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Ausgabe:

April/2022

Spalte:

314–316

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Ro, Johannes Unsok, and Diana Edelman [Eds.]

Titel/Untertitel:

CollectiveMemory and Collective Identity. Deuteronomy and the Deuteronomistic History in Their Context.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2021. XIV, 466 S. m. 10 Abb. u. 29 Tab. = Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft, 534. Geb. EUR 86,95. ISBN 9783110715088.

Rezensent:

Hermann-Josef Stipp

Für die derzeit vielverhandelte Forschungsrichtung der memory studies erscheint die Bibel wie geschaffen, da kanonische Literatur definitionsgemäß collective memory and collective identity prägen soll. Derlei Analysen unterliegen jedoch immer dem Verdacht der Tautologie, insofern sie aufzeigen, dass kanonische Literatur das tut, was kanonische Literatur ausmacht. Wie geht der vorgestellte Sammelband damit um? Zu Beginn führt der Herausgeber Johannes Unsok Ro in Theorie und Terminologie der Disziplin ein und begründet die Wahl des Beispielkorpus: »Deuteronomy and the Deuteronomistic History seem to understand themselves as the aggregation of Israelite memories.« Abgesehen von der Frage, ob Texte, wenngleich ohne Kopf, etwas »verstehen« können: Zählt da nicht mindestens der Tetrateuch dazu? Faktisch liest man 16 Aufsätze, die Einzelprobleme des Komplexes Dtn–2Kön behandeln oder gegenstandsbedingt die Grenzen des DtrG überschreiten und, wenn überhaupt, zumeist eine eher aufgesetzte Brücke zum Feld der memory studies schlagen.
So beschreibt der erste Beitrag von Kristin Weingart Jos 2 als Kontrasterzählung zu Dtn 1,22–33 für ein gewandeltes religiö-ses Um­feld – ein honoriges Thema biblischer Intertextualität und Theologiegeschichte. Ähnliches gilt für Diana Edelman, wenn sie Ri 17 f. und 1Sam 28 als narrative Aktualisierungen deuteronomischer Gesetze in Zeiten charakterisiert, als Gebotsobservanz zum Identitätsmarker aufgestiegen war. In einem theoretischen Vorspann plädiert sie für die Abkehr vom »historical positivism« zu­gunsten der »post-modernist history, which posits that events happened, processes took place and reality exists, but none of the three can be repeated, transmitted, or displayed in its own format, only in humanly constructed words, sounds, pictures, words, and images.« Das hat sich offenbar noch nicht allseits herumgesprochen. Für Dominik Markl erweisen die Bücher Jos–Kön die »ef-ficacy« der mosaischen Prophetie und rufen so das postexilische Israel auf, durch Befolgen der mosaischen Tora einen Weg aus der Katastrophe zu finden. Hier wäre allerdings obendrein zu erklären, was jene Adressaten aus dem Schluss des Werkes lernen sollten, wo ein Exempel idealer Umkehr begegnet, das trotzdem von vornherein zum Scheitern verurteilt war (2Kön 23,25–27 usw.). Peter Dubovský entnimmt verbalen Komponenten der Exodus-terminologie, dass die »southern scribes« des DtrG das Verb אצי bevorzugten, aber im Detail הלע und אצי für bestimmte Kontexte reservierten. Gegenstandsgerecht weitet er den Blick auf das ge­samte Alte Testament: »While both verbs were suitable for conveying the military nuance of the exodus, the verb אצי became more suitable for linking together different themes of the Hebrew Bible.« Kevin Chau vereinbart eine poetologische Analyse von Dtn 32,1–43 mit dem Titel des Bandes, indem er die poetischen Merkmale des Moseliedes als Stützen der Memorierbarkeit wertet (was freilich auf die hebräische Dichtung generell zutrifft). Laut Raymond F. Person bezeichnen selbstreferenzielle Formulierungen in Dtn entgegen dem Augenschein keine festen Texte, sondern die Texte verkörperten für die Schreiber metonymisch die Totalität von Traditionen, die grundsätzlich nie vollständig in Texten aufgehen könnten. So erkläre sich der fluide Status biblischer Texte in ihrer handschriftlichen Bezeugung (der jedoch schließlich rigider Textstabilisierung wich). Rachelle Gilmour erörtert die דיַ genannten Denkmäler Sauls (1Sam 15,12) und Abschaloms (2Sam 18,18), also Artefakte, die schon in der erzählten Welt der Formung von Erinnerung dienten, wobei Gegensätze zu den Kontexten erwiesen: »In the literary product known as the book of Samuel, yad monuments have become a motif coinciding with the loss of kingship instead of royal legitimation.« Wenn sie indes am Fehlen vergleichbarer Nachrichten aus späterer Zeit abliest, die Funktion solcher Monumente sei an den Tempel übergegangen, fragt man sich, warum derlei Bauten nicht schon im­mer an Heiligtümern errichtet wurden. Ronald Hendel beschreibt, wie das Alte Testament die legendarische Vorbevölkerung Israels als »Riesen« alterisiert, die als Negativfolie die israelitische Identität konturieren: »The giants are foreign and primordial ›others,‹ who are on the far side of the civilized order of things.« Das Thema führt über Dtn–Kön hinaus und ist normaler überlieferungsgeschichtlicher Art.
Zwei Aufsätze propagieren Toponyme und Anthroponyme als Kriterien der Datierung von Texten, ein ebenfalls das DtrG überschreitendes Thema. Wolfgang Zwickel argumentiert am Beispiel Schunems, biblische Autoren hätten – außer bei besonders be­rühmten Ausnahmen – nur in ihrer Gegenwart besiedelte Ortslagen erwähnt, weswegen deren Besiedlungsgeschichte die Zeiträume für die Abfassung der betroffenen Einheit limitiere. Dabei fordert er den Exegeten beachtliche archäologische Kompetenzen ab: »Commentators and exegetes of a text mentioning a site have a duty to collect all published archaeological results.«
Der Rezensent denkt an die 23 Ortsnamen allein in Jer 48. Dagegen möchte Roberto Jürgensen Personennamen für Datierungszwecke nutzen, weil die Onomastika diachronen Wandlungen und diatopischen Differenzen unterlagen, eine Facette der gegenwärtig vieldiskutierten linguistischen Datierungsverfahren. Wie er freilich einräumt, enthalten datierungsbedürftige Einheiten zumeist kaum einschlägige Fälle, die zudem allenfalls grobe Eingrenzungen erlauben. Er legt auch kein Beispiel vor, das die Potenziale des Gesichtspunkts illustriert. So dürften Onomastika wohl nur selten zur Datierung von Texten beitragen. Für Łukasz Niesiołowski-Spanò ist es das Gesellschaftsbild, das das Buch Dtn um die Mitte des 5. Jh.s verortet, weswegen das DtrG mindestens in die zweite Hälfte des 5. Jh.s rückt. Das Werk habe antimonarchische Propaganda betrieben wider Versuche zur Restauration des Königtums, die wohl Nehemia zu in­thronisieren suchten. Wenig überraschend, ist die These kaum auf Quellen gestützt, während Wendungen wie »I would say […] I venture to say […] I would be inclined to say […] I would venture to propose […] It is not impossible to imagine […] It is not too hazardous to say […]« die Lücken stopfen. Die These fußt auf einer Nivellierung des ambivalenten Bildes des Königtums im DtrG zugunsten der negativen Seite. Dem Satz »The above reasoning needs to be treated as speculative« pflichtet man gerne bei.
Weitere Arbeiten sollen mit Vergleichsmaterial aus der griechisch-römischen Antike das Verständnis des DtrG fördern. Yoshinori Sano stellt verschiedene Fassungen der Sage vor, die die leidvollen Wanderungen der von Zeus geschwängerten Io ausmalt, überlässt es jedoch den Lesern, daraus Einsichten für den deuteronomistischen Umgang mit Traditionen abzuleiten. Jörg Rüpke bereitet Vergleichen zwischen deuteronomistischer und römischer Geschichtsschreibung den Boden, indem er vermeintliche Unterschiede als fiktiv überführt: »The findings presented here question popular assumptions about the lack of a presence of linear no-tions of time, a historical perspective on religious beliefs and practices, and the spread of universalist notions in Roman historio-graphy.«
Diese Rezension kann nur eine zufällige Auswahl der Beiträge knapp charakterisieren, was nicht heißt, dass die übrigen Aufsätze keine interessanten Beobachtungen vortrügen. Fazit: Was früher Aussageziel oder Intention hieß, heißt jetzt cultural memory bzw. collective identity. Der Modeströmungen eher abholde Rezensent hat noch nicht recht begriffen, welchen Gewinn gängige exege-tische Fragestellungen durch einen social memory twist erfahren, aber zugebenermaßen schadet ein solcher auch nicht, und vielleicht weckt er vermehrte Aufmerksamkeit.