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Ausgabe:

April/2022

Spalte:

306–308

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Stegemann, Ekkehard W., u. Wolfgang Stegemann

Titel/Untertitel:

Vom Anti-Judaismus zum Anti-Israelismus. Der Wandel der Judenfeindschaft in theologisch-kirchlichen Diskursen. Hg. v. S. Al-Suadi.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2021. 322 S. = Judentum und Christentum, 26. Kart. EUR 34,00. ISBN 9783170374805.

Rezensent:

Matthias Morgenstern

Markenzeichen des wissenschaftlichen und publizistischen Wirkens der Brüder E. und W. Stegemann ist die Verbindung sozialgeschichtlicher Forschung mit der Kritik exegetischer Traditionen des Antijudaismus und dem öffentlichkeitswirksamen Engagement gegen jede Israelfeindschaft. Soham Al-Suadi, Schülerin Ek­kehard Stegemanns (E. S.), legt eine Aufsatzsammlung der langjährigen Inhaber der NT-Lehrstühle in Basel und Neuendettelsau vor, die wie eine »Zeitreise von den Anfängen der Versuche einer Überwindung des Antijudaismus in der christlichen Theologie bis in die Gegenwart« anmutet (Kathy Ehrensperger in der Einleitung, 14). Der Band beginnt mit einer Reflexion über »Aspekte des Antijudaismus im Neuen Testament«, die auf eine Gastvorlesung in Wien (1983) zurückgeht (21–35). Die Frage, ob die Judenfeindschaft dem Christentum von Anfang an inhärent gewesen sei, wird von Wolfgang Stegemann (W. S.) verneint. Er verweist dazu auf Helmut Gollwitzer, Friedrich-Wilhelm Marquardt, Johann Baptist Metz und jüdische Gelehrte des 19. und frühen 20. Jh.s, die Jesus als im Judentum beheimatet ansahen. Zwei Aufsätze sind den messianischen Vorstellungen im Johannes- (W. S./E. S.: »König Israels, nicht König der Juden? Jesus als König im Johannesevangelium«, 101–117) und Lukasevangelium (W. S.: »Jesus als Messias in der Theo-logie des Lukas«, 119–139) gewidmet. Es folgen Reflexionen zum Thema »Der Jude Jesus und der Glaube der Christen« (E. S., 141–152) und »Sozialgeschichtliche Beobachtungen zum Auseinandergehen der Wege von Christentum und Judentum« (W. S., 173–186).
Im Fokus des Bandes stehen rezeptionsgeschichtliche Arbeiten: »Die Evangelischen Kirchen und das Judentum seit 1945« (W. S., 37–58), »Israel in Barths Erwählungslehre« (E. S., 187–210) und »Theologie zwischen Antisemitismuskritik und alten Vorurteilen« (E. S., 153–171). Der 1990 erstmals publizierte (Rolf Rendtorff zum 65. Geburtstag gewidmete) Beitrag über Rudolf Bultmanns Verhältnis zum Judentum (W. S., 59–79) verdient besondere Aufmerksamkeit – der Autor wurde über die Hermeneutik des Marburger Exegeten promoviert. Der Text beginnt, gestützt auf Erfahrungen von Hans Jonas und Hannah Arendt, mit Beobachtungen zur persönlichen Integrität Bultmanns. Es folgen Ausführungen zu seiner Mitgliedschaft in der Bekennenden Kirche und seinen Äußerungen in der Debatte über die »Kollektivschuld« von 1952. Bultmanns Bemerkung, die Nazis hätten nur grausig vollendet, was im 19. Jh. begonnen habe, wobei zu fragen sei, inwieweit »das Judentum in der modernen Welt für jene verhängnisvolle Entwicklung mitverantwortlich« sei (65), erinnert an Formulierungen, die Gerhard Kittel wenige Jahre zuvor geschrieben hatte. Wie bei dem Tübinger Theologen findet sich bei Bultmann ein Ton der »antijüdischen Stilisierung des Unbehagens an der Moderne«; wie Kittel maßt er sich an zu wissen, wie sich das »echte und reine Judentum« von den Vertretern des modernen »Wahns« unterscheidet (ebd.). Im Hauptteil des Aufsatzes geht es um das »Zerrbild vom antiken Judentum«, das nach Bultmann vor allem durch »Gesetzlichkeit« gekennzeichnet ist. Zu Recht stellt W. S. fest, dass Bultmann hier »eine antike Gesellschaft mit modernen Kategorien« beurteilt und »ihre Religiosität am Maßstab seiner eigenen Theologie« misst. »Denn die Identifizierung des göttlichen Handelns mit der empirischen Geschichte I sraels lehnt Bultmann gerade darum ab, weil hier der Gottes-gedanke ›nicht im radikal jenseitig-eschatologischen Sinne verstanden‹ werde. In welcher Weise hätte Israel im Übrigen sein Selbstverständnis als Eigentumsvolk Gottes empirisch realisieren können? Wie ließe sich diese Glaubensüberzeugung […] em­pirisch-geschichtlich abbilden, wenn nicht eben in jenen Möglichkeiten, die Bultmann gerade kritisiert?« (67) Wenn Bultmann dekretiert, die »Kleinlichkeit der Vorschriften« des jüdischen Gesetzes gingen »ins Absurde und Lächerliche« (68), so halten Rezensent und Autor dies für eine ganz unangemessene Äußerung.
Allerdings ist anzuraten, der von politischer Korrektheit gesteuerten Empörung etwas die Zügel anzulegen: Solche Urteile waren im 19. Jh. auch von liberalen Juden und im frühen 20. Jh. von Zionisten zu hören. Umgekehrt hat nicht nur der »Werkgerechtigkeits«-Vorwurf, sondern auch das von wohlmeinender Seite initiierte Unternehmen, Juden von diesem Vorwurf freizusprechen, seine Tücken. Praktizierende Juden, die allergrößte Stücke auf ihr Gesetz (unter Einschluss des sogenannten »Ritualgesetzes«) halten, stoßen sich mitunter weniger an dem Vorwurf als an ihrer protestantischen »Verteidigung«. Selbstverständlich setzen sie all ihr Bestreben ein, um die Sinaigebote zu halten! Natürlich erwarten sie (wie dies auch viele biblische Texte nahelegen), dass ihnen das Tun des Guten zur Gerechtigkeit angerechnet wird! Hier liegt in nuce das Problem vor, das W. S. in seinem Beitrag »Wie ›christlich‹ ist das Judentum? Zur Kritik an einigen seiner (protestantischen) Konstruktionen« (225–246) beschreibt: Eine fremde »Religion« wird »am Modell der eigenen« analysiert, was »eine Beurteilung und Bewertung« mit sich bringt, die kritisch zu hinterfragen ist (228). Eine »richtige Religion« – so das protestantische Vorurteil – muss nun einmal eine gescheite Gnadentheologie haben und ohne »Gesetzlichkeit« auskommen. Aufgeklärte Zeitgenossen unternehmen daher alles, um den geschätzten »Anderen« diesbezüglich zu drapieren. Der Autor würde diese Deutung des Rezensenten wohl nicht unterschreiben, aber er bringt andere Beispiele fragwürdiger Judentums-Konstruktionen auf protestantischer Seite, angefangen mit der Verwendung von Termini wie »Ekklesiologie« und »Theologie« für jüdische Phänomene bis hin zum (für das Judentum zumindest diskutablen) Begriff der »Religion«.
Besonders lesenswert ist der Aufsatz über »Die Stellung Martin Luthers und der Evangelischen Christen zum Judentum« (81–99) aus dem Jahre 1992. Mit seiner Betonung der für den Reformator zentralen christologischen Bibelauslegung nimmt E. S. Einsichten vorweg, die sich in breiten Kreisen erst während des Reformationsjubiläums 2017 durchgesetzt haben. Bei einem weiteren Text (»Hat der Apostel Paulus eine rabbinische Ausbildung in Jerusalem erhalten?«, W. S., 271–286) wundert sich der Leser freilich, warum die Auseinandersetzung mit einer Position wie der Martin Hengels (»Der vorchristliche Paulus«, Tübingen 1991) unterbleibt.
Rechtzeitig zur demnächst in Karlsruhe stattfindenden Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen wird im hinteren Teil des Bandes ein 2013 erschienener Text neu abgedruckt, in dem E. S./W. S. die nahostpolitischen Positionen des ÖRK scharf kritisiert hatten (»Von Ambivalenz zur Feindschaft«, 247–270). Die Autoren kommen zu dem Urteil, »die verschiedenen Verlautbarungen (und Aktivitäten)« seitens des ÖRK »zum palästinensisch-israelischen Konflikt« seien ein gutes Beispiel dafür, »dass keines der Organe des Weltkirchenrates im konkreten Fall zu einer fairen oder neutralen Einschätzung des besprochenen politischen Konflikts fähig ist. Tatsächlich mischen sich immer wieder politische Akteure von außen in die Entscheidungsfindung ein« (256). Als einleuchtendes Beispiel für doppelte Standards wird genannt, dass der ÖRK Tibets Besetzung durch China oder Nordzyperns durch die Türkei nie zur Sprache gebracht habe, während er permanent Israels bedingungslosen Rückzug aus den besetzten Gebieten fordere und die Besetzung einseitig für alles Übel im Orient verantwortlich mache (260).
Zwei besondere Texte runden den Band ab: eine Anthologie zu »Abschiedskunst in der Bibel« (und der Antike) unter dem Gen 49, 33 entnommenen Titel »Und Jakob zog seine Füße auf das Bett zurück und verschied« (287–306). Hier fällt auf, dass E. S. neben Berichten von der letzten Stunde des Sokrates, des Kaisers Augustus, Senecas, des Erzvaters Jakob und Jesu ausgerechnet die Sterbeszene Rabbi Judas des Fürsten im Midrasch und im Talmud vergisst. Immerhin lehnt sich diese Szene an Gen 49 an und erinnert insofern an Sokrates, als auch in ihr (wie in Mt 26,75) am Ende ein Hahn auftritt. Schließlich eine Interpretation der »jüdischen Christologie« Daniel Boyarins: »Die Evangelien als jüdische Texte« (W. S., 307–316). Hoffentlich trägt dieser einfühlsame Text dazu bei, dass die längst überfällige Rezeption dieses bedeutenden Gelehrten im deutschsprachigen Raum an Fahrt gewinnt.