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Ausgabe:

April/2022

Spalte:

323–325

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Klaiber, Walter

Titel/Untertitel:

Die Botschaft des Neuen Testaments. Eine kurz gefasste neutestamentliche Theologie.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2021. 358 S. = Die Botschaft des Neuen Testaments. Kart. EUR 32,00. ISBN 9783788735036.

Rezensent:

Andreas Lindemann

Der Titel des von Walter Klaiber vorgelegten Bandes wiederholt den Titel der ganzen Kommentarreihe, deren Herausgeber und mehrfacher Autor K. ist, und dabei könnte der Untertitel zu dem Missverständnis Anlass geben, hier werde eine »Kurzfassung« neutestamentlicher Theologie geboten, gar unter Beschränkung auf »relevante« theologische Aussagen. K. aber wendet sich fast en­zyklopädisch allen neutestamentlichen Schriften und den im Neuen Testament erkennbaren theologischen Tendenzen zu. Er stellt im besten Sinne »gemeinverständlich« dar, was die neutestamentlichen Autoren den Menschen ihrer Zeit und Menschen der Gegenwart zu sagen haben. Die biblischen Texte kommen ausführlich zu Wort, Zitate folgen unterschiedlichen Übersetzungen. Am Ende eines jeden Abschnitts werden in grau unterlegten Blöcken zuvor gewonnene Ergebnisse gut nachvollziehbar wiederholt und zu­sammengefasst. Auf Sekundärliteratur wird gelegentlich verwiesen; Fußnoten vermisst man nur selten. Es gibt ein gegliedertes, ziemlich umfassendes Literaturverzeichnis (333–338) sowie Register der Bibelstellen und wichtiger Begriffe (343–358). K.s Darstellung ist informativ und anregend, gerade auch dort, wo unterschiedliche Deutungsmöglichkeiten genannt werden.
In der Einleitung nennt K. mögliche Alternativen: Geht es in einer Darstellung der neutestamentlichen Theologie um eine Zu­sammenschau oder um die besondere Botschaft der einzelnen Schriften? Ist die ursprüngliche Botschaft zu rekonstruieren oder ist nach deren Bedeutung für heute zu fragen? »Haben die ur­sprünglichen Texte überhaupt eine Botschaft oder entsteht diese erst, wenn sie heute gelesen werden?« »Geht es um Botschaft oder Theologie?« (13) Die konkret vollzogene Antwort besteht darin, dass sich K. jeweils für beide Möglichkeiten entscheidet, eine der beiden zu vernachlässigen.
K. betont, dass am Anfang der neutestamentlichen Literatur »die Kommunikation« stand, also die Briefe; doch dann wurde auch die Geschichte Jesu erzählt. »Es scheint noch kein Forum gegeben zu haben, durch das sich christliche Autoren schriftlich an Nichtchristen gewandt haben« (21). Zur Geschichte des NT-Kanons gibt K. auch Hinweise auf die umstrittenen und verworfenen Schriften (22–28). Das »Wort Christi« sei nicht mit dem Kanon identisch, »[a]ber die Schriften des Kanons sind die ursprünglichsten Zeugen dieses Wortes«; indem sie im Gottesdienst regelmäßig gelesen werden, »hat sich die Kirche verpflichtet, immer wieder neu auf die Stimme ihres Herrn in ihnen zu hören«, und mit der Übernahme des Kanons »akzeptiert sie, dass sie einen Maßstab als Gegenüber braucht, an dem sie sich und ihr Tun immer wieder neu messen lassen muss«. Der Kanon habe durchaus »eine Mitte und einen Rand«, der Judasbrief habe »schwerlich die gleiche Bedeutung« wie der Römerbrief (29). Aber »die Schrift« ist im Sinne des Paulus nicht als »Buchstabe« zu verstehen, »sondern als geistgewirktes Reden bezeugt sie Gottes früheres und zukünftiges Heilshandeln« (30). Die Begriffe »Altes« und »Neues« Testament implizieren keinen Wertmaßstab (31 f.).
Die drei zentralen Abschnitte können aus Raumgründen leider nur sehr verkürzt gewürdigt werden. Unter »A. Die Grundlage« (35–64) erklärt K., das von Jesus Christus her gelesene Alte Testament sowie die Person und Botschaft Jesu seien »Grundlage und Verständnishorizont für das Evangelium von Jesus Christus« (35, unter Verweis auf Dalferth). Es war ein verhängnisvoller Fehler, »dem Judentum das Recht der Berufung auf das Alte Testament abzusprechen«, wie es im Barnabasbrief geschah; aber es gebe keinen Anlass, »das Alte Testament dem Judentum als einzig legitimen Erben ›zurückzugeben‹ und auf die christliche Berufung auf seine Schriften zu verzichten, wie das neuerdings gefordert wird«. Es sei nicht »die christologische Auslegung der einzelnen Stellen gegen d ie Ergebnisse heutiger wissenschaftlicher Exegese zu verteidigen«, sondern die Frage sei, »ob gezeigt werden kann, dass im Christusgeschehen und seiner neutestamentlichen Entfaltung wichtige Grundanliegen alttestamentlicher Schriften aufgenommen und sachgemäß weitergeführt sind«. Dabei habe die christliche Theologie auch zu lernen, dass in der jüdischen Tradition alttestamentliche Grundaussagen »bewahrt und entfaltet sind, die der christlichen Perspektive verborgen geblieben sind« (41). Die neutestamentlichen Schriften seien »zunächst eher als eine Art christologischer Kommentar zu den Heiligen Schriften Israels ge­dacht« gewesen; dieser »Kommentar« erhielt dann aber »teil an der Autorität der neuen Weise von Gottes Offenbarung in Jesus Christus« und wurde so »im Laufe der ersten Jahrhunderte zu einem gleichberechtigten Zeugen der Offenbarung Gottes für die Menschen« (42).
Der Botschaft und dem Wirken Jesu kommt besondere Bedeutung zu (42–64, mit Hinweisen zum »historischen Jesus« und zum »wirklichen Jesus«, 43 f.). Themen sind u. a. Jesu Taufe, seine Botschaft von der Gottesherrschaft, Wunder als Zeichen der Gegenwart Gottes, die »Gute Nachricht für Verachtete und Vergessene!«, Gleichnisse als »Geschichten, die überzeugen« (49–52). Die Frage nach Jesu »Vollmachtsbewusstsein« sieht K. in der Bezeichnung »Menschensohn« beantwortet (55–57).
Unter »B. Die Entfaltung« geht K. auf sämtliche Schriften des Neuen Testaments ein. Am Anfang stehen die erzählenden Texte (65–129) als eine Form von Theologie. »Nacherzählen« bedeutet auch: »erzählen, wie das, was von damals berichtet wird, heute geschieht« (129). Die eingehende Darstellung der Paulusbriefe (130–160) schließt mit einer systematisierenden Zusammenfassung (»Alles ist Gnade«, 161–192; darin ein Exkurs zur Rolle Israels im Denken des Paulus, 184 f.). Dann folgen die »Dokumente der Paulusschule«, mit einem einfühlsamen »Wort zur Pseudepigraphie« (214–216). »Theologie in Briefform« sei »reflektierte Kommunikation des Evangeliums« (223); kennzeichnend sei »der Wille zur Argumentation«, und auch wenn das Niveau unterschiedlich sei, so stellen sich alle »der Notwendigkeit, das Christusgeschehen für ihre Situation zu erklären und seine Bedeutung zu entfalten« (224). Die katholischen Briefe »oder Kirchenbriefe« bewahren in »Weiterführung und Abgrenzung« das apostolische Erbe (224–244). Der Jakobusbrief ist »keineswegs eine stroherne Epistel, sondern ein Weckruf, der zum Schaden der Kirche meist überhört wird«; er könnte »zu frommer oder sozialer Leistungsgerechtigkeit verleiten«, aber mit Paulus als Gegenüber bleibt er »ein wichtiges Korrektiv für eine Christenheit, die so oft den Einsatz für die Armen vergessen hat« (228). 1Petr betone die Leitung der Gemeinden durch Älteste, deren Autorität nicht in Herrschaftsansprüchen liege; der Petrus des 1Petr beanspruche »keine andere Autorität, als Zeuge des Leidens Christi zu sein«, und das könnte »in der ökumenischen Diskussion um die Bedeutung des Petrusdienstes wohl noch intensiver be­dacht werden« (233). Die Johannesbriefe zeigen, wie »Rechtgläubigkeit und die Bereitschaft zur gegenseitigen Liebe« untrennbar zusammengehören (242). Die Apk vereinige in sich Brief und Erzählung (244); indem der Seher von seiner Beauftragung und von seiner himmlischen Schau erzählt, teilt er keine »Träume« mit, sondern gibt Einblicke »in die wirklichen Machtverhältnisse im erbitterten Kampf um die Herrschaft über Himmel und Erde« (245); dabei sei manches, so das direkte Nacheinander der Schilderung des Heils und der Höllenqualen, »etwas verstörend und befremdend«, aber die »doppelte Botschaft« der Apk sei »Warnung und Trost« (248). Hier bleiben die für die Gegenwart relevanten Aspekte etwas undeutlich.
Teil C. ist eine systematische Darstellung der neutestamentlichen Botschaft und ihrer Themen (249–322), konzentriert auf die Rede von Jesus Christus als Perspektive für alle Themen des Glaubens und der Theologie (mit einem bedenkenswerten Exkurs über Spuren der Trinitätslehre im Neuen Testament, 270 f.). K. notiert gewisse »Lücken«: Das Herrenmahl und die Frage nach dem Vorsitz spielen im Neuen Testament keine besondere Rolle, auch nicht das missionarische Engagement der Gemeinden (302–305). Das Ineinander von »Indikativ und Imperativ« mache deutlich, dass Gottes Handeln den Menschen »nicht nur für den Himmel retten, sondern auch zu rechtem Leben in dieser Welt« befähigen will (308). In einem Exkurs (»Die drei aktuellen Schibboleth für wahre Bibeltreue«, 311–317) erörtert K. eingehend und differenziert die Kontroversen zu den Themen Ehescheidung und Wiederheirat, Frauen in Verkündigung und Leitung, Homosexualität. Er schlägt vor, die biblischen Aussagen und ähnlich schwierige Weisungen »nicht einfach als veraltet zu streichen, sondern nach einem tieferen Sinn oder einer neuen Bedeutung zu fragen« (317, mit konkreten Vorschlägen!). Unter der Überschrift »Zum Schluss: Die Botschaft des Neuen Testaments und wir« (323–332) bietet K. die knapp zusammenfassenden Ergebnisse seiner vorangegangenen Beobachtungen unter der Frage nach der Bedeutung von Glaube, Liebe und Hoffnung (328–332).
Der Band ist nach meinem Urteil überaus empfehlenswert für alle, die an einer vom Neuen Testament her gedachten Theologie interessiert sind und die nach den Folgen der gewonnenen Beobachtungen für das eigene Denken fragen. An Darstellungen der neutestamentlichen Theologie ist eigentlich kein Mangel, aber K.s Buch stellt doch etwas ganz Besonderes dar.