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Ausgabe:

April/2022

Spalte:

347–349

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Jehle, Frank

Titel/Untertitel:

Die Aarauer Konferenz (1897–1939). Spiegel der evangelischen Theologiegeschichte.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2020. 282 S. m. Abb. Geb. EUR 30,90. ISBN 9783290182984.

Rezensent:

Christian Nottmeier

Dies ist ein schönes und lesenswertes, aber auch ansprechend illus-triertes Buch. Frank Jehle ist pensionierter Schweizer Pfarrer und u. a. Autor einer 2006 erschienenen Biographie Emil Brunners.
1897 fand die »Erste Christliche Studenten-Conferenz der Deutschen Schweiz« in Aarau statt, organisiert und angeregt vom »Zentralkomitee der Christlichen Vereine Junger Männer (CVJM)«. Bis 1939 sollten jeweils für zwei bis drei Tage im Frühjahr zwischen 50 und 150 Teilnehmende die Konferenzen besuchen.
Schon bald erfreuten sich die Aarauer Tagungen auch größerer Aufmerksamkeit über die deutschsprachige Schweiz hinaus. Ne­ben prominenten Theologen aus Deutschland, wie Adolf Schlatter, Ernst Troeltsch, Wilhelm Herrmann, Adolf von Harnack und später auch Paul Tillich, traten hier neben Vertretern der Schweizer Religiös-Sozialen schließlich auch die Vertreter des theologischen Neuaufbruchs nach dem Ersten Weltkrieg wie Karl Barth, Emil Brunner und Friedrich Gogarten auf. 1931 sprach Carl Gustav Jung in seinem Vortrag zum Thema »Psychotherapie und Seelsorge«. Tatsächlich spiegelte sich – wie der Untertitel des Buches es formuliert – in Aarau auch manche Entwicklung der Theologie jener Zeit.
Der Vf. schildert die Entwicklung der Konferenz chronologisch in zwölf Kapiteln. Am Beginn steht die Prägung durch den CVJM, dessen »Oberstleutnant« Charles Fermaud persönlich zur ersten Konferenz angereist war. Schon bald stand die grundsätzliche theologische Ausrichtung der Konferenz zur Debatte, nachdem etliche der »störrischen Deutschschweizer« (34–39) gegen eine zu stark biblizistisch-orthodoxe Prägung aufbegehrten. Dem folgte die »Öffnung für den Liberalismus« (43–56). Zunächst wurde der Schweizer liberale Theologe Paul Wernle »gegen den ausdrücklichen Willen einiger ›älterer‹ Herren« (46) 1904 eingeladen. Es folgten Wilhelm Herrmann 1908 – zu den Zuhörern gehörten auch seine damaligen Schüler Karl Barth und Rudolf Bultmann – und schließlich 1911 Ernst Troeltsch, dessen Referat Karl Barth in einem brieflichen Bericht über seine eigene Teilnahme an der Tagung als »abscheulich« bezeichnete. Im Übrigen sehe Troeltsch »aus wie ein Bierbrauer« (51). Wichtig wird Aarau aber auch als »Plattform der religiös-sozialen Bewegung« (57–78) durch die Auftritte Heinrich Kutters und Leonhard Ragaz’. Kutter predigte auf der Konferenz 1910, Ragaz hingegen war der am meisten präsente Referent überhaupt und trug 1908, 1912, 1916, 1922 und 1928 in Aarau vor. Aufschlussreich ist das Kapitel über »Frauen an der Aarauer Konferenz« (79–98). Seit 1910 waren Frauen als Teilnehmerinnen zugelassen, 1916 und 1917 wurden sogar drei Studentinnen in die vorbereitenden Komitees gewählt. Zwischen 1912 und 1916 traten drei Frauen als Referentinnen auf, u. a. zum Thema der Geschlechterverhältnisse. Ernüchternd ist umso mehr, dass diese Aufbrüche nach 1918 wieder zu einem Ende kamen, was der Vf. wohl zu Recht mit dem Aufkommen der Dialektischen Theologie verbindet: »Die Interessen der jungen Generation verschoben sich. Man verlangte nach mehr ›reiner‹ Theologie« (98). Und Ragaz klagte 1926 über die Neigung der Dialektischen Theologie, »alles (besonders auch das religiös-soziale) Arbeiten, geringschätzig zu beurteilen, Gott und sein Reich so sehr in die Ferne zu rücken, dass das menschliche Tun fast gleichgültig wird« (ebd.).
Tatsächlich sind auch die Anfänge der Dialektischen Theologie eng mit Aarau verknüpft (117–154). Deshalb gehört zu den theologiegeschichtlich bekanntesten Konferenzen die von 1920 (155–180). Hier trafen der Safenwiler Pfarrer Karl Barth, der 1916 erstmals mit seiner Eröffnungspredigt in Aarau als Referent aufgetreten war (128–134), und sein Berliner Lehrer Adolf von Harnack aufeinander. Es ist gut, dass der Vf. in seiner Schilderung dieser bemerkenswerten Begegnung trotz aller Sympathie für die Theologie Barths, die das Buch durchzieht, hier nicht den lange gängigen Deutungen dieses Aufeinandertreffens umstandslos folgt. Barth stilisierte die Tagung von 1920 sogleich unter dem Motto »der Götze wackelt« – und der Bemerkung, Harnack sei »eigentlich einer gebrochener Mann« (156) – nicht ohne theologiepolitische Absichten in der ihm eigenen Einseitigkeit als Sieg über einen nicht mehr zeitgemäßen theologischen Liberalismus – ein zweifellos verzerrtes Bild. Vielmehr war Barth mit Blick auf dieses Aufeinandertreffen im Vorfeld wie in der Nachbereitung deutlich nervöser. Thurneysen musste denn auch mit Blick auf Harnacks Vortrag in Aarau von einem »in seiner Art geglückten und vollendeten Harnacks’schen Vorstoss« (166) sprechen. Tatsächlich stellte Harnacks Vortrag »Was hat die Historie an fester Erkenntnis zur Deutung des Weltgeschehens zu bieten?« ein Glanzlicht der vielen Aarauer Vorträge dar. Der Vf. kann deshalb die zeitdiagnostischen Potentiale Harnacks durchaus wahrnehmen und wertschätzen und fragt: »Ob diese Position als Heilmittel für das verheerte und verunsicherte Deutschland […] stark genug war? Oder bot die junge dialektische Theologie das lösende Wort, nach dem man Ausschau hielt?« (167) Der Vf. sieht dieses »lösende Wort« in Barths Vortrag gesprochen. Allerdings drängt sich beim Vergleich der ausführlich referierten Vorträge Harnacks wie Barths mit Blick auf die konkreten und politischen Herausforderungen der Nachkriegszeit doch der Eindruck auf, dass Harnacks Krisenverarbeitung angesichts der von den Extre men von Links wie Rechts bedrohten neuen Ordnung vielleicht mehr gegenwartspraktisches Potential innewohnte, als nur zu »einem der letzten und ehrwürdigsten Dokumente des Kultur-protestantismus und des Liberalismus des 19. Jahrhunderts« (166) erklärt zu werden. Krisenbewältigungskompetenz wurde jedenfalls auch hier deutlich.
In den Folgejahren geriet die Konferenz selbst in eine Krise. Schon 1921 beklagten sich viele Teilnehmer nach einem Vortrag Friedrich Gogartens über das »grosse Nein, das gegen alle Position und Negation geschleudert worden war« (209). Die Überwindung der Krise gelang nur teilweise, allen Versuchen zum Trotz, die Mannigfaltigkeit der Themen und Referenten auch bei deutlich kleineren und theologisch eindeutig positionierten Teilnehmern zu bewahren. Zu den Höhepunkten gehörten die Auftritte von Paul Tillich 1928 und Carl Gustav Jung 1931. Bemerkenswert sind aber auch Vortragsthemen der Jahre ab 1933, auf die der Vf. nicht näher eingeht, die sich aber der abgedruckten Übersicht zu den Themen aller Konferenzen (263–267) entnehmen lassen. Im März 1933 lautete ein Vortragsthema etwa »Demokratie und christlicher Glaube« – angesichts des Ende der Demokratie im benachbarten Deutschland ein hoch aktuelles Thema, 1936 trat mit Friedrich Siegmund-Schultze ein in Deutschland verfolgter Theologe der ökumenischen Bewegung auf, im März 1939 wurde noch einmal »Der Christ im demokratischen Staat« verhandelt. All diesen Versuchen zum Trotz waren die Konferenzen seit den späten 1920er Jahren doch von einer immer mehr zunehmenden theologischen Verengung geprägt, die der Vf. in seinem Fazit offen anspricht: »Man bewegte sich unter Seinesgleichen und war zufrieden damit, ja sogar entzückt und pflegte eine unité de doctrine. Ein offener Dialog zwischen verschiedenen Positionen fand nicht mehr statt. Damit liessen sich keine grossen Säle füllen« (260). Der Erfolg der Konferenzen lag aber nicht zuletzt in ihrer »Mannigfaltigkeit« (261). Dem ist nichts hinzuzufügen.