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Ausgabe:

April/2022

Spalte:

312–314

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Krispenz, Jutta [Hg.]

Titel/Untertitel:

Scribes as Sages and Prophets. Scribal Traditions in Biblical Wisdom Literature and in the Book of the Twelve.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2021. VIII, 300 S. = Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft, 496. Geb. EUR 99,95. ISBN 9783110477276.

Rezensent:

Markus Saur

Dieser Band greift zwei klassische Arbeitsgebiete der alttestamentlichen Wissenschaft auf: zum einen die Frage nach dem soziohis-torischen Milieu, in dem die Entstehung alttestamentlicher Texte zu verorten ist, zum anderen die Frage nach den Beziehungen zwischen einzelnen Text- und Themenfeldern. Dass das Milieu der literati im antiken Juda zahlenmäßig überschaubar gewesen sein dürfte und unterschiedliche Textbereiche der Hebräischen Bibel in den Händen derselben Trägerkreise gelegen haben könnten, hat für die Einordnung der Texte erhebliche Konsequenzen: Spiegelt das Alte Testament einen Diskurs kleiner Bildungseliten oder sind die Texte von den Erfahrungen breiter und unterscheidbarer Kreise bestimmt, auch wenn deren Literarisierung auf wenigen Schultern geruht haben sollte?
Jutta Krispenz greift mit dem von ihr initiierten und edierten Sammelband diese Fragen auf. Die Beitragenden konzentrieren sich dabei auf das Verhältnis von weisheitlichen Überlieferungen und prophetischer Tradition. Im Blick auf die Weisheit bilden das Proverbienbuch und das Sirachbuch wichtige Referenzpunkte, im Blick auf die Prophetie steht das Zwölfprophetenbuch im Zentrum des Interesses. Das Verhältnis von Prophetie und Weisheit ist in der bisherigen Forschung durchaus schon erörtert worden. Wer sich den Forschungsstand vor Augen führt, wird aber zu der Einsicht kommen, dass hier durchaus noch Arbeit zu leisten ist – nicht nur im B lick auf das Zwölfprophetenbuch und dessen Verhältnis zu den verschiedenen Weisheitstraditionen, sondern auch hinsichtlich der drei großen Prophetenbücher und deren Rezeption weisheit-lichen Denkens. Das eigentliche Problem der in diesem Feld notwendigen Verhältnisbestimmung besteht freilich in der vorausliegenden Schwierigkeit, möglichst präzise zu bestimmen, was denn eigentlich Prophetie und was Weisheit sei. Der vorliegende Band stellt sich diesen Problemen und führt die Debatte einen wichtigen Schritt weiter.
Der Herausgeberin ist es gelungen, für ihre Unternehmung einen ausgesprochen renommierten Kreis von Beitragenden zu gewinnen. Jutta Krispenz eröffnet den Band selber mit einer in­struktiven »Introduction« (1–13) in das Themenfeld. Mark Sneed schlägt in seinem Beitrag »Inspired Sages: Massa’ and the Confluence of Wisdom and Prophecy« (15–32) ausgehend von Überlegungen zu dem sowohl in weisheitlichen als auch in prophetischen Überlieferungen belegten Lexem massa’ vor, das Verhältnis von Weisheit und Prophetie nicht als Beeinflussung (influence), sondern als eine Form des Zusammenfließens (confluence) zu verstehen. Helmut Utzschneider verhandelt unter dem Titel »Die Mündlichkeit der biblischen Schriftprophetie. Versuch einer Bestandsaufnahme« (33–64) am Beispiel von Joel 1–2 das komplexe Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der immer auch auf Performanz hin angelegten prophetischen Literatur. Rainer Kessler nimmt das schon seit den 1960er Jahren bearbeitete Beziehungsfeld »Amos and Wisdom« (65–77) in den Blick und geht davon aus, dass die »reconstruction of a common scribal milieu best explains the obvious parallels between the book of Amos and wisdom literature« (75). Jutta Krispenz fragt unter der Überschrift »Hosea – the Wise Prophet?« (79–98) ausgehend von Hos 5,1–6,6 nach Beziehungen zwischen dem Hosea- und dem Proverbienbuch und rechnet mit einem gemeinsamen Hintergrund beider Schriftwerke. Thomas Krüger nimmt »Prophetie, Weisheit und religiöse Dichtung im Buch Habakuk« (99–116) in den Blick und erkennt hier eine Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang von Tun und Ergehen, die sich auch weisheitlicher Sprache und Gedanken bediene. Aaron Schart erarbeitet »Bezüge zum Sprüchebuch in der Maleachischrift« (117–139) und sieht hinter dem Maleachibuch eine Diskussion des Propheten mit Vertretern »der späten Weisheit, die über der Erfahrung der Auflösung des Tun-Ergehen-Zusammenhangs an YHWHs Gerechtigkeit irre geworden sind« (138). Tova Forti zeigt in ihrem Beitrag »›Let Not the Wise Man Glory in his Wisdom‹: Challenging the Deed-Consequence-Paradigm« (141–156) am Beispiel von Koh 9,11 f.; Am 2,14–16; Jer 9,22 f. und Prov 21,30 f. wie die Annahme eines Zusammenhangs von Tun und Ergehen in weisheitlichen und prophetischen Texten in unterschiedlicher Weise verarbeitet wird, und plädiert dafür, der Untersuchung von Beziehungen zwischen Prophetie und Weisheit eine detaillierte Untersuchung der Kompositions- und Editionsprozesse der einzelnen Schriften voranzustellen. Annette Schellenberg wendet sich unter dem Titel »›Wisdom Cries Out in the Street‹ (Prov 1:20). On the Role of Revelation in Wisdom Literature and the Relatedness and Differences between Sapiential and Prophetic Epistemologies« (157–173) der Frage zu, inwieweit sich weisheitliche Erkenntnis auf Offenbarung stützt, und sieht einen entscheidenden Unterschied zwischen weisheitlichem und prophetischem Offenbarungsdenken in der Exklusivität der Offenbarungsgehalte innerhalb der Prophetie im Gegensatz zum offenen Zugang zum Wissen innerhalb der Weisheit. Bernd U. Schipper erörtert »›Wisdom and Torah‹ in Proverbs and in the Book of the Twelve« (175–193) und erkennt hinter Texten wie Jer 31,31–34; Ez 11,19 f.; Mi 6,8; Mal 2,4–7 auf der einen und Prov 30,7–9 auf der anderen Seite eine gemeinsame Debatte »on the status of Torah during the Persian period and the question of how the human being can live according to the will of God as found in his law« (191). Frank Ueberschaer untersucht »Prophetisches und Prophetie im Denken Ben Siras« (195–225) und zeichnet dabei zum einen nach, wie Prophetie und Propheten im Väterlob in Sir 44–50 als Bildungsinhalte dargestellt werden, und zeigt zum anderen, dass Ben Sira sich vor allem darin als Weisheitslehrer erweist, dass er »Propheten und Prophetie […] souverän in sein Denken einbezieht und neu interpretiert« (222). Martina Kepper erschließt »Prophetische Traditionen im Buch der Weisheit« (227–253) und er­kennt hier eine intensive Auseinandersetzung mit der prophetischen Tradition: »Diese Art der fruchtbaren Beschäftigung mit den prophetischen Texten hat inhaltlich vornehmlich an den Themen der Sozialkritik sowie der Götzenpolemik stattgefunden.« (248) Stefan Beyerle beschließt den Band mit seinem Beitrag »The Book of Hagu, the Righteous Ones, and the Learning Ones: On 1Q/4QInstruction, Enochic Apocalypticism and their Mutual Influences« (255–281), der das Beziehungsfeld zwischen Weisheit und Prophetie um das entscheidende Element der Apokalyptik erweitert; Beyerle zeigt in seiner sehr genauen Analyse, dass zwischen 1Q/4QInstruction und den Henochtraditionen keine nachweisbaren literarischen Abhängigkeiten bestehen, wohl aber hinter beiden Textbereichen mit »a common apocalyptic background or tradition« (278) gerechnet werden könne.
Die Lektüre der Aufsätze macht deutlich, dass weisheitliche und prophetische Texte nicht nur in einem zusammenhängenden Prozess verschriftlicht wurden, sondern dass Weisheit und Prophetie auch zusammen gelesen werden müssen, wenn man tiefere Einsichten in das Milieu der Schreiber im antiken Juda gewinnen möchte. Dass das möglich ist, zeigt der nicht nur inhaltlich, sondern auch formal sorgfältig gestaltete Band, der durch Stellen- und Autorenregister abgeschlossen wird.