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Ausgabe:

April/2022

Spalte:

329–331

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Bergermann, Marc

Titel/Untertitel:

Historia Pelagiana. Wahrnehmung und Darstellung des pelagianischen Streites in der protestantischen Kirchenhistoriographie des 18. Jahrhunderts.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2021. XVIII, 462 S. = Beiträge zur historischen Theologie, 198. Lw. EUR 109,00. ISBN 9783161590702.

Rezensent:

Ingo Klitzsch

In den letzten beiden Jahrzehnten ist die »Aufklärung« verstärkter in den Fokus der kirchenhistorischen Forschung getreten. Dennoch ist nicht selten immer noch »Neuland« zu betreten. Dies gilt z. B. für das Thema der vorliegenden, bei Albrecht Beutel verfass-ten Münsteraner Dissertation von Marc Bergermann. Diese ist der »historia Pelagiana« gewidmet, worunter die »Geschichte des pe-lagianischen Streites« wie »unterschiedliche Versuche kirchenge schichtlicher Darstellungen des Streites« (4, Anm. 10) verstanden werden. Damit ist zugleich angedeutet, dass die Studie bewusst an der »Schnittstelle zwischen Patristik und neuzeitlicher Kirchengeschichte« (VIII) angesiedelt ist, darüber hinaus aber auch vielfältige systematisch-theologische Implikationen aufweist (6 f.). Um vor diesem weiten Horizont das anvisierte Thema bearbeiten zu können, ist eine klare Eingrenzung notwendig.
Als »generelle Leitfrage« benennt B., »wie der pelagianische Streit des frühen 5. Jh.s, seine Akteure und die in ihm verhandelten Lehrmeinungen innerhalb der protestantischen Kirchengeschichtsschreibung des 18. Jh.s wahrgenommen, dargestellt und beurteilt wurden« (6). Im Hintergrund steht die These, »dass in diesem Zeitraum ein signifikanter Wandel in dessen Rezeption und Darstellung stattgefunden hat« (ebd.).
Diese Leitfrage wird in mehreren Schritten weiter begründet: Mit den Hinweisen auf die »Aktualität« der »Grundfragen des pelagianischen Streites im theologischen Diskurs des 18. Jahrhunderts« (7) bzw. auf die damals greifbare »Professionalisierung der Kirchengeschichtswissenschaft« (9), aber auch – bereits stärker methodisch konnotiert – auf die Konzentration auf die Nachzeichnung »prägnant[er] Topoi« (10) oder auf das Kriterium der Innovativität (11). Dezidiert mit Blick auf die Quel lenauswahl werden als weitere Kriterien die Repräsentativität (12 f.), aber auch die »Popularität und Verbreitung« (13) ergänzt. Zudem wird bereits an dieser Stelle eine Hinführung zu den im Folgenden analysierten »Wegmarken innerhalb des 18. Jahrhunderts« (14) geboten, die auch kurze Hinweise zu den Autoren enthält (15–26). Weiterhin schärft ein mehrperspektivischer Forschungsüberblick, vornehmlich bezogen auf die Rezeptionsgeschichte des Streites bzw. dessen Protagonisten Augustinus und Pelagius, aber auch auf die Kirchengeschichtsschreibung in der Aufklärung und auf Vorarbeiten zu Arnold und Semler, B.s Zugriff (27–36). Dieser wird in Anlehnung an Gunter Grimm als »subjektperspektivisch[e], ob­jektorientiert[e] Rezeptionsgeschichte« (37) bestimmt. Gefragt wird: »Wie rezipierten die verschiedenen Leser (subjektperspektivisch), konkret die ausgewählten Kirchenhistoriker, das Objekt, den pelagianischen Streit (objektorientiert)« (ebd.)? Dem entsprechend werden die einzelnen Texte nacheinander analysiert: einerseits nach einer »übergeordneten Gliederungsmatrix«, d. h. dem Aussagegehalt zum Streit selbst, dessen kirchenpolitische Dimension, die dogmatischen Streitfragen und die Akteure (37 f.). Andererseits werden aus den Texten weitere »Topoi« erhoben (38).
Eröffnet werden die so methodisch eingeführten Analysen mit einer Darstellung der »Ausgangslage« (41–67). Dieser erste Hauptteil entfaltet »skizzenhaft« (44) die literarischen Niederschläge bzw. die »polemische Instrumentalisierung« der »historia Pelagiana« in konfessionellen Streitigkeiten des 17. Jh.s: im »Remonstrantenstreit« (Reformiertentum), im »Gnadenstreit« (Katholizismus) und in der transkonfessionellen patristischen Debatte um die Autorität der Kirchenväter. Damit geraten die Debatten in Frankreich, den Niederlanden und England in den Blick; der deutsche Sprachraum und das Luthertum blieben damals noch außen vor. Dennoch bilden methodisch die protestantischen Kirchengeschichtswerke des 18. Jh.s bereits implizit B.s Bezugsrahmen. Deren Analysen erfolgen dann in drei weiteren Hauptkapiteln. Diese spiegeln die Grundthese des Wandels hin zu einer »positiven« Rezeption von Pelagius und seinen Lehren bei gleichzeitig zunehmender Kritik an Augus-tinus wider. Unter der Überschrift »Aufbruch und Zwischenstationen« werden Gottfried Arnolds Unpartheyische Kirchen- und Ketzerhistorie (1699/1700), die Institutiones von Johann Lorenz von Mosheim (1755) sowie Siegmund Jakob Baumgartens Auszug aus der Kirchengeschichte (1746) bzw. Geschichte der Religionspartheyen (1766) in den Blick genommen. Als »Wendepunkt und Hinwendung« werden von Johann Salomo Semler zum einen die Historische Einleitung (1764) zu Baumgartens dreibändiger Untersuchung theologischer Streitigkeiten, zum anderen die Edition von Pelagius’ Brief an Demetrias (1775) sowie von Christian Wilhelm Franz Walch der Entwurf einer vollständigen Historie der Ketzereyen (1768) entfaltet. Ist bereits der letztgenannte Name mehr über den bis heute we-gen seiner Lutherausgabe berühmteren Vater be­kannt, haben die Vertreter der dritten Phase, der »Schlussfolgerungen und Nach-gedanken«, die als »Ethisierung« näher spezifiziert wird, bisher noch weniger im Fokus der Forschung gestanden: Neben Ludwig Timotheus Spittlers Grundriß der Geschichte der christlichen Kirche (1782) treten Heinrich Philipp Konrad Henkes Allgemeine Geschichte der christlichen Kirche nach der Zeitenfolge (1788) sowie Johann Matthias Schroeckhs Christliche Kirchengeschichte (1790). Bei all diesen Quellen werden die auf den pelagianischen Streit bezogenen Abschnitte sehr kleinteilig und aufmerksam analysiert.
Dass Semler in den Analysen mit über 100 Seiten mit Abstand das größte Gewicht erhält, ist thematisch begründet und spiegelt nicht die lange Zeit die Aufklärungsforschung bestimmende, zu einseitige Konzentration auf den Hallenser wider. Dennoch ist bei der jeweiligen Quellengrundlage der einzelnen Kapitel ein gewisses Missverhältnis zu konstatieren. Insbesondere bei Arnold und von Mosheim mutet die jeweilige Textbasis mit fünf bzw. zwei Seiten sehr knapp an für die rezeptionsgeschichtlichen Analysen und Folgerungen, die bewusst unter Verzicht auf eine »Darstellung der dogmatisch-theologischen Ansichten oder der vertretenen Geschichtskonzeptionen der jeweiligen Autoren« (6, Anm. 20) erfolgen.
Nicht immer ganz leicht ist es zudem, die jeweilige von B. verwendete Ausgabe zu identifizieren, da wichtige Angaben zum Teil in der Einleitung, zum Teil im Analysekapitel gegeben werden. Hier hätte B. durch die Nennung der VD 18-Nummern schnell Abhilfe schaffen können. Und vielleicht hätte bei der Darstellung auch die eine oder andere »leichtfüßige« Formulierung überdacht werden können, z. B. wenn Augustins Argumentation mit dem geheimen Ratschluss Gottes als »Totschlagargument« (198) be­zeichnet wird oder Arnold »Origenes als einen Kirchenvater dar[stellt], der die Lehre vom freien Willen deutlich krasser formuliert habe als später Pelagius« (121), oder Walch sich gegen ein »›anything goes‹ im christlichen Glauben« gewendet habe und die Zu­sammenfassung von Schroeckhs Interpretation der Synode von Diospolis lautet, dass sich »beide Seiten […] nicht mit Ruhm bekle-ckert« (398) hätten.
Ungeachtet solcher kleineren Anfragen bieten B.s detaillierte Interpretationen einen tiefen Einblick in die »historia Pelagiana« im 18. Jh. und zugleich wichtige Impulse sowohl für die Patristik wie auch für die neuzeitliche Kirchengeschichte, nicht nur in his­torischer Perspektive, im Sinne einer genaueren Kenntnis der Vorgeschichte der heutigen Darstellungen des pelagianischen Streites, sondern auch mit Blick auf aktuelle Debatten. Der Studie ist eine breite – »objektorientierte« – Rezeption zu wünschen.