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Ausgabe:

April/2022

Spalte:

341–343

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Hermle, Siegfried, u. Harry Oelke [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Kirchliche Zeitgeschichte_evangelisch. Bd. 3: Protestantismus in der Nachkriegszeit (1945–1961).

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2021. 250 S. = Christentum und Zeitgeschichte, 9. Kart. EUR 24,00. ISBN 9783374068913.

Rezensent:

Albrecht Beutel

Auch der jetzt vorliegende dritte Band dieser verdienstvollen vierteiligen Reihe (vgl. zu Bd. 1 ThLZ 145 [2020], 673–675) überzeugt durch informative Präzision und gehaltvolle Sachkompetenz. Sein chronologischer Zuschnitt reicht vom Beginn der Nachkriegszeit bis zur Abschottung der innerdeutschen Grenze 1961, die »auch für den Protestantismus in Ost- und Westdeutschland eine Wendemarke« (7) gesetzt hat. Dass die Bände der Reihe allesamt eine identische Gliederung aufweisen, erleichtert die thematisch fokussierte Nutzung des Gesamtwerks erheblich. Insgesamt wird hier eine »handbuchartige Gesamtdarstellung der kirchlichen Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts« erbracht, freilich nicht, wie es missverständlich heißt, »aus evangelischer Perspektive« (8), sondern in ungebundener wissenschaftlicher Perspektive auf den deutschen Protestantismus.
Abermals konnten die beiden Herausgeber ausgewiesene Expertinnen und Experten zur Mitarbeit anregen. Die einleitend von Harry Oelke entworfene »Gesamtschau« (11–33) bietet eine bündig geraffte Übersicht der Phänomene, Themen und Konstellationen, welche die nachfolgenden Einzelanalysen dann tiefenscharf konturieren. Als wesentlich erweisen sich dabei zwei strukturelle Besonderheiten: einerseits die den Mythos einer »Stunde Null« falsifizierende organische Durchdringung von aktuellen Geschichtslasten und Entwicklungsimpulsen, die den kirchlichen Wieder-aufbau seit Mai 1945 prägte, und andererseits »die Hinwendung zur Übernahme öffentlicher Verantwortung im gesellschaftspo-litischen Raum«, die sich in der Tat als »eine der bedeutendsten Transformationsprozesse der Kirche« (31; ähnlich z. B. auch 35 f.) erwies.
Für die Doppelrolle, die der evangelischen Kirche der Nachkriegszeit im Spannungsfeld von »Protestantismus und Politik« (34–55) zufiel, prägt Claudia Lepp die glückliche Doppelwendung, die Kirche sei »als (Für-)Sprecher des deutschen Volkes« (34) aktiv geworden. Umsichtig rekonstruiert sie dann aber die höchst unterschiedlichen Wege, die der deutsche Protestantismus in der beginnenden deutschen Zweistaatlichkeit nahm, da ihm die westdeutsche Demokratie eine zentrale kooperative Funktion zuerkannte, während er seitens der DDR-Führung mit strukturellem Misstrauen und konfrontativer Einengung bedrängt wurde. »Gesellschaftliche Herausforderungen« (56–77) erkundet sodann Andreas Gestrich in differenzierender Präzision. Er attestiert dem Neubeginn ab 1945 eine un-zureichende Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen, aber spürbare materielle Hilfeleistung für die notleidende Bevölkerung. Als zentrale Themen- und Problemfelder identifiziert er ein dem »Säkularismus« (60) entgegengesetztes politisches Rechristianisierungsprogramm, eine »stark restaurative Familienarbeit und -politik der evangelischen Kirche der Westzone bzw. der Bundesrepublik« (65), aber auch die geforderte Positionierung in der Jugendarbeit, in den Fragen der Wiederbewaffnung und Kriegsdienstverweigerung sowie gegenüber der im Westen virulent werdenden wirtschaftlichen Ordnungsaufgabe und Konsumorientierung.
Für die »Kirchliche Ordnung und Strukturen« (78–100) hebt Karl-Heinz Fix zunächst die »konfliktreiche Verfassungsentwicklung« (79) hervor, berücksichtigt dann die in den späten 1940er Jahren erfolgten konfessionellen Zusammenschlüsse von VELKD und Reformiertem Bund sowie die der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union auferlegten territorialen Einbußen und verfassungsrechtlichen Änderungen, um schließlich anhand von statistischen Daten die Entwicklung der Kirchenmitgliedschaft sowie des kirchlichen Personals und Nachwuchses zu beleuchten. Unter der Überschrift »Kirchliche Milieus und Gruppen« (101–122) führt Klaus Fitschen vor Augen, wie sich die traditionellen protestantischen Verbände, namentlich das Gustav-Adolf-Werk, der Martin-Luther-Bund und der Evangelische Bund, seit 1945 in Ost und West reorganisierten, hebt sodann unter den neu entstehenden Institutionen insbesondere die Evangelischen Akademien (zuerst Bad Boll, September 1945) und die Deutschen Evangelischen Kirchentage (zuerst Hannover, Juli 1949) hervor und bilanziert die anachronis-tische Rolle der unter Zölibatszwang und Ordinationsverweigerung stehenden Frauen, die »in der evangelischen Kirche allenfalls in den Vereinen und Verbänden etwas zu sagen« hatten (117).
Mit klar konturierten Strichen skizziert Arnulf von Scheliha souverän die »Theologische Signatur« (123–143) jener Teilepoche. Während Karl Barth, Ernst Wolf, die Vertreter der Erlanger Theologie oder Paul Tillich an der »Abrundung« ihrer »theologischen Entwürfe« (124) arbeiteten, etablierten sich zugleich neue theologische Themen, die sich, auch in der Aufnahme des von Dietrich Bonhoeffer hinterlassenen Vermächtnisses, den Bedingungen und Herausforderungen des modernen Denkens zu stellen suchten, wobei die Dogmatik insbesondere von Friedrich Gogarten, Rudolf Bultmann, Ernst Fuchs und Gerhard Ebeling, die theologische Ethik hingegen zumal von Helmut Thielicke und Wolfgang Trillhaas modernitätsfähig gemacht worden sei. In dem Zwillingskapitel »Bildung und Kultur« (144–164) informiert Antje Roggenkamp knapp über Schulwesen, Religionsunterricht, Kindergartenarbeit und andere Felder protestantischer Bildungsarbeit, während Maike Schult sich vornehmlich auf den Kirchenbau, zumal das bedeutende Notkirchenprogramm Otto Bartnings fokussiert, daneben auch die andersartigen kirchlichen Kulturbedingungen in der DDR berücksichtigt und für Westdeutschland das auf das Rundfunk-, Fernseh-, Film- und Pressewesen zielende kirchliche Engagement hervorhebt, dessen Innovationspotential beispielhaft in dem Umstand zutage tritt, dass das seit 1954 im Ersten Deutschen Fernsehen ausgestrahlte »Wort zum Sonntag« nach der »Tagesschau« die älteste Sendung darstellt (158).
Für die »Ökumene« (165–187) erhellt Thomas Martin Schneider eindringlich die drei ersten, 1948 in Amsterdam, 1954 in Evanston (USA) und 1961 in Neu Delhi abgehaltenen ÖRK-Weltkirchenkonferenzen, würdigt dann den international vernetzten Einsatz des 1947 gegründeten Lutherischen Weltbundes sowie die unter Papst Johannes XXIII. spürbar Fahrt aufnehmenden evangelisch-katholischen Verständigungsversuche und verweist auf die Problemgeschichte des Kirchlichen Außenamtes der EKD, dessen Leitung in der »ungestümen Persönlichkeit« (186) Martin Niemöllers jedenfalls nicht die ideale Besetzung fand. Im Kapitel »Diakonie« (188–208) verfolgt Norbert Friedrich den Einigungsprozess des traditionellen Centralausschusses für Innere Mission und des von Eugen Gerstenmaier neu initiierten Evangelischen Hilfswerks und verdeutlicht die zumal in den Diakonissenhäusern sich zusehends verschärfende Personalsituation. Als bedeutsam erzeigte sich insbesondere die 1959 erstmals durchgeführte Aktion »Brot für die Welt«, deren Kennzeichnung als »ökumenische Diakonie« (205) nicht auf einen transkonfessionellen, sondern auf den weltweiten Zuschnitt dieser evangelischen Einrichtung zielt. Höchst umsichtig, kundig und sensibel erörtert Siegfried Hermle abschließend das Verhältnis von »Christen und Juden« (209–230), das sich in der Nachkriegszeit zwischen der ungebrochenen Forderung einer evangelischen Judenmission und der zunächst wirkungslosen Anerkennung einer bleibenden Verheißung Gottes »über dem von ihm erwählten Volk Israel« (227) mühevoll zu entwickeln hatte.
Ein umfangreiches Literaturverzeichnis (231–243) vertieft die jedem Kapitel beigegebenen knappen Lektüreempfehlungen in eine repräsentative thematische Gesamtbibliographie. Zugleich erleichtert das um Lebensdaten erweiterte Personenregister (244–250) den spezifischen Zugriff; dass dabei drei Oberhäupter der römisch-katholischen Kirche nicht unter ihrem Pontifikatsnamen, sondern unter »Papst« einsortiert wurden, bleibt ohne Belang. Die insgesamt überzeugende Qualität dieses im Taschenformat erstellten Handbuchs wird durch etliche thematische Wiederholungen, die man als Repetitionsanreiz gerne in Kauf nehmen mag, nicht getrübt. Umso mehr erheischt die hier versammelte Fachkompetenz dankbaren Respekt und intensiviert zugleich die Vorfreude auf den gewiss bald folgenden letzten, den Bogen bis in das Wendejahr 1989 vollendenden Band.