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Ausgabe:

April/2022

Spalte:

336–337

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Dreier, Horst

Titel/Untertitel:

Kirche ohne König. Das Ende des landesherrlichen Kirchenregiments (»Bündnis von Thron und Altar«) 1918/19 unter besonderer Berücksichtigung Preußens und Württembergs.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2020. XVII, 253 S. Kart. EUR 19,00. ISBN 9783161596940.

Rezensent:

Heinrich de Wall

Unter dem Titel »Kirche ohne König« beschäftigt sich Horst Dreier mit dem »Ende des landesherrlichen Kirchenregiments (»Bündnis von Thron und Altar«) 1918/19 unter besonderer Berücksichtigung Preußens und Württembergs« – so der Untertitel des Buches, der dessen Inhalt deutlicher werden lässt. Es enthält aber nicht nur eine Beschreibung der Vorgänge in den revolutionären Wirren der Jahre 1918/19, sondern verdeutlicht zugleich Sinn und Zweck des Art. 137 I WRV. Nach dieser Vorschrift, die auch heute noch geltendes Verfassungsrecht ist, besteht keine Staatskirche. Hervorgegangen ist der Band aus einem Festvortrag für die Württembergische Landeskirche. So erklärt sich die Auswahl Württembergs neben Preußen als dem bei Weitem größten und wichtigsten Deutschen Land. Beide Länder sind allerdings auch Beispiele für ganz unterschiedliche Entwicklungen in den Umbruchjahren und stehen damit für die föderale Vielfalt, die auch in den Ereignissen 1918/19 deutlich wird.
In einem ersten Abschnitt (1–23) beschäftigt sich D. mit dem Verbot der Staatskirche in der »rätselhaften Schlüsselnorm« des Art. 137 I WRV. Dessen Aussage erscheint besonders deshalb rätselhaft, weil man sich unter den Zeitgenossen eigentlich einig war, dass in Deutschland auch vor 1918 kein Staatskirchentum existiert habe. Entfaltet wird dann, dass die Stoßrichtung dieser Vorschrift das landesherrliche Kirchenregiment gewesen ist. Dessen bekannte frühneuzeitliche Begründungsvarianten – Episkopalismus, Territorialismus und Kollegialismus – werden in einem Exkurs be­schrieben. Der zweite Abschnitt beschäftigt sich dann auf etwa 50 Seiten mit dem landesherrlichen Kirchenregiment im 19. Jh. in seiner Entwicklung und legt dort insbesondere die Tendenzen zur »Verselbständigung kirchlicher Behörden und Ausbildung presbyterial-synodaler Organisationsstrukturen« an den Beispielen Preußens und Württembergs dar. Besonders deutlich wird dabei der bürokratische und obrigkeitliche Charakter der Württembergischen Kirchenordnung (57 ff.). Auch der Begriff des und die Kontroversen um den »kirchlichen Konstitutionalismus« werden bündig beschrieben. Der dritte Abschnitt behandelt dann den thematisch im Zentrum stehenden »staatskirchenrechtlichen Umbruch von 1918/19« (75–131). Dabei wird mit plastischen Ausführungen herausgearbeitet, dass und wie dieser Umbruch in Preußen und Württemberg ganz unterschiedlich verlief. Während D. die Entwicklung in Preußen als »disruptives Ereignis« beschreibt, stellt er die Entwicklung in Württemberg als »evolutionären Übergang« dar (103 ff.). Auch hier wirft er einen Blick zurück in eine frühere Epoche, nämlich die »Religionsreversalien 1729–1734«, in denen wichtige Grundlagen für den Württembergischen Weg gelegt wurden. Sehr anschaulich wird auf dieser Grundlage dargelegt, wie man sich in Württemberg die Vorkehrungen zu Nutze machen konnte, die in den Gesetzen Württembergs für den Konfessionswechsel des Landesherrn getroffen worden waren. Dies ermöglichte einen rechtlich bruchlos geordneten Übergang der kirchenre-gimentlichen Rechte des Landesherrn. Am Ende des dritten Ab­schnitts beschäftigt sich D. mit der Haltung des Protestantismus zur neuen Situation einer »Kirche ohne König« und wirft die Frage auf, ob darin »Verlusterfahrung oder Freiheitsgewinn« gesehen wurde. Für beide Betrachtungsweisen gibt es Beispiele und Belege. Im vierten und letzten Abschnitt des Buches (133–148) wird dann »der Religionskompromiss der Weimarer Reichsverfassung« dargelegt und werden dabei »Traditionen und Innovationen« der Weimarer Ordnung herausgearbeitet. Für den heutigen Betrachter ist es geradezu erschreckend, dass sich Kardinal Faulhaber zu einer Gleichsetzung der Möglichkeit der Abmeldung der Schulkinder vom Religionsunterricht mit dem Bethlehemitischen Kindermord hinreißen ließ, wie D. in einem Exkurs darstellt. Es zeigt aber, wie überhitzt die Debatte um eine Ordnung des Staat-Kirche-Verhältnisses zum Teil war. Die besondere Qualität der durch die Weimarer Nationalversammlung gefundenen Kompromisslösung wird durch ihre in Art. 140 GG angeordnete Fortgeltung unterstrichen. Am Ende der Ausführungen legt D. dar, dass die Weimarer Regelung das Ende religiöser Legitimation des Staates bedeutete (144). Damit knüpft er an sein Buch »Staat ohne Gott« (2018) an. Im vorl iegenden Band arbeitet D. den Wert der wechselseitigen Unabhängigkeit von Politik und Religion, Staat und Kirche heraus und betont von hier aus die besondere Bedeutung der »Zentralnorm« des Art. 137 I WRV, die Ausgangspunkt seiner Ausführung war (147 f.). Eine Auswahlbibliographie, ein Dokumentenanhang und ein Personenregister runden das Buch ab.
Insgesamt stellt »Kirche ohne König« eine ausgezeichnete und ausgesprochen gut lesbare Darstellung des Umbruchs dar, den das Ende des landesherrlichen Kirchenregiments 1918/19 bedeutete, und zeigt die politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen und Folgen dieses Umbruchs auf. D. führt die Bedeutung der Trennung von Staat und Kirche, wie sie in Art. 137 I WRV gemeint war, vor dem Hintergrund dieser Geschichte eindrücklich vor. Dass das Buch ausgesprochenes Lesevergnügen bereitet, ist angesichts des nicht einfachen verfassungshistorischen Themas Ausweis der be­sonderen Kunst des Autors.