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Ausgabe:

April/2022

Spalte:

319–321

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Bylund, Louise Heldgaard, Falkenberg, René, Kartzow, Marianne Bjelland, and Kasper Bro Larsen [Eds.]

Titel/Untertitel:

Nordic Interpretations of the New Testament. Challenging Texts and Perspectives.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020. 308 S. = Studia Aarhusiana Neotestamentica, 5. Geb. EUR 110,00. ISBN 9783525554562.

Rezensent:

Martin Meiser

Der hier anzuzeigende Band ist keine forschungsgeschichtlich orientierte Prosopographie, sondern eine Momentaufnahme dessen, woran im skandinavischen Großraum (u. a.) derzeit gearbeitet wird; die Autorinnen und Autoren gehören unterschiedlichen Generationen an. Eine relative Vielzahl theologischer Forschungs- und Ausbildungsstätten ist vertreten.
Der einleitende Aufsatz benennt zunächst die Lebensbedingungen theologischer Wissenschaft in Skandinavien und stellt die einzelnen Beiträge kurz vor. Deren erste Gruppe ist unter der Überschrift »Text, Translation, and Reception« zusammengestellt. Gitte Buch-Hansen (Kopenhagen) plädiert aus sozialgeschichtlicher Perspektive dafür, in Mk 10,13–16 nicht Kinder, sondern Sklavinnen und Sklaven angesprochen zu sehen. Im Markusevangelium werde ähnlich wie in der Stoa das System der Sklaverei humanisiert, aber nicht in Frage gestellt. Halvor Moxnes (Universität Oslo) beantwortet die Frage nach dem Ertrag sozialwissenschaftlich-kritischer Lektüre biblischer Texte für die Hermeneutik auf der Basis der Arbeiten von Philip Esler und Rafael Aguirre mit dem Hinweis auf den Verfremdungseffekt; die Analogie zwischen Vergangenheit und Gegenwart sei eine Analogie des Prozesses zwischen religiöser Interaktion und Glaube, nicht der transportierten Inhalte. Gunnar Haaland (Metropolitan University Oslo, Faculty of Education and International Studies) widmet sich einem bestimmten Feld kirchlicher Praxis und bespricht kritisch die Rezeption von Lk 18,9–14 in norwegischen Predigthilfen, in denen die Pharisäer unter Aufnahme klassischer antijüdischer Stereotype als Chiffre für eine abgelehnte christliche Alterität herhalten müssen – man wird den Aufsatz angemessen auch als Anfrage an eigene diesbezügliche Praxis verstehen. Morten Beckmann (Agder) legt dar, wie im Prozess der Neuerstellung norwegischer Bibelübersetzungen ein bestimmtes theologisches Vorverständnis die Wiedergabe der Wendung πρωτότοκος πάσης κτίσεως in Kol 1,15 beeinflusst hat: Die Vermeidung des von den Übersetzern vorgeschlagenen Verständnisses als Gen. part. in den nachfolgenden Redaktionsprozessen sollte Kol 1,15 gegen eine Beanspruchung durch subordinatianische Christologie absichern.
Eine zweite Gruppe von Aufsätzen ist unter die Überschrift Gender, Empire, Emotion, Drama gestellt. Martin Friis (Kopenhagen) zeigt, wie der Evangelist Johannes gängige typische Züge positiv bewerteter Männlichkeit (Tapferkeit, Selbstbeherrschung, Weisheit etc.; Vergleichsquellen sind u. a. Xenophon, Plutarch und Diogenes Laertios) an Jesus heranträgt, nicht ohne Differenzen im Einzelnen zu vermerken (111: die Männlichkeit Jesu besteht nicht darin, anderen physisches Leid zuzufügen, sondern es selbst zu ertragen – hier wäre zu fragen, wie eindimensional das Bild von Männlichkeit in der Antike wirklich ist). Maria Sturesson (Lund) verbindet Narratologie und Genderstudies in der Analyse der Erzählungen von der Entdeckung des leeren Grabes in den kanonisch gewordenen Evangelien, aber auch im Petrus- und im Nikodemusevangelium sowie der Epistula Apostolorum; im Matthäusevangelium ist die Erzählstimme am wenigsten von der Tendenz geprägt, Frauen gegenüber Männern abzuwerten. Niko Huttunen (Helsinki) verweist gegen eine einseitige anti-imperiale Deutung des Neuen Testaments auf Röm 13,1–7, das auf dem Hintergrund von Vergil, Aen. 6,851–853 gedeutet wird (vgl. aber auch u. a. Philo, Flacc. 49 f.), und auf die Porträtierung römischer Armeeangehöriger in der Apostelgeschichte (die These eines weitgehenden Pazifismus in nachneutestamentlicher Zeit ist mit Hinblick auf Arbeiten von Hanns Christof Brennecke zu hinterfragen). Paul Linjamaa (Lund) beschreibt, Ismo Dunderberg folgend, den Tractatus Tripartitus hinsichtlich der Erkenntnis- und Emotionstheorie der Emotionen als Vereinigung christlicher und stoischer (nicht nur mittelplatonischer) Motive, Individual- wie auch Menschheitsgeschichte, aber auch das Verständnis des Erlösers betreffend. Luise Heldgaard Bylund (Aarhus) arbeitet die differierende Semantik von τελέω und τελειόω im Johannesevangelium und im antiken Drama heraus, wo τετέλεσται häufig den Umschwung des Schicksals anzeigt; τελέω heißt, dass etwas zu einem Ende gebracht, anderes jedoch noch folgen wird, und bezeichnet deshalb in Joh 19,28 den eschatologischen Wendepunkt; τελειόω thematisiert die ungeteilte Vollendung.
Eine dritte Gruppe steht unter der Überschrift »Perspectives on Paul and Jesus«. Im Rahmen der »Radical New Perspective on Paul« hält Magnus Zetterholm fest, dass sich für Paulus die Frage nach der Toraobservanz nur bei Nichtjuden stellt; die Adressaten seiner Mission kommen am ehesten aus dem Kreis der sogenannten Gottesfürchtigen, bei denen Wertschätzung der Tora und eine entsprechende Praxis schon zuvor zu vermuten ist (für eine große Zahl trifft dies zu, für andere hingegen nicht, vgl. die in 1Kor 6,12–20; 10,20 f. angesprochenen Probleme). Samuel Tedder formuliert partielle Akzeptanz und partielle Korrektur der »Radical New Perspective on Paul« anhand einer tiefgehenden Exegese von Gal 4,21–5,1: Die Motive »oberes Jerusalem« und »neue Schöpfung« hat Paulus dem Jesajabuch entnommen; das neue Gottesvolk, nach der Kategorie der Wiederherstellung Israels gedacht, umfasst Juden wie Nichtjuden, die sich selbst in der Kategorie der Geburt aus der Verheißung wiederfinden. Jacob Mortensen greift Runar Thorsteinssons These auf, dass Paulus in Röm 2 durchgehend einen fiktiven Nichtjuden anrede (auf Nichtjuden ist auch Röm 3,26 bezogen), und bestimmt auch mit Bezug auf Röm 3,31 in Röm 14,1–15,6 und Verweis auf Analogien bei Philo, Vit.Mos. II,4; Josephus, Contra Apionem II, 40 die sogenannten »Schwachen« als toraobservante Nichtjuden. Dass Paulus für die »Starken« Partei ergreift, unterminiere die Position der »Schwachen« – mit problematischen wirkungsgeschichtlichen Folgen. Runar Thorsteinsson stellt heraus, dass Jesus im Markusevangelium hinsichtlich des äußeren Auftretens und der Relativierung des Reichtums wie der Familienbande in die Nähe stoisch-kynischer Philosophen gerückt wird. Bei den Emotionen ist das Bild weniger eindeutig; Mk 1,41; 3,5; 11,15 f.; 14,33–36 markieren die Distanz, Mk 4,38–41 die Nähe zu stoischer Doktrin. Im Bereich moderner Jesusforschung bewegt sich Lauri Thurén mit der Warnung vor einer vorschnellen Auswertung der Parabeln für die Rekonstruktion der Verkündigung Jesu: Zuvor gilt es, die Parabeln erst einmal in ihren literarischen Kontexten wahrzunehmen. Zum Johannesevangelium argumentiert Kari Syreeni literarkritisch, um das Nebeneinander menschlicher Emotionen und göttlicher Züge bei Jesus zu erklären; ältere Schichten enthalten Ersteres (u. a. Joh 2,13–16; 11,35), spätere Schichten Letztere (u. a. Joh 2,23–25; 11,14 f.). Ein finaler Redaktor habe Joh 1–12 überarbeitet, in die Passionserzählung u. a. die Figur des Lieblingsjüngers eingetragen und Joh 13–16* als Hinführung zur Passion gestaltet; das Jesusbild dieser Redaktionsschicht ist hinsichtlich der Emotionen ambivalent.
Der Band belegt die Vielfalt methodischer Zugänge und die Breite religionsgeschichtlicher Arbeit (deren Schwerpunkt liegt auf dem griechisch-römischen Bereich; das mag Zufall sein oder sich anders gelagerter institutioneller Zuordnung judaistischer Forschung verdanken, wofür ja auch in Skandinavien viel geleistet wird). Im Wesentlichen (aber nicht nur!) wird englisch-sprachige Literatur wahrgenommen.