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Ausgabe:

April/2022

Spalte:

360–362

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Marti, Andreas

Titel/Untertitel:

Kirchenlied und Gesangbuch. Einführung in die Hymnologie. Unter Mitarbeit v. E. Jolliet.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2021. 273 S. m. 33 Abb. Geb. EUR 60,00. ISBN 9783525560440.

Rezensent:

Konrad Klek

Kirchenlied und Gesangbuch sind im theologischen Curriculum nach wie vor nicht fest verankert, obwohl das Gesangbuch neben der Bibel der wichtigste Bezugspunkt evangelischer Frömmigkeit ist (und auch beim Examen als Quellentextsammlung genutzt werden kann). Das ist im Kirchenmusikstudium anders. Andreas Marti, der Autor dieses längst überfälligen Lehrbuchs, hat hier jahrzehntelang an verschiedenen Hochschulen (vornehmlich in der Schweiz) Lehrerfahrung gesammelt und dokumentiert dies nun in einem – bezogen auf die Fülle des Stoffes – bemerkenswert konzentrierten Buch. Elie Jolliet als ehemaliger Student M.s wird genannt als »Mitarbeiter« in verschiedener Hinsicht.
Beachte: Dies ist keine Einführung in Kirchenlied und Gesangbuch, die niederschwellig Lust machen will, sich mit Liedern zu befassen. Es ist eine Einführung in die Hymnologie als Wissenschaft mit ihrer mehrdimensionalen Methodik, welche die Liebe zum Gegenstand und auch eine breite Kenntnis des Lied-Repertoires im Grunde voraussetzt. Sonst wäre es viel zu mühsam, die nur mit Liedtitel aufgeführten Beispiele jeweils nachzuschlagen. Von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen sind keine Liedstrophen abgedruckt. Der Abstraktionsgrad in der Darstellung ist enorm, für »Normaluser« eher abschreckend, für Hymnologiedozierende allerdings fantastisch.
»Hymnologie. Begriff und Geschichte« – steht signifikant am Anfang. Bereits ab S. 21 folgt mit 45 Seiten »Deskriptive Hymnologie« das Besondere dieses Buches, eine differenzierte Abhandlung zum Handwerkszeug für Liedanalysen mit den Abschnitten Textform/ Textmetrum und Melodierhythmus/Melodie/Text – hier werden linguistische Aspekte benannt. Dem unverzichtbaren Durchgang durch die Liedgeschichte vorgeschaltet ist also ein allgemein gültiges Instrumentarium zur methodisch präzisen Erfassung des Gegenstands Kirchenlied, allerdings beschränkt auf Strophenlieder, mündend in eine »Checkliste zur Liedanalyse«. Dabei werden die Bereiche von Text und Melodie gleichwertig sowie deren Verschränkung thematisiert, wozu M. prädestiniert ist als promovierter Theologe wie praktizierender Kirchenmusiker mit musikwissenschaftlichem Rüstzeug. In zahlreichen Liedkommentaren zum Schweizer Reformierten Gesangbuch und zum deutschen Evangelischen Gesangbuch hat er dies am Einzelfall mustergültig vorgeführt.
Die »Historische Hymnologie« über 125 Seiten ist bei großer Umsichtigkeit und Ausgewogenheit hinsichtlich der verschiedenen Epochen sehr knapp und konzentriert gefasst. Interessant ist der neue, passende Begriff »Kantionalsatzepoche« für die Zeit um 1600, da die Lieder hier vornehmlich in »Cantionale« genannten Schul-liederbüchern und in vierstimmigen Vokalsätzen erschienen. Verwunderlich sind allerdings einige evident falsche Jahreszahlen. Umfänglicher als in bisher greifbaren Büchern zur Hymnologie sind Schweizer Spezifika dokumentiert, darunter natürlich die Entstehung des Genfer Psalters und seine weltweite Rezeptionsgeschichte. Katholische Spezifika haben eigene Unterkapitel erhalten. Die jüngere Kirchenliedentwicklung in nicht-deutschen Sprachgebieten ist mit immerhin 18 Seiten gut berücksichtigt. Geradezu platzverschwenderisch nehmen sich die elf Seiten in der Mitte des Buches aus, wo Faksimilia (schwarzweiß) die ersten Liederhefte und -bücher (nur) der Reformationszeit in ihrer sinnlichen Gestalt erschließen. Aller sonstigen Ausgewogenheit in der Gewichtung der Epochen zum Trotz feiert so die alte Hymnologen-Präferenz »Reformationszeit über alles« ein Stück weit »fröhliche Urständ«.
Das Kapitel »Praktische Hymnologie« thematisiert abschließend über knapp 30 Seiten Kanonbildung und Rezeption, Liturgie und Gemeindegesang und schließlich die konkrete Praxis des Gemeindegesangs, also Fragen der (Orgel-)Begleitung und Liedvermittlung, auch dies dürfte ein Novum in der hymnologischen Fachliteratur darstellen. Eine tabellarische Auflistung für die Liedauswahl im Gottesdienst hat den reformierten Predigtgottesdienst im Blick. Wer eine »lutherische Messe« zu gestalten hat, wird gleichwohl davon Nutzen ziehen können.
Diese Fokussierung auf Liedauswahl im Gottesdienst korreliert dem zu Beginn definierten Kirchenlied-Begriff, bezogen auf den Gesang »einer christlichen gottesdienstlichen Gemeinde« (11). Auch wenn hier verbal umständlich eine »fallweise Ausweitung« mit in den Blick genommen wird – das Buch handelt nicht vom »geistlichen Singen« in allen möglichen Singformen und Situationen, die sowohl historisch zu konstatieren sind als auch gegenwärtig sich extrem ausdifferenzieren. Dass die reformatorischen Lieder im Gottesdienst über lange Zeit von Schülerchören gesungen wurden, wird zwar hie und da erwähnt, die fällige Erörterung über die viel breitere Singpraxis der Zeit im Volk und die Rolle der Liederbücher im »Pocketformat« unterbleibt aber. Der kulturwissenschaftliche Zugang, seit etwa 2000 auch für die Hymnologie reklamiert, findet keinen Niederschlag. Die im historischen Teil übliche Gegenüberstellung von landeskirchlichem und freikirchlichem Singen kann historisch wie gegenwärtig die Gemengelage nicht hinreichend erfassen. So bleibt dieses Lehrbuch auch diesbezüglich eher »klassisch« orientiert.
Über 50 Seiten »Verzeichnisse«, die Hälfte davon ein tabellarisches Fundort-Register zu den genannten Liedtiteln in aktuell verbreiteten Gesangbüchern, sind schließlich nötig, damit das Buch in seiner abstrahierenden Prägnanz funktionieren kann. Es ist ein inhaltlich anspruchsvolles und durchaus sachdienliches Lehrbuch alter Schule, das allerdings just zu dem Zeitpunkt erscheint, wo der Reformprozess für ein neues Gesangbuch in Deutschland ganz neue Dimensionen der Liedpräsentation auslotet: Datenbank statt/ plus gedrucktes Gesangbuch. Auch dass – neben den allermeisten Liedtexten und youtube-Einspielungen jeglicher Couleur davon – inzwischen Unmengen von hymnologischen Quellen, also Autorendrucke, Lieder- und Gesangbücher aller Zeiten als Scans im Netz greifbar sind, lässt sich zwar über den letzten Punkt im Verzeichnis »5.5. Internetressourcen« (mit zwölf Internetadressen) erschließen, methodisch wirkt es sich aber nicht aus. Wenigstens eine Einfüh rung zu diesen Datenbanken wäre für eine »Einführung in die Hymnologie« geboten.
Wenn Hymnologie aus ihrem bisherigen Schattendasein heraustreten will, muss sie medial ganz andere Wege beschreiten als Schwarzweiß-Buchstabendruck zwischen zwei Buchdeckeln. (Die E-Book-Variante als PDF führt hier auch nicht weiter.) Der anthropologisch so vieldimensionale Vorgang des Singens, erst recht das Ereignis christliche Gemeinschaft im gemeinsamen Singen ließ sich in Lehrbüchern oder gedruckten Einführungen noch nie fassen und braucht heutzutage mehr denn je »Promotion« in usergemäßen Formaten.