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Ausgabe:

April/2022

Spalte:

352–354

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Bayreuther, Rainer

Titel/Untertitel:

Der Sound Gottes. Kirchenmusik neu denken.

Verlag:

München: Claudius Verlag 2021. 240 S. Kart. EUR 20,00. ISBN 9783532628591.

Rezensent:

Gunter Kennel

Die Grundthese Rainer Bayreuthers, die er in diesem Buch sehr engagiert vertritt, lautet: Gott offenbart sich im Klang. Gott ertönt, er tritt im Klang selber in Erscheinung, und dies unverfügbar, sich einfach ereignend. Einer der Spitzensätze des Buches lautet: »im schieren Sosein eines Klangs zeigt sich Gott« (198). Ontologisch beschreibt B. dies folgendermaßen: »In diesem Buch geht es um göttliche Klänge. Göttlich in dem Sinn, dass sich in ein reales Schwingungsereignis eine Teilursache einmischt, die von Gott bewirkt wird und einen echten Unterschied zum Ursachenkomplex eines Schwingungsereignisses darstellt, in das sich Gott nicht eingemischt hat.« (200) Die Menschen, auch die in der Kirche, dürfen seiner Meinung nach dabei nichts anderes machen, als dieses Ertönen zuzulassen. Mit jeglichem Mehr, also z. B. in Form von Deutungen oder Funktionalisierungen begibt sich die Kirche und mit ihr auch ihre Kirchenmusik auf einen Holzweg, den B. scharf kritisiert.
Mühsam wird die Lektüre des Buches durch die Länge und die ans Polemische grenzende Art und Weise dieser Kritik an der kirchenmusikalischen Praxis sowie an den theologischen Positionen, die nach B. zu dieser Praxis führen. Was im ersten Kapitel vielleicht zu einem engagierten Einstieg in eine theologisch-ästhetische Debatte hätte werden können, wirkt bedauerlicherweise sehr schnell durch pauschal-negative Aussagen zur Breite der kirchenmusikalischen Praxis (10 ff.), über die Verwendung von Bachs Musik (13), über den Gebrauch der Orgel (13 f.) und über das pro-testantische »Gottesdienstsystem« (22 ff.) provokant. Dieser Eindruck setzt sich fort bei der Kritik, die B. unter den Überschriften »Musikbausteine für den Gottesdienst«, »Aus dem Musikwörterbuch der Gutmenschen«, »Der Wort-Wahn-Witz der Kirchenmusik«, »Lieder, Lieder, nichts als Lieder«, »Geschichten erzählen«, »Musik zum Wohlfühlen« an praktisch allem übt, was die heutige kirchenmusikalische Praxis in Deutschland ausmacht. Dies führt zu der Frage, wie ernsthaft B. bereit ist, bestimmten Phänomenen einer kirchenmusikalischen Praxis ebenso wie bestimmten praktisch-theologischen Ansätzen überhaupt außerhalb seiner Argumentationsabsicht etwas Positives abzugewinnen. Diese Frage stellt sich noch stärker bei einer Detailbetrachtung: Viele Aussagen zu den kritisierten Phänomenen treffen diese einfach rein deskriptiv nicht gut, und es entsteht der Eindruck, dass das ins Auge Gefasste auf die jeweilige Aussageabsicht hin einseitig bewertet wird, und dies teilweise in widersprüchlicher Weise.
Die Präsentation der oben vorgestellten Grundthese B.s in expliziter Gestalt ist damit immer noch nicht erreicht, sondern wird durch weitere, grundlegendere Auseinandersetzungen mit Phänomenen der Religionsgeschichte vorbereitet. Zunächst beschäftigt sich B. mit dem »Kultus« (101 ff.), näherhin mit dem katholischen und protestantischen Gottesdienstverständnis. Der antiken griechischen Religion bescheinigt er sodann wegen ihrer Nähe zu den Erscheinungen der antiken Götter einen sogenannten »heißen Kultus« (115 ff.), wohingegen in der jüdischen Religion (131 ff.) der Kultus bereits »erkaltet« sei. In einem weiteren Abschnitt wird Jesus als l ebendiger Gottesoffenbarer vorgestellt, der aber nur als solcher erfassbar ist, wenn er von der biblischen und nachbiblischen »Wort-Gottes-Theologie« befreit wird (145 ff.). Schließlich wird Paulus als derjenige beschrieben, dessen Theologie die Gottesoffenbarung in Jesus derart ins Universelle hebt, dass lokale Epiphanien nicht mehr als Möglichkeit vorkommen müssen und damit implizit bestritten werden.
Auf diesem Hintergrund wirkt die sich erst ab S. 185 abzeichnende Grundthese B.s wie der heroische Versuch, antithetisch zur gegenwärtigen kirchenmusikalischen Praxis und zur ihr zugrunde liegenden Religions- und Theologiegeschichte wieder zu den ursprünglichen »heißen« Gottesoffenbarungen zurückzukommen, und zwar dadurch, dass er im schieren Dasein von Klang(gerne auch ohne begriffliche Sprache – und ganz gleich, ob analog oder digital erzeugt) solche Offenbarungen postuliert, gleichzeitig aber deren Unverfügbarkeit reklamiert, wohl, um wegen der Un­verfügbarkeit Gottes einen ontologischen Automatismus zu vermeiden. Ontologisch konsequent zu Ende gedacht müsste B. aber gerade einen solchen Zusammenhang behaupten, um sich nicht dem Vorwurf auszusetzen, dass seine These vom punktuellen Er­scheinen Gottes eben doch letztlich auch subjektiv ist, bzw. in einen herme-tischen Mystizismus führt, in dem vielleicht Gott und der Mystiker als Subjekte verschmelzen, der aber nicht minder subjektiv ist.
Im Übrigen ist diese Grundthese des Buches weder originell noch grundsätzlich falsch. Sie steht letztlich in der langen Tradition frommer, subjektiver Gotteserlebnisse, will diese nur gleichsam wieder ins Ontologisch-Objektive wenden, ohne dafür aber eine philosophisch-erkenntnistheoretische Begründung zu liefern. So bleibt sie in der vorgestellten Form erratisch, wirkt willkürlich, und es bleibt auch nach mehrfacher Lektüre der einschlägigen Passagen des Buches unklar, wie nun Gott im Verhältnis zur Welt differenziert gedacht und beschrieben werden kann. Oder wie sich göttliche und menschliche Subjektivität zueinander verhalten. Und inwieweit sich die These, die die Absolutheit und gleichzeitig Unverfügbarkeit einer göttlichen Selbstoffenbarung gleichsam ontologisch postuliert, sich zur menschlichen Erkenntnis, Wahrnehmung und Deutung eines solchen Geschehens verhält. Letztlich muss daher B.s Kritik an allem menschlichen, theologischen, kirchenmusikalischen Deuten von Gottesoffenbarung(en) auf seine Grundthese angewandt werden, denn auch diese kann nur Deutung einer eigenen Erfahrung sein.
Es wäre besser gewesen, die Grundthese des Buches gleich differenziert, z. B. in Auseinandersetzung mit dem, bzw. in Aufnahme dessen, was eine Theorie des religiösen und ästhetischen Erlebens zu Offenbarungsereignissen in Klangphänomenen zu sagen hätte, zu entfalten. Die von B. geäußerte Kritik an der Kirchenmusikpraxis und den ihr zugrunde liegenden theologischen Grundhaltungen wäre damit zu weiten Teilen entbehrlich gewesen oder hätte konstruktiver und zugleich sachgerechter geäußert werden können. Auch hätten viele der von ihm kritisierten Dinge durchaus in positiver Weise auf seine These hin bezogen werden können, z. B. der Klang einer Orgel.
So bleibt leider primär der Eindruck einer oftmals pauschalisierenden und verzerrenden Kritik an bestimmten Ausprägungen von Kirchenmusik, Theologie und Religionsgeschichte als Negativfolie für eine These, die weder gänzlich neu ist noch überzeugend entfaltet wird. Es ist zu vermuten, dass die jeweiligen Fachleute eher Unverständnis für ein solches Vorgehen aufbringen und das Buch nicht zum Anlass nehmen werden, in eine konstruktive und für alle Seiten gewinnbringende Diskussion mit B. einzusteigen.