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Ausgabe:

April/2022

Spalte:

304–306

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Liss, Hanna

Titel/Untertitel:

Jüdische Bibelauslegung.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2020. XXVII, 538 S. = utb Jüdische Studien, 4. Kart. EUR 40,00. ISBN 9783825251352.

Rezensent:

Daniel Vorpahl

Das Vorhaben eines Lehrbuchs zur jüdischen Bibelauslegung, das deren Entwicklungen vom Mittelalter bis ins 21. Jh. nachzeichnet, scheint ausgesprochen ambitioniert. Zugleich ist es von großer Relevanz, dass dieser Herausforderung endlich begegnet wird, sind doch gut anwendbare Lehrbücher für den Fachbereich jüdischer Bibelwissenschaft äußerst rar. Hanna Liss, Professorin für Bibel und jüdische Bibelauslegung an der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg, schließt mit ihrer mehr als 500 Seiten starken Publikation also eine Lücke in der deutschsprachigen Fachlandschaft der Judaistik, Jüdischen Theologie und Jüdischen Studien sowie angrenzender interessierter Disziplinen, die für die Anwendung in der Lehre bislang auf weniger umfangreiche Einführungen und insbesondere englischsprachige Überblickswerke zurückgreifen mussten.
Entsprechend hoch sind die Erwartungen, an denen sich ein solches Lehrbuch zu messen hat. L. selbst weist im Vorwort Ansprüche aus, wonach ihr Werk verständlich, umfassend und leicht lesbar sein solle (VII). Hinzu kommt die Beurteilung dessen Handhabung sowohl für Lehrende als auch Studierende, die in diese Rezension einfließen soll.
Der ebenso konkrete wie umfangreiche Gegenstand ist mit dem Titel »Jüdische Bibelauslegung« klar erfasst. In einer fachbezogenen Einleitung zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit jüdischen Schriftauslegungstraditionen weist L. mit dem indirekt formulierten Anspruch, Selbstgewissheiten jener Tradition an­hand von Reibungspunkten in Frage zu stellen (6), auf eine wich-tige Aufgabe für ein heutiges Studium der Judaistik bzw. der jü-dischen Theologie hin (4).
Die folgenden zehn Kapitel sind im Wesentlichen historisch-chronologisch aufgebaut. Das erste Kapitel dient zunächst als Brückenschlag zwischen der Textgeschichte des Tanach, den Ur­sprüngen jüdischer Auslegungstraditionen und den mittelalter-lichen Diskursen judäo-arabischer Sprachwissenschaft und Bibelkommentierung. Wertvoll sind die allgemeinverständlich dargelegten Grundlagen des jüdischen Schriftverständnisses (vor allem 9–11.29.33, vgl. 241). Besonders gelungen ist das entwicklungsrelevante Binnenkapitel »Von der Kompilationsliteratur zum Autor« (22–25). Darüber hinaus bietet L. in diesem einführenden Kapitel einen exzellenten geschichtlichen Überblick jüdischer Auslegungstraditionen, der nur an wenigen Stellen verkürzend vereinfacht (vgl. 9.20). Neben jüdisch-christlichen Entwicklungszusammenhängen kommt L. hier auch auf Bezugspunkte zwischen jüdischer Bibelauslegung und Koran-Exegese und die vor allem sprachwissenschaftlichen Verflechtungen mit der arabisch-islamischen Umwelt zu sprechen (27–30.41).
Die Kapitel zwei bis neun orientieren sich konsequent am gleichen Aufbau einer historiographisch-soziokulturellen Kontextualisierung (»Voraussetzungen und Hintergründe«), gefolgt von der Vorstellung der exponiertesten »Persönlichkeiten« der jeweiligen Auslegungsepoche bzw. -strömung und einer Erläuterung der exegetischen Entwicklungen und Besonderheiten (»Neue Zugänge«). Den Abschluss bildet jeweils eine hilfreiche »Zusammenfassung«, die nur in einigen Kapiteln etwas zu knapp ausfällt (3. Kapitel, 98; 5. Kapitel, 150; u. 8. Kapitel, 283).
Inhaltlich zeichnet L. im zweiten bis neunten Kapitel mit gleichbleibender Gewissenhaftigkeit die europäischen Zentren jüdischer Gelehrsamkeit, zentrale Entwicklungslinien und Diskurse der jüdischen Schriftauslegung und Bibelübersetzung sowie die exegetischen Marksteine einflussreicher Schriftgelehrter von Hochmittelalter bis Moderne nach. Die Kontextualisierungen am Anfang jedes Kapitels geben relevante Einblicke in die Zusammenhänge jüdisch-christlicher Kulturkontakte, Intertextualitätsbeziehungen zur literarischen Umwelt, wichtige Schnittstellen zu anderen Wissenschaftsbereichen sowie zu innerjüdischen Diskursen, etwa um Maimonides oder die jüdische Aufklärung, aber auch historische Schlüsselmomente wie die Entwicklung des Buchdrucks. Spätestens im neunten Kapitel geraten Kontextualisierung, Biographieschreibung und Auslegungsgeschichte allerdings herausfordernd umfangreich, insbesondere im Hinblick auf eine studentische Leserschaft.
In den jeweiligen Porträts jüdischer Bibelausleger gelingt es L., die bekanntesten Namen der Auslegungstradition im Hinblick auf ihre Relevanz und Wirkung einzuordnen, ohne die weniger berühmten Gelehrten in deren Schatten zu stellen. Tatsächlich geraten die biographischen Notizen besonders anschaulich, wenn sie mit dem Hinweis auf deren Leerstellen beginnen, wie bspw. im Falle R. Avraham ben Meïr ibn Ezras (104–110). Andere bleiben aus ähnlichen Gründen auf biographische Kerndaten beschränkt.
In den Hauptteilen der Kapitel zwei bis neun stellt L. die innerjüdischen Entwicklungen der Schrifttradierung und Methoden bzw. Tendenzen ihrer Auslegung vor, wie Derasch-Tradition, philosophische Lesarten, vierfacher Schriftsinn oder symbolische Deutungen bis hin zur Text- und Traditionskritik. Unverzichtbar dafür sind die vielfach eingebetteten Auslegungsbeispiele, welche die exegetischen Prinzipien und Problemstellungen jüdischer Schriftauslegung veranschaulichen und Studierenden niedrigschwellig die Relevanz kritischer Quellenarbeit vermitteln. Zudem zeichnet L. die gesellschaftskulturelle Wirkung der Bibelauslegung nach, bis zu deren Verwissenschaftlichung und dem Bemühen um akademische Ausbildungsstätten.
Im zehnten Kapitel wird die bisherige Struktur zugunsten einer geokulturell orientierten Skizze jüdischer Bibelwissenschaft ab der Mitte des 20. Jh.s aufgegeben, in der auch Bibelwissenschaftlerinnen wie Nechama Leibowitz oder Sara Japhet Erwähnung finden. Mit dem abschließenden »Ausblick« verweist L. auf ihre einleitende fachliche Verortung und regt mit einer Selbstvergegenwärtigung der akademischen Beschäftigung mit jüdischer Bibelauslegung zu Reflexionen, die für die Ausbildung einer Identität des Faches essentiell sind.
Der übersichtliche Aufbau des Lehrbuches ermöglicht eine gute Handhabung. Besonders gewinnbringend sind die zu digitalisierten Quellenausgaben führenden QR-Codes, deren Einsatz Nachahmung in anderen Lehrbüchern finden sollte. Auch das Glossar dürfte vor allem für Studierende einen funktionalen Gewinn darstellen. Ferner erleichtern die Literaturangaben zu Beginn jedes Kapitels den Zugriff, derweil die allgemeine Bibliographie in ihrer detaillierten Differenzierung etwas umständlich zu handhaben ist. Praktikabel aufbereitet ist wiederum das Stellenregister, einschließlich der einzelnen Gelehrten zugeordneten Bibelstellen. Das abschließende Namenregister hätte gern um ein Sachregister er­gänzt werden können.
Die besonderen Ansprüche an ein Lehrbuch erfüllt L. insbesondere hinsichtlich der inhaltlichen Fülle ihrer umfassenden Einführung in die Geschichte der jüdischen Bibelauslegung. Zudem bietet sie Studierenden ein gut lesbares, verständlich geschriebenes Nachschlagewerk zur Orientierung und historiographischen Einführung, das mit zahlreichen Beispielen auch Anregungen für die praktische Anwendung in der Lehre gibt. L.’ »Jüdische Bibelauslegung« ist ein gelungenes und vor allem überfälliges Lehrbuch, das die akademische Vermittlung seines Gegenstandes bereichern dürfte.