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Ausgabe:

April/2022

Spalte:

308–310

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Carroll R., M. Daniel

Titel/Untertitel:

The Book of Amos.

Verlag:

Grand Rapids u. a.: Wm. B. Eerdmans 2020. XXX, 574 S. = The New International Commentary on the Old Testament. Geb. US$ 52,00. ISBN 9780802825384.

Rezensent:

Rainer Kessler

M. Daniel Carroll R., der Autor des anzuzeigenden Kommentars, ist seit seiner Sheffielder Dissertation (Contexts for Amos: Prophetic Poetics in Latin American Perspective, JSOT.S 132, 1992) ein ausgewiesener Kenner des Amosbuches. Als Sohn einer guatemaltekischen Mutter – deren Name, Rodas, verbirgt sich hinter dem R. des Nachnamens – und eines US-amerikanischen Vaters und selbst dreizehn Jahre in Guatemala in der theologischen Ausbildung tätig, hat er Amos immer auch in lateinamerikanischer Perspek-tive gelesen. Heute unterrichtet er am Wheaton College, Illinois. Er ist in Fragen der Migration und besonders im Einsatz für die Hispanics engagiert. Aber obwohl der Lateinamerikabezug Carrolls Buch grundiert und bereichert, dominiert er es nicht. C. nutzt die weit über 500 Seiten, um umfassend auf alle Fragen der Amos-exegese einzugehen. Er referiert fair die unterschiedlichen Forschungsmeinungen und positioniert sich jeweils gut begründet. Hervorzuheben ist, dass er außer englischsprachiger umfänglich deutsch- und spanischsprachige sowie französische und italienische Literatur berücksichtigt, und zwar auch dann, wenn diese nicht ins Englische übersetzt ist.
Wie immer bei Kommentaren erschließt sich deren Reichtum (oder Dürftigkeit, doch davon kann bei C. nicht die Rede sein) erst, wenn man mit den Texten arbeitet und ins Detail geht. Das ist in einer Besprechung nicht möglich. Drei Punkte im Blick aufs Ganze der Kommentierung möchte ich jedoch hervorheben.
C. liest das Amosbuch als Einheit, die bewusst literarisch gestaltet ist, genauer gesagt als »unity with diversity« (60) oder »unity with complexity« (230). Durchgehend verweist er auf sprachliche, literarische und theologische Elemente, die die Texte miteinander verbinden und zur Einheit formen. Wie ernst er den Lesezusammenhang nimmt, sei an seiner Auslegung des Anfangs (Fremdvölkerworte in Kapitel 1–2) und des Schlusses (Kapitel 7–9) illustriert. Bei den Fremdvölkersprüchen wird immer wieder behauptet, nach den kritischen Worten über die Nachbarvölker müsse die Israelstrophe wie ein Schock wirken. Dem hält C. entgegen, dass bei einem »literary approach« die Israelstrophe keineswegs überraschend komme, sondern vielmehr die Spannung beende, die Überschrift und Motto (1,1–2) aufbauen. Diese kündigen Unheil für Israel an, und am Ende der Völkersprüche erfährt man endlich, worin es besteht (178). Bei den letzten Worten des Amosbuches (9,7–15) zeigt C., wie sie vielfach Fäden des vorhergehenden Textes aufnehmen. Sie widersprechen also nicht dem Rest des Buches, wie das seit Wellhausen immer wieder behauptet wurde – auch C. zitiert dessen berühmtes »Rosen und Lavendel statt Blut und Eisen« –, sondern weiten dessen Botschaft aus (»not a contradiction […] but an extension«, 506 f.).
Als Zweites ist bemerkenswert, wie intensiv C. sich mit der Theodizeefrage befasst, die sich dadurch stellt, dass die Opfer der israelitischen Eliten durch Jhwhs Strafgericht erneut zu Opfern werden (»victims twice over«, 95). C. fragt: »[…] why will everyone, even those who endure oppression, suffer the judgment of invasion and earthquake?« (96). Die erste Antwort ist ebenso einfach wie realistisch: »such is the reality of war and earthquakes« (397). Gottes Strafe kommt nicht als supranaturale Intervention, sondern in Gestalt irdischer Katastrophen. Und die pflegen nicht zwischen Gerechten und Ungerechten zu unterscheiden. Aber es bleibt nicht bei dieser Antwort. C. weist darauf hin, dass das Gericht nicht Jhwhs letztes Wort ist (»judgment is not Yahweh’s final word«, 96). Hier schlägt sich nieder, dass er das Amosbuch immer als Ganzes liest, also einschließlich der schwachen Hoffnungsaussagen in 5,4–6.14–15 und des starken Schlusses in 9,7–15. Besonders wichtig aber ist ihm der Gedanke, dass sich die Schuld nicht so einfach auf die Eliten reduzieren lässt. Zwar sind diese in erster Linie verantwortlich, und sie werden in den Amosworten auch benannt (die Frauen der samarischen Oberschicht, 4,1–3; die Rechtsbeuger und Tributerheber in den Stadttoren, 5,7.10–12; die Gelage feiernden Eliten, 6,1–7 usw.). Dennoch wäre es naiv zu meinen, dass in einer von Korruption geprägten Gesellschaft die unteren Schichten von dieser unberührt blieben. Armut macht nicht gut, sie kann auch kriminell machen. C. nimmt nie die Führung aus ihrer Verantwortung, aber er idealisiert auch nicht die Armen. Besonders in der Religion können Eliten und Unterschichten zusammenfinden. C. spricht von der »civil religion« als Selbsttäuschung (263). In der Tat fällt auf, dass immer da, wo religiöse Begehungen kritisiert werden (4,4–5; 5,4–6.21–27), die Klassenfrage in den Hintergrund tritt, wenn sie auch nicht ganz verschwindet (vgl. die Mastkälber als Opfergaben, die sich nur Reiche leisten können, 5,22).
C. liest nicht nur das Amosbuch als Einheit, er vertritt auch die Auffassung, dass es auf Amos selbst und allenfalls in wenigen Teilen auf ihm Nahestehende zurückgeht. Mit dieser Auffassung befindet er sich durchaus in guter Gesellschaft; man denke nur an die Kommentare von Shalom M. Paul (Hermeneia, 1991) oder Marvin A. Sweeney (The Twelve Prophets, Berit Olam, 2000). Er entzieht sich auch keineswegs der Diskussion, sondern führt sie an jeder einzelnen Stelle. Man täte ihm also Unrecht, würde man ihm Fundamentalismus vorwerfen. Gleichwohl wirken die zu jedem Abschnitt geführten Diskussionen um die »Authentizität« der Worte aus der Zeit gefallen; denn warum sollten Worte späterer Redaktoren oder Fortschreiber weniger authentisch sein als die eines Propheten Amos? C. weiß, dass das Amosbuch selbst Amos nicht als Autor reklamiert, sondern nur behauptet, im Folgenden seine Worte und Visionen wiederzugeben (1,1) (27). Ich habe oben unterstrichen, wie genau C. den Amostext als litera-risches Werk liest. Gleichwohl geht er davon aus, dass ihm ge­sprochene Worte zugrunde liegen: »while the prophet surely de-livered speeches, what lies before the reader is a written text« (202). Wie aber verhalten sich die mündlichen Reden und der literarische Text zueinander? Um noch einmal das Beispiel der Israelstrophe der Völkersprüche aufzugreifen: Gab es auf der Ebene der Rede dann doch die Schockwirkung der Hinwendung zu Is-rael in 2,6–16? Hat die Zu­sammenstellung mit 1,1–2 diese zunichte ge­macht? Oder hat Amos mit den Völkersprüchen zugleich zumindest 1,2 mitgesprochen? All das bleibt ungeklärt. Der Er­klärungsbedarf erhöht sich noch, wenn man C.s Überlegung hinzunimmt, dass die Merkmale von Mündlichkeit im Text als Hinweis zu verstehen sein könnten, dass das fertige Buch dazu be­stimmt war, laut vorgelesen zu werden (33). Der Verdacht des Hypothetischen und Spekulativen, der von C. diachronen Erklärungsversuchen gegenüber geäußert wird, löst sich nicht auf, wenn man auf die Argumentation mit Fortschreibungen und Redaktionen verzichtet.
Wie gesagt, C. ist kein Fundamentalist. Er zählt sich zu den »concerned evangelicals«, die im Amosbuch eine göttliche Billigung (»divine sanction«) für die »vorrangige Option für die Armen« sehen sowie dafür, Ausbeutung zu denunzieren und heute eine prophetische Stimme zu erheben (105). Er kritisiert den Rassismus mancher Amosauslegungen, wenn die Kuschiten in 9,7 als »verachtetes schwarzes Sklavenvolk« verstanden werden – auch hier ist im Übrigen Wellhausen der Stichwortgeber (106). Er bringt das Amosbuch sowohl in seiner hohen literarischen Qualität (»literariness«) wie in seiner Sensibilität für soziale Verwerfungen und die göttliche Antwort darauf näher.
Der Kommentar, der durch über 50 Seiten Register erschlossen wird, wird für die Diskussion über das Amosbuch auf viele Jahre hinaus unverzichtbar bleiben.