständnis bleibe in »Ambivalenzen« z. B. zwischen Gottes Freiheit und Liebe oder zwischen »Gotteswirklichkeit und deren Sprachwirklichkeit« stecken (133). Krüger fragt darum, ob man das sich »analog zwischen Unbestimmtheit und Bestimmtheit bewegende Bildvermögen des Menschen« nicht zur »Pointe des Glaubens« machen könne (ebd.). Eine unzweideutige Gottesrede dürfte so nicht mehr möglich sein.
Vorsichtiger meldet Dirk Evers seine Kritik an Jüngels Verständnis des Geheimnisses Gottes als »Ineinander von Gewährung und Vollzug« (137) an. Nach einer sorgfältigen Darstellung beklagt er »eine eigentümliche Engführung« der »christologischen Konzentration«, welche einen Blick auf Gottes Geheimnis nur »durch das Nadelöhr der Menschwerdung hindurch« zulässt (146). Ob das im Sinne Jüngels eine treffende Metapher für das »Kommen Gottes« ist, kann man bezweifeln. Wie aber die »universalistischen Perspektiven« aussehen sollen, die der »christologischen und biblischen Konzentration« »zuzuordnen« seien (146), wird nicht verraten (147).
Solche Perspektiven sind zunächst einmal mit Jüngels Verständnis der Schöpfung gegeben, das – wie Anne Käfer zu Recht betont – anthropologisch ausgerichtet ist (154–158). Sie findet aber seine Ansicht problematisch, dass vom Kreuzestode Jesu Christi her gesehen Gottes schöpferisches, ursprüngliches Anfangen das vernichtende Nichts »mitgewährte«, obgleich es gegen dieses Nichts gerichtet ist (159). Folkhardt Wittekind versteht das in seinem Essay über das Böse so, dass von Jüngel das Evangelium »zu einem abstrakten Strukturprinzip ontologischer Absolutheitstheorie« gemacht werde, in dem das Böse ein »strukturelle(r) Begleiter Gottes« ist (201). Man müsse hier regelrecht von einem »Dualismus in Gottes Sein selbst« reden. Er verdanke sich dem Versuch, »das Böse nicht als unerklärbar stehen zu lassen« (204). Das ist nicht richtig. Nach Jüngel bleibt das Böse ein »dunkles Rätsel«. Käfer respektiert das und begnügt sich mit der Frage, ob für Jüngel »die Allmacht Gottes nicht mächtig gewesen« ist, »Gottes Willen ursprünglich vollkommen zu verwirklichen« (159). Sie antwortet darauf im Sinne Jüngels mit dem Verweis auf Gottes Erleiden des »Sündentodes«, der aus dem »Nichts […] Leben hervorgehen« zu lassen vermag (159).
Auch Philipp David referiert das zutreffend (187). Dann aber lässt er seinen Beitrag in die Behauptung von Falk Wagner einmünden, die Rede vom »Tod Gottes« sei nur eine »erbauliche Phrase«, welche die Realität des Todes nicht ernst nehme. Sie verschärfe die »Grundlagenkrise« der Theologie und scheine mit »kulturhermeneutische[r] Diskursoffenheit« und »wissenschaftliche[r] Anschlussfähigkeit nicht zusammenzupassen« (189). Darauf läuft auch die Kritik von Georg Pfleiderer an Jüngels Ethik hinaus. Ihr wird die »fast vollständige Abstinenz gegenüber der Einbezie-hung kulturwissenschaftlicher und sozialwissenschaftlicher Forschungsergebnisse« angelastet (248). Was Jüngel zu ethischem Handeln und Verhalten in der Entsprechung zu Gottes Handeln in der Freiheit der Liebe gesagt hat, habe einen »Zug von armchair-theology« (249).
Die Frage, wie ein Theologe Kanzler des Ordens Pour le Mérite für Wissenschaft und Künste werden konnte, welcher der Wissenschaft und den Künsten gemütlich vom Sessel zugeschaut hat, mag hier auf sich beruhen. In Wirklichkeit ist es doch so, dass sich die an den ureigensten Quellen des christlichen Glaubens orientierte »Aufklärung der Welt im Lichte des Evangeliums« Respekt und Anerkennung unter den Wissenschaften und in kulturellen Zusammenhängen erworben hat (vgl. den Nachruf der Theologischen Fakultät Tübingen: ThLZ 146 [2021], 1273–1275). In einigen Kritiken, wie sie hier zu Worte kommen, ist dagegen offenkundig das Zutrauen zu der die Wirklichkeit erschließenden Kraft des Evangeliums verloren gegangen. Leider findet in diesem Band kein Gespräch mit diesen Kritiken statt. Dieser Ausfall könnte in der Erwartung be­gründet sein, dass die darstellenden Beiträge den Gewinn von Jüngels Theologie für unsere heutige »postchristliche« Situation hinreichend evident machen. Dann aber spräche doch nichts dagegen, für diese Evidenz auch entschlossen argumentierend einzutreten.
Den Mut dazu hätten die, die sich an diesem Band beteiligt haben, vielleicht gewinnen können, wenn sie einem Hinweis Jüngels zum Verständnis seiner Theologie gefolgt wären, den er selbst gegeben hat. Im 7. Band seiner Predigten hat er gesagt, »daß man das, was man seit einiger Zeit ›Jüngels Theologie‹ zu nennen pflegt, am ehesten in seinen Predigten kennenlernen kann« (vgl. Predigten Band 7. Allerneuernde Klarheit, Stuttgart 2009, 9). Sie kommen – außer in einem Hinweis von Martin Hein (266) – in diesem Band nicht vor. Das ist schade. Denn in ihnen zeigt sich sehr konkret, zu welchem erhellenden Eingehen auf die Situation von Menschen in Kirche und Gesellschaft die »Die Theologie Eberhard Jüngels« befähigt und welche Ermutigung zum Glauben und zum Handeln aus Glauben sie nach wie vor darstellt.