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Ausgabe:

April/2022

Spalte:

334–335

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Grunewald, Thomas

Titel/Untertitel:

Politik für das Reich Gottes? Der Reichsgraf Christian Ernst zu Stolberg-Wernigerode zwischen Pietismus, adligem Selbstverständnis und europäischer Politik.

Verlag:

Wiesbaden: Harrassowitz 2020. XII, 452 S. m. 16 Abb. u. 2 Tab. = Hallesche Forschungen, 58. Kart. EUR 72,00. ISBN 9783447114806.

Rezensent:

Susanne Schuster

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Friedeburg, Robert von: Luthers Vermächtnis. Der Dreißigjährige Krieg und das moderne Verständnis vom »Staat« im Alten Reich, 1530er bis 1790er Jahre. Frankfurt a. M.: Verlag Vittorio Klostermann 2021. XIV, 560 S. = Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte, 320. Kart. EUR 98,00. ISBN 9783465043690.


Die vorliegende Monographie ist die überarbeitete und ins Deutsche übersetzte Fassung des 2016 in der Cambridge University Press erschienenen Buches Luthers Legacy. The thirty Years War and the Modern Notion of the »State« in the Empire, 1530s–1790s. In kritischer Auseinandersetzung mit Forschungen zur Geschichte der Frühen Neuzeit legt Robert von Friedeburg fundierte Quellenanalysen und neue Befunde zur Entstehung des modernen Staatsverständnisses im Rahmen seiner europäischen Entwicklung vor: Luthers »Vermächtnis« einer scharfzüngigen Fürstenkritik und die besondere Kleinräumigkeit der deutschen Herrschaftsverhältnisse haben, so die stabil begründete These, dem im 17. Jh. ausdifferenzierten Konzept des »Fürstenstaates« (15) seinen spezifisch deutschen Stempel aufgedrückt.
Um die damit verbundene Entwicklung nachzuzeichnen, wird zunächst der Gebrauch des Terminus »Staat« in der deutschsprachigen Historiographie zum Alten Reich in den Blick genommen. Ausgangspunkte sind dabei Friedrich Meineckes Frage nach der Idee der Staatsräson und die tiefgreifend gewandelte Bewertung des Territorialstaats auf deutschem Boden (Kapitel I). Im Unterschied zur verbreiteten Forschungsmeinung, der moderne Begriff des Staates sei in erster Linie aus der praktischen Ausgestaltung der Fürstenherrschaft hervorgegangen, sieht F. in ihm eher eine ideengeschichtliche »Kopfgeburt« (100) gerade gegen die vermeintliche Willkür und Scheckensherrschaft der Fürsten, wie im Folgenden anhand von Schriften wie Vom Auffstand der Unteren wider ihre Regenten (1633) aus der Feder des Reiseschriftstellers und Mitglieds der sachsen-weimarischen Landstände, Johann Wilhelm Neumair von Ramsla, aufgezeigt wird. Im Rückgriff auf einschlägige Forschungen zu königlichen Rechten und fürstlichen Dynastien im Reich wird der Gegenstand zunächst in den weiten, allerdings vom Buchtitel abweichenden Horizont des 14. bis frühen 17. Jh.s eingeordnet (Kapitel II). Dabei stellt sich heraus, dass in diesem Zeitraum weder Fürsten oder Stände noch Untertanen in den Kategorien des modernen Staates i. S. einer Rechtsperson der öffentlichen Ordnung gedacht haben.
Anstelle eines eigentlichen Staatskonzepts lassen sich daher allenfalls wichtige, im Laufe der Zeit entwickelte Elemente der Reflexion über die weltliche Herrschaft bzw. das Gemeinwesen aus den Quellen herausarbeiten: das Verständnis der Lehen als polis vor dem Hintergrund der Rezeption antiker Autoren, der Nachdruck auf christliche Obrigkeitsverantwortung für die Wohlfahrt der Untertanen, das Hervortreten territorialrechtlicher Ansprüche, das Naturrecht als Katalog bindender Rechtsregeln sowie die Konstitution nichtobrigkeitlicher Räte (Kapitel III). Mit dieser Bausteinsammlung soll den alten Versuchen einer einheitlichen Wesensbestimmung der lutherischen Reformation ebenso widersprochen werden wie der These eines aus ihr hervorgehenden, konsequenten Naturrechts der Notwehr gegenüber einer tyrannischen Obrigkeit, beispielsweise im Kontext des Schmalkaldischen Krieges: Gegenüber den erheblichen Abschwächungen, die F. etwa in Philipp Melanchthons Überarbeitung der Schrift Von der Notwehr Unterricht (1547) erkennt, bleibt allerdings die friedensethische Inten-tion unterbelichtet, mit welcher der humanistische Reformator nicht zuletzt die Kriegspolemik der alttestamentlich verankerten Dreistände- und Antichristlehren in die Fundamentalunterscheidung zwischen geistlichem und weltlichem Regiment überführt. Zwar gilt: »wo [der] obrigkeitliche Schutz vorhanden ist, darf es auch keinen Widerstand und keine Gegenwehr geben« (194 f.), aber die Beurteilung dessen scheint Melanchthon im Rückgriff auf den naturrechtlichen lumen-Begriff durchaus verallgemeinern zu können.
Während der Krise des Reichs in den 1580er bis 1620er Jahren veränderten sich die Ideen guter Ordnung im Rahmen verschiedener Schulbildungen, indem beispielsweise die Fürstentümer vermehrt als »Vaterland« (209) beschrieben und Staatskonzeptionen etabliert wurden, die zunehmend auf abgeschlossene Herrschaftsbezirke mit eigenen Rechtsbedingungen zielten (Kapitel IV). Spätestens seit dem frühen 17. Jh. sahen sich allerdings die Reflexionen über weltliche Herrschaft und christliches Gemeinwohl durch die Rezeption der Lehren von der ratio status erkennbar herausgefordert (Kapitel V). Mit Blick auf deutschsprachige Traktate und Satiren der 1630er und 1640er Jahre schreibt F. insbesondere zeitgenössischen »Verschwörungstheorien« (258), wonach fürstliche Ratgeber die Politik ihrer Vorgesetzten mit Niccolò Machiavellis Machtprinzipien infiziert hätten, um Kriege zu inszenieren und Unteranen zu berauben, gewisse historische Anhaltspunkte zu.
Nach einem sehr langen Anlauf rückt nun die titelgebende Katastrophe des Dreißigjährigen Krieges in den Mittelpunkt, die zu bitteren Konfrontationen zwischen Fürsten und Lehensleuten und in einigen Gebieten zum Komplettzusammenbruch dieser Beziehungen führte, weil nicht zuletzt unvereinbare Vorstellungen vom Gemeinwesen aufeinanderprallten (Kapitel VI). Dass im Kontext des Dreißigjährigen Krieges der ihn beendende Westfälische Friedenskongress nur am Rande erwähnt wird, muss überraschen, zumal hier doch die Überwindung der Staatenbellizität und Etablierung einer europäischen Konflikt- und Friedenskultur geschichtsträchtig auf ein neues Fundament gestellt worden ist (unbeschadet jeder historisch berechtigten Skepsis gegenüber der völkerrechtsgeschichtlichen Theorie eines Westphalian System). Nimmt man jedoch in Kauf, dass eigentliche Kriegsereignisse und Friedensverhandlungen hier nur eine untergeordnete Rolle spielen, vermögen die Analysen beispielsweise der anonym veröffentlichten Satire Alamodischer Politicus (1647) in ihrer Detailtiefe durchaus zu beeindrucken.
Nach dem Krieg waren für die Wiederherstellung der Beziehungen zwischen Fürsten und Lehensleuten neue Grundlagen zu schaffen, wie F. auf der Basis mehrerer landesgeschichtlicher Beispiele aufzeigen kann. Im Zentrum des Buches steht deshalb eine Neuinterpretation des lutherischen Staatstheoretikers und Historikers Veit Ludwig von Seckendorff, der mit seinem Teutschen Fürs-tenstaat (1656) ein modernitätsträchtiges Konzept vom Staat als Träger der öffentlichen Ordnung bzw. Einheit aus Gebiet, Bevölkerung und Recht vorgeschlagen und damit die alten, patriarchalisch-despotischen Modelle fürstlicher Hausherrschaft überwunden habe (Kapitel VII). In der Vorstellung, dass Fürsten wie Untertanen als »Freygeborne« (403) der gleichen Rechtsordnung des Staates gehorchen, sieht F. ein wegweisendes Kompromissangebot, das dann in den naturrechtlichen Arbeiten eines Samuel von Pufendorf aufgenommen und popularisiert worden sei. Seckendorffs einflussreiche kirchengeschichtliche Studien bleiben dabei allerdings ebenso unberücksichtigt wie sein – gegenüber säkularem Naturrecht durchaus kritisch eingestellter – Christenstaat (1685).
Um die spezifisch deutschen Kennzeichen im Rahmen der ge­samteuropäischen Entwicklung des Staatskonzepts weiter zu profilieren, werden diese im letzten Kapitel von den französischen Vorbildern des Angriffes auf den »Kriegsdepotismus« (475) abgegrenzt, wobei nicht nur Jean Bodin und Charles de Montesquieu im Mittelpunkt stehen (Kapitel VIII). Die Hegung und Wahrung des Rechts sowie seine Emanzipation von Dynastien und Konfessionskirchen erweisen sich am Ende als zentrale Aufgaben des »werdenden« modernen Staates. In diesem Zusammenhang verleiht F. seiner grundsätzlichen Ausrichtung »gegen Wolfgang Reinhard und seine […] vor allem auf Fragen der Organisation der Macht abhebende Sichtweise« (503) auch dadurch Ausdruck, dass dessen breit rezipierten Werke zur Geschichte der Staatsgewalt und Konfessionalisierung weder im Text noch im Literaturverzeichnis herangezogen oder genannt werden. Diese Abgrenzung tritt in der vorlieg enden deutschen Fassung umso expliziter hervor. Zudem wird das im englischen Original noch als »moral commitment« um­schriebene »Vermächtnis« Luthers nun ganz auf dessen sprachgewaltige »Wut und Empörung über den Verrat der Fürsten an ihrem gottgegebenen Amt« (504) konzentriert.
Unabhängig von der hier nicht zu entscheidenden Frage, ob die Langzeitwirkungen der Reformation damit hinreichend erfasst sind, dürfte mit der vorliegenden Überarbeitung und Übersetzung ein wesentlicher Beitrag zur politischen Ideengeschichte seine Rezeptionsfähigkeit nochmals erheblich ausgebaut haben. Intensivierte archivalische Forschungen des anerkannten Frühneuzeithistorikers stellen den Mehrwert umso deutlicher heraus. Der sehr weit gewählte Untersuchungszeitraum, der höchst komplexe Zu­griff und der bisweilen redundante Schreibstil machen das Buch trotz des mustergültig erstellten Personen- und Sachregisters zu einer sehr anspruchsvollen Lektüre. Dennoch wird an ihm nicht vorbeikommen, wer sich im 21. Jh. mit der Genese des modernen Staatskonzepts beschäftigt.

Münster (Westf.) Marco Stallmann




Mit dieser Arbeit, die Andreas Pečar und Holger Zaunstöck betreut haben, wurde Thomas Grunewald an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg zum Dr. phil. promoviert. Angeregt wurde die Untersuchung durch das Volontariat, das der Vf. im Rahmen der Jahresausstellung der Franckeschen Stiftungen »Adel und Hallescher Pietismus« 2014 absolvierte.
In der Einleitung wird der Forschungsstand dargelegt, jedoch verzichtet der Vf. darauf, einige Forschungsarbeiten, die in der Darstellung eine wesentliche Rolle spielen, in diesem Abschnitt vorzustellen. Dies gilt insbesondere für die Studie von Mareike Fingerhut-Säck zu Christian Ernst von Stolberg-Wernigerode und seiner Frau (2019). In den Blick kommen die Themenbereiche Pietismus und Adel, Christian Ernst zu Stolberg-Wernigerode, der Pietismusbegriff und Konzepte von Netzwerken. Zwar beklagt der Vf. die fehlende Klarheit, die die Pietismusforschung über ihren Gegenstand besitzt, bietet aber letztlich keine Alternative. Für die Netzwerkkonzepte verwirft der Vf. die Ansätze von Gleixner und Müller-Bahlke und stützt sich auf die Modelle von Lißmann und Pyrges, welche nicht die Idee eines allumfassenden pietistischen Netzwerkes verfolgen. Ausführlich geht der Vf. auf die Quellensituation ein, die durch eine Nutzungsbeschränkung wichtiger Akten geprägt war und verhinderte, alle Fragen angemessen zu klären.
Die Leitfrage »Was wollte der Reichsadel von Halle?« ist weit gefasst und wird in der Studie lediglich an einem Protagonisten erarbeitet. Dabei wird der Außenpolitik des Reichsgrafen Christian Ernst zu Stolberg-Wernigerode sowie seinen bündnispolitischen Bemühungen breite Aufmerksamkeit geschenkt. Weiteren Studien zum Thema Pietismus und Adel wird es vorbehalten sein, zu prüfen, ob sich die an diesem Beispiel erarbeiteten Erkenntnisse auf andere Vertreter des Hochadels übertragen lassen.
Der Hauptteil der Arbeit umfasst zwei umfangreiche Kapitel. Ziel des ersten Kapitels des Hauptteils ist es, das durch den Pietismus veränderte adlige Standesbewusstsein sichtbar zu machen und die Grundlagen für das zweite Kapitel des Hauptteils zu schaffen. Über die Eheallianzen der Stolberger Grafen wird das Thema adliger Pietismus erschlossen. Die seit Langem bekannte Bindung des Grafen Christian Ernst von Stolberg-Wernigerode an den Halleschen Pietismus und dessen Netzwerk wird ausgeführt und der Graf als Pietist charakterisiert – eine Zuordnung, die nicht auf je-des Mitglied des Netzwerkes angewandt werden kann. Das pietis-ti sche Wirken des Grafen soll schließlich anhand der Baupolitik aufgezeigt werden. Dafür wird die Bauakttheorie von Süßmann aufgegriffen. Was jedoch an der Überformung der Bauten pietis-tisch ist bzw. wie diese Überformung im pietistischen Kontext rezipiert wurde, kann nicht in jedem Fall in überzeugender Weise dargestellt werden. Am ehesten gelingt dies noch für die Schlosskapelle, die zum Ort der Memorialkultur der Grafenfamilie ausgebaut wurde und auch zum Gottesdienstort der pietis-tisch Gesinnten avancierte. Was jedoch an anderen baulichen Umgestaltungen, die teilweise der Herrschaftsmemoria dienten, pietistisch sein soll, wenn wie z. B. am »Denkmal der göttlichen Errettung« dessen Inschrift nur von Insidern gedeutet werden kann, bleibt offen.
Kernpunkt der Studie sind die diplomatischen Beziehungen des Grafen nach Preußen, Hannover-London und Dänemark, die teils über verwandtschaftliche Kontakte, teils über das Hallesche Netzwerk geknüpft wurden. Hierfür nutzt der Vf. den Begriff des Images und konstatiert, der Graf habe sich das Image eines Pietis-ten aufgebaut und mit Hilfe dieses Images »Politik im Reich Gottes« gemacht. Hier bleibt offen, welche Impulse der Imagebegriff der Pietismusforschung liefert. Die interessanten und bereits diskutierten Aspekte des Selbst- und Fremdbildes eines Pietisten spielen in der Darstellung keine Rolle. Inhaltlich unbestimmt bleibt, was konkret unter der »Arbeit oder Politik im Reich Gottes« zu fassen ist bzw. wie sie von Graf Christian Ernst von Stolberg-Wernigerode verstanden wurde. Möglicherweise hatte Graf Christian Ernst von Stolberg-Wernigerode eine Vorstellung davon, was er als »Arbeit am Reich Gottes« ansah, doch diese Idee wird nicht vermittelt und bleibt blass hinter der Darstellung all der diplomatischen Bemühungen des Grafen.
Das zweite Kapitel des Hauptteils widmet sich der Idee der Balance in Europa, die der Graf zu verfolgen schien. Dabei sind wieder die Herrscherhäuser von Preußen, Dänemark und Hannover-London im Blick und die Projekte, die der Graf jeweils verfolgte, mit denen er jedoch an allen Höfen scheiterte. Es fehlt eine Reflexion dieses Scheiterns der »Politik für das Reich Gottes« und, wie sich dieses Misslingen auf das Image auswirkte. Gern hätte man erfahren, woher Graf Christian Ernst von Stolberg-Wernigerode seine höhere Agenda der Balance in Europa hatte, ob er diese dokumentierte und wie er sie selbst deutete. Auch wäre spannend zu wissen, in welcher Weise die diplomatischen Partner des Grafen zur Imagebildung beitrugen oder ob nicht andere Aspekte wesentlicher für das Knüpfen der diplomatischen Beziehungen waren.
Im Fazit wird konstatiert, dass der Hallesche Pietismus dem Adel Sinnstiftung, Handlungsanleitung und Erweiterung der Handlungsoptionen, einschließlich einer außenpolitischen Komponente, bot. Für Christian Ernst von Stolberg-Wernigerode mag das so gewesen sein, doch verallgemeinern lassen sich diese Erkenntnisse wohl noch nicht, da Vergleichsmöglichkeiten fehlen. Die Darstellung ist ungemein detailreich für alle, die an diplomatischen Fragen, die zwischen Wernigerode, Hannover-London, Preußen und Dänemark verhandelt wurden, interessiert sind. Die theologische Dimension der Frömmigkeitsbewegung des Pietismus oder das, was der Graf inhaltlich unter der »Arbeit am Reich Gottes« verstand, sind in dieser allgemeinhistorischen Studie nicht immer leicht zu fassen, und es befriedigt nicht, wenn der Vf. dabei auf die fehlende Klarheit des Gegenstandes, mit dem er sich selbst befasst, verweist.