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Ausgabe:

April/2022

Spalte:

321–323

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Frey, Jörg, u. Nadine Ueberschaer[Hgg.]

Titel/Untertitel:

Johannes lesen und verstehen. Im Gespräch mit Jean Zumstein.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2021. VIII, 190 S. m. 6 Abb. = Biblisch-Theologische Studien, 186. Kart. EUR 35,00. ISBN 9783788734565.

Rezensent:

Klaus Scholtissek

Dieser kleine, aber feine Sammelband vereint die Vorträge, die anlässlich des 75. Geburtstages von Jean Zumstein am 11.–12. Oktober 2019 bei einem Symposion der Theologischen Fakultät Zürich, der langjährigen Wirkungsstätte des Jubilars, gehalten wurden. Alle Beiträge widmen sich dem Johannesevangelium, nicht dem einzigen, aber doch dem herausragenden Forschungsgegenstand des renommierten Johannesexegeten. Alle Beiträge nehmen das Gespräch mit der Johannesinterpretation Zumsteins auf, abschließend kommt Jean Zumstein selbst zu Wort.
Im einleitenden Beitrag stellt Jörg Frey, sein Nachfolger auf dem Züricher Lehrstuhl, den Zugang und das Profil der Johannesauslegung vor: »Jean Zumstein als Ausleger des Johannesevangeliums – eine Würdigung« (6–19): Mit seinem Namen verbunden ist der Begriff der »Relecture«: »Es ist das Wieder-Durcharbeiten, das Er­neut-Lesen des Vorhandenen, in dem sich neue Sinnbezüge eröffnen und neue Konsequenzen formuliert werden, ohne die Implikation, dass das Alte damit verkehrt, zu korrigieren oder zu verwerfen sei. Relecture ist somit ein durch und durch konservativer Prozess und zugleich progressives theologisches Arbeiten, […]« (8; vgl. J. Zumstein, Kreative Erinnerung, 22004). Maßgebliche Kriterien der Johannesauslegung sind zudem für Zumstein die sich insbesondere in den Abschiedsreden niederschlagende nachösterliche bzw. österliche Sichtweise, die Rückblick und Ausblick ineinander verwebt und damit und darin theologisch anspruchsvoll reflektiert: »So kann Zumstein Text für Text zeigen, wie der johanneische Erzähler mit literarischer Kunstfertigkeit seinen Text ausgestaltet hat, so dass er seiner Leserschaft nicht nur ein Vorstellung von der erzählten Geschichte, sondern auch seine theologische Botschaft kommuniziert« (14). Abschließend bekennt sich J. Frey zu dem von Jean Zumstein praktizierten Selbstverständnis von Schriftauslegung: »Exegese ist […] nicht ein philologisches Erbsenzählen, ein geistloses Ansammeln von Daten und Fakten, sondern die Frage nach der Sache der Texte, nach ihrer Wahrheit. […] Exegese ist lesen, lesen und nochmals lesen, den Text ablauschen und abtasten, bis er sein eigenes Profil zu erkennen gibt und die vorschnellen Urteile der Lesenden relativiert und modifiziert.« (18 f.)
Im Gespräch mit Jean Zumstein widmet sich Christina Hoegen-Rohls der Ethik, einem zentralen Thema des Johannesevangeliums, das nach langer Zeit der Unterschätzung oder Ausblendung seit einigen Jahren wieder neu entdeckt wird: »Ein Gott, der sich mitteilt. Das Ethos des Logos im Johannesevangelium.« (22–54) Wie diesem Titel zu entnehmen ist, sieht Hoegen-Rohls das von den Glaubenden geforderte Ethos im Johannesevangelium im Ethos des Logos und dieses wiederum im Ethos Gottes begründet: »Das Ethos Gottes ist das model für das Ethos des Logos, das Ethos des Vaters ist das model für das Ethos des Sohnes – so wie beider Ethos als model für das Ethos der Glaubenden dient.« (40)
Hans Weder bietet einen erfrischenden Blick auf die erste Zeichenerzählung des Johannesevangeliums in 2,1–11: »Sechs Hektoliter. Eine hermeneutische Überlegung zur theologischen Bedeutung des Luxus« (55–67). In der nacherzählenden Wahrnehmung des Textes betont er zu Recht: Die Erzählung wird zu einem »Symbol für einen Luxus, der zu seiner Wahrheit gekommen ist: Luxus at its best zehrt von unendlicher Fülle und kommt allen zugute« (65; vgl. Joh 1,14.16).
In einem zweiten Beitrag widmet sich Jörg Frey Nikodemus im Johannesevangelium: »Die Figur des Nikodemus zwischen literarischer Ambivalenz und pluriformer Rezeption« (69–105). Bei diesem aufschlussreichen Durchgang im Gespräch mit neueren Auslegungsansätzen zur Gestalt des Nikodemus in Joh 3,1–10; 7,50 und 19,39 wird exemplarisch die Leistungsfähigkeit der narrativen Figurenanalyse bzw. der character studies und dadurch die spezifische johanneische Didaktik deutlich: Nikodemus ist auf die ihm eigene Weise ein johanneisches Identifikationsangebot: Es geht »durchgehend um die Reaktion und Positionierung der Lesenden. Sie sollen mithilfe des Textes und durch die ihnen vor Augen geführte Interaktion der Figuren zu einer Stellungnahme gelangen, in ihrer Identität im Bezug auf Christus gestärkt und orientiert werden und im johanneischen Sinne ›glauben‹« (76). Auf Nikodemus bezogen zeigt eine genaue Textbeobachtung: »So ist in der Figur des Nikodemus doch eine Spur gelegt, die den Weg eines Juden, ja eines Oberen mit hoher Gelehrsamkeit im Gesetz, in die Nachfolge Jesu vorzeichnet.« (85; vgl. 104 f.)
Michael R. Jost analysiert die komplexe »Beziehungsstruktur im Bittgebet in den Abschiedsreden« (vgl. 107–127) zwischen den Akteuren: Vater, Sohn, Paraklet und Glaubenden im Ausgang von dem im ersten Zugang irritierenden Vers Joh 16,26: »Ich sage euch nicht, dass ich den Vater für euch bitten werde.« Die Ausführungen sind erhellend, an seine Verhältnisbestimmung von Jesus Christus als dem Erhöhtem zum Wirken des Parakleten sind jedoch Fragezeichen zu setzen: »Zweitens wird die Beziehungsstruktur durch den anderen Parakleten noch komplexer, weil dieser die Gemeinschaft stiftet, während Jesus als Erhöhter nicht mehr unmittelbar in Gemeinschaft mit den Jüngern steht« (118). Es sind doch sehr viele Textzeugnisse im Johannesevangelium, die dem letzten Teilsatz im Zitat widersprechen.
Mit vielen überzeugenden Textbeobachtungen interpretiert Nadine Ueberschaer »Joh 20,1–18 als intra- und intertextuelle Leseanleitung zum ›Sehen‹ Gottes im Sohn« (129–151). Die narrative Komposition dieser Ostersequenzen selbst sowie ihre intra- und extratextuellen (Jes 43; Lk 24) Bezüge zielen auf die Lesenden und Hörenden: »Sie werden im Folgenden mit auf die Suche nach der Gegenwart des Gekreuzigten genommen« (131). Der Evangelist »inszeniert damit Maria als Hermeneutin der Person Jesu, da sie in ihm den Kyrios sieht« (148).
Pierre Bühler stellt hellsichtig überraschende Schnittmengen und Anklänge zwischen dem Brunnenmotiv in Joh 4 und dem Kleinen Prinzen von Antoine de Saint-Exupéry zusammen (vgl. 153–168).
Abschließend kommt der Jubilar selbst zu Wort: In »Johannes lesen und verstehen« (169–181) fasst Jean Zumstein seine leitenden Einsichten und Überzeugungen prägnant zusammen. Drei seien hier besonders hervorgehoben: »der Forschungsgegenstand be­stimmt die Methodik und nicht umgekehrt« (169). »Auch die heute als selbstverständlich durchgeführte Unterscheidung zwischen einer sogenannten historischen und theologischen Auslegung des Johannesevangeliums ist nicht haltbar.« (173) Der »kanonische Text (ist) in seiner textkritisch bezeugten Reihenfolge auszulegen« (174). Allen zukünftigen Auslegungen schreibt Zumstein ins Stammbuch: »Das Johannesevangelium ist eine historische Schrift, die in einer bestimmten historischen Welt unter bestimmten Umständen, […], entstanden ist. […] Aber gleichzeitig muss ich gestehen, dass dieser Text – wie jedes Meisterwerk der Literaturgeschichte – die Fähigkeit besitzt, sich zu entkontextualisieren und neu zu kontextualisieren.« (180)