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Ausgabe:

April/2022

Spalte:

310–312

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

French,  Nathan S.

Titel/Untertitel:

A Theocentric Interpretation of  ערו בוט תעדה. The Knowledge of Good and Evil as the Knowledge for Adminis-tering Reward and Punishment.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2021. 336 S. m. 2 Abb. = Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments, 283. Geb. EUR 120,00. ISBN 9783525564998.

Rezensent:

Jörn Kiefer

Nathan S. Frenchs Buch, die überarbeitete Fassung seiner 2018 in Aberdeen vorgelegten Dissertation, behandelt die umstrittene Frage, wie die hebräische Wendung hadda‘at ṭôv wârâ‘ in Gen 2 f. zu deuten sei.
In der Einleitung (19–24) legt er Ziel und Prämissen dar: Er möchte eine theozentrische Interpretation der Wendung bieten, handelt es sich doch um göttliche Erkenntnis, die der Mensch ergreift (Gen 3,5.22). Eine plausible Deutung müsse daher auch für JHWH als Subjekt oder Ursache der »Erkenntnis von Gut und Böse« anwendbar sein, zudem Antwort auf die Frage geben, warum diese Erkenntnis unter Androhung des Todes verboten wird. In einem Aufriss der acht Kapitel nennt F. weitere Prämissen: Die Eden-Erzählung reiche als Interpretationsbasis nicht aus, alternativ biete sich das Deuteronomistische Geschichtswerk (DtrG) an wegen seiner »shared thematic elements and theology« (21).
F.s mit viel Sachverstand und Sorgfalt dargebotene Untersuchung ist lexikalisch orientiert. Er unternimmt weder eine diachrone noch eine synchrone Textanalyse und thematisiert diese Zugänge auch nicht. Die Entstehungszeit der Eden-Erzählung, ihr engerer Kontext (die Abgrenzung von Gen 1) und die vermeintliche Nähe zum DtrG werden kaum diskutiert (nur 124, Anm. 81, 291).
Kapitel 2 (25–69) führt die aus der Forschungsgeschichte be­kannten Deutungsvorschläge auf und beantwortet sie gleich mit (einleuchtenden) Gegenargumenten: »Erkenntnis von Gut und Böse« kann nicht die Unterscheidungsfähigkeit hinsichtlich des funktional Guten und Schlechten bedeuten, auch nicht kulturelle Kompetenz, denn beides hatte der Mensch als Verwalter des Gartens schon vorher. Auch moralische Kompetenz kann nicht ge­meint sein, denn dann bliebe das Verbot unverständlich. Das schließt auch Weisheit aus. Allwissenheit wiederum wird der mo­ralischen Konnotation des Lexems ṭôv wârâ‘ nicht gerecht. Die Deutung als sexuelle Erfahrung leuchtet nicht ein, weil Sexualität vorher schon vorausgesetzt ist (2,24 f.). Ein Gewinn an Reife ist nichts, was man Gott nachsagen würde. Auf eine magische Fähigkeit schließlich weisen weder die Erzählung noch das Lexem.
Neben die zurückgewiesenen Deutungen treten dann drei weitere (63–69): die Interpretation als juridische Vollmacht, als politische Vollmacht und als soziale Deutungshoheit für die gültigen Konventionen. Hier nimmt F. Anleihen.
Kapitel 3 dient im Grunde schon zur Untermauerung seiner eigenen Deutung. F. führt akkadische und biblische Texte auf, die von göttlicher Vergeltung bzw. Segen und Fluch als deren Medium handeln. Dieselben Motive findet er dann in der Eden-Erzählung (Kapitel 4) und damit seine Antwort auf die Frage, was »Erkenntnis von Gut und Böse« bedeute: nämlich »the knowledge for administering reward and punishment« (150), eine »ultimate power« (152) zur Vergeltung. Die Menschen machen sich zu Richtern an Gottes Statt (150–152).
Diese Deutung versucht F. in den folgenden Kapiteln an anderen Texten der Hebräischen Bibel zu bewahrheiten (155–202). Dazu werden vornehmlich Texte aus dem DtrG herangezogen, die von menschlichen und theologischen Beziehungen in Kategorien von Strafe und Belohnung und mit den Vokabeln »gut« (ṭôv) und »böse/schlecht« (râ‘) reden. Dass sich solche Beispiele finden, ist nicht überraschend. Schließlich gehört es zur semantischen Eigenart der beiden Grundwörter, sowohl getanes als auch erfahrenes Gutes bzw. Böses/Schlechtes zu bezeichnen. Dass dabei ein Tun-Ergehen-Zusammenhang vorausgesetzt wird, ist für die Hebräische Bibel längst bekannt. Welcher Aspekt gemeint ist, liegt nun allerdings nicht im Lexem begründet, sondern im jeweiligen Kontext. F.s Beispiele haben also keinerlei Beweiskraft, dass die fragliche Wendung in Gen 2 f. die Vollmacht zu strafen oder zu belohnen meine. Die Auswahl der Stellen darf auch nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch im Dtr G ṭôv und râ‘ vor allem moralische Kategorien des menschlichen Handelns sind. Man denke nur an die häufigen Wendungen »böse in JHWHs Augen« oder »guter bzw. böser Weg«. In der Urgeschichte ist es ähnlich. Die Lexeme ṭôv und râ‘ werden selten benutzt, wenn aber, dann für funktional Gutes (Gen 1; 2,9.12; 3,6; 6,2) oder für menschliches Verhalten (Gen 4,7; 6,5; 8,21; vgl. 3,22).
Die Urgeschichte zeichnet von Gott keineswegs das Bild eines strengen Richters: Die Ausweisung aus Eden wird in 3,22 nicht als Vergeltung, sondern als Prävention begründet. Die Schuldigen werden fürsorglich behandelt (3,21) und mit bleibenden Lebensgaben (3,20; 4,1) versorgt. Die vernichtende Strafe an Kain nimmt JHWH zurück (4,15). Menschlicher (Ver-)Geltungssucht setzt er etwas entgegen (4,25 f.). 8,21 berichtet von JHWHs Verzicht auf Vergeltung trotz bleibender menschlicher Bosheit. Auch die gewaltlose Steuerung der Menschheitsgeschichte in 11,8 ist keine Strafe. Der von F. postulierte Baum göttlicher Vergeltung findet in der Urgeschichte keinen Nährboden. Anders als F. (202) scheint mir »divine evaluation« die passendere Füllung der »Erkenntnis von Gut und Böse« als »divine retribution«.
Hier zeigt sich ein strukturelles Problem in F.s Arbeit: Man vermisst eine vertiefte Auseinandersetzung mit den narrativen Eigenheiten, so in der Interpretation der schamvollen Reaktion der Menschen in 3,7, die F. als Statusverlust deutet (133–144), während die psychologisch feinsinnige Erzählung eine gebrochene Wahrnehmung der Wirklichkeit beschreibt (3,7–13). Auch die Funktion der Schlange bleibt bei F. unberücksichtigt. Damit aber kann die entscheidende Frage nicht geklärt werden, ob und inwiefern der Griff nach der »ultimativen Macht« den Menschen tatsächlich in einen neuen Status versetzt. Der narrative Kontext, den F. nur lexikalisch auswertet, aber nicht in seiner Erzähllogik, zeigt eher das Gegenteil: Schon in Gen 3,7 ff. macht der Mensch nicht mit neu erworbener Kompetenz von sich reden, sondern mit Scham, Angst und Schuldvorwürfen. Und auch im weiteren Verlauf der Urgeschichte führen seine autonomen Entscheidungen immer wieder zum Scheitern (Gen 4,7–9.23 f.; 6,5; 9,21–27; 11,4–8).
F.s Lösung des alten Streites um die »Erkenntnis von Gut und Böse« könnte man als pointiert bezeichnen, wirklich neuartig ist sie nicht. Juridische oder politische Deutungen sind lange bekannt. F. selbst beruft sich auf entsprechende Ansätze.
Berücksichtigt man die narrative Logik der Eden-Erzählung und deren urgeschichtlichen Kontext, so legt sich allerdings eine umfassendere Definition nahe. Mit der »Erkenntnis von Gut und Böse« ist etwas Grundlegendes gemeint, so zentral wie die Position des Baumes im Garten: die Grundkoordinaten für die Beurteilung des Lebens. Hierin unterscheidet sich die im Paradiesbaum verkörperte Erkenntnis wesentlich von 1Kön 3,9; Jer 4,22; Dtn 30,15, wo es eben nur um die Wahl zwischen einem ethisch guten oder bösen Tun geht. Diese (theonome) Autonomie und Verantwortung hat der Mensch. Die umfassende »Erkenntnis von Gut und Böse« in Gen 2 f. ist demgegenüber Inbegriff einer absoluten Autonomie und als solche eine Anmaßung und Überforderung des Menschen.
Nicht aus Eitelkeit, sondern um die theologische Diskussion anzuregen, sei zu all diesen Fragen auf meine Arbeit »Gut und Böse. Die Anfangslektionen der Hebräischen Bibel« (Freiburg u. a. 2018) verwiesen, die F. leider nicht mehr berücksichtigt hat.