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Ausgabe:

April/2022

Spalte:

297–300

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Allison Jr., Dale C.

Titel/Untertitel:

4 Baruch. Paraleipomena Jeremiou.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2019. VII, 640 S. = Commentaries on Early Jewish Literature. Geb. EUR 92,95. ISBN 9783110269734.

Rezensent:

Jan Dochhorn

Das vierte Baruchbuch, auch Paralipomena Jeremiae (Jeremiou) genannt, erzählt, wie Jeremia, Baruch und Abimelech die Eroberung Jerusalems und das Exil bewältigen: Jeremia zieht – anders als wir es aus der biblischen Überlieferung kennen – ins babylonische Exil und organisiert am Ende die Rückkehr, Baruch trauert zwischen Gräbern in der Umgebung Jerusalems und bereitet durch einen Brief an Jeremia die Rückkehr vor, und Abimelech verschläft das meiste – mit einem von ihm als nicht ganz ausreichend empfundenen Nickerchen von 66 Jahren. Es ist indes er, der das entscheidende theologische Stichwort gibt: Einen Greis, der Abimelechs Ruhepause als den Schlaf des von Gott geschonten Gerechten identifiziert, segnet er mit den Worten: »Gott leuchte dir den Weg zum oberen Jerusalem!« (4Bar 5,35: Ὁ θεὸς φωταγωγήσει σε εἰς τὴν ἄνω πόλιν Ἱερουσαλήμ): Die eigentliche Hoffnung des 4Bar ist postmortal, jenseitig; die Trauer um das irdische Jerusalem – in der Welt nicht der Erzählung, sondern von Autor und Leser das im Jahre 70 eroberte Jerusalem – wird nicht verdrängt, aber man weiß um Eigentliches, das nicht verloren ist. Am Ende des Buches erscheint dies Eigentliche als das Christusgeschehen. Hierin sieht die Mehrzahl der Studien zum 4Bar eine Interpolation; der Hauptbestand des 4Bar gilt den meisten als jüdisch.
Eine führende Rolle hat 4Bar in der Parabiblica-Forschung bisher nicht gespielt; das ihm nahestehende 2Bar hat es wohl ein wenig überschattet. Nun aber liegt mit der Arbeit von Dale C. Allison Jr. ein nahezu monumentaler Kommentar vor. Seine Textgrundlage bleibt freilich eine präliminäre (vgl. 3–8): Der größte Teil der handschriftlichen Überlieferung des 4Bar ist noch gar nicht kollationiert (es existieren ca 60 griechische Handschriften); von den Übersetzungen wurde die nur äthiopische gründlich aufgearbeitet (durch Piovanelli; 1986); für die armenische, slavische und rumänische Überlieferung steht dergleichen noch weitgehend aus. A. muss sich mit dem begnügen, was editorisch fassbar ist: Mit den Ausgaben von Harris (1889), Kraft/Purintun (1972) und Herzer (2005) erschließen sich uns sechs griechische Handschriften; auch auf Wissen über die Versionen greift A. zurück und lässt den am umfänglichsten bezeugten Kurztext (gegenwärtig nur ansatzweise bekannt durch die Ausgabe von Vassiliev; 1893) nicht unberücksichtigt. Aufgrund dieser Befunde erstellt A. Kapitel für Kapitel mit ausführlicher Begründung in einem Abschnitt zur Textkritik einen eklektischen Text, den er übersetzt und kommentiert. Bei der Kommentierung legt er hauptsächlich Wert auf die Dokumenta-tion sprachlicher und inhaltlicher Parallelen (mit der Folge, dass sein Stellenindex 144 S. umfasst!). Gerade dies wird dem Kommentar Unentbehrlichkeit sichern, und es ist auch entscheidend notwendig: Durchweg wird beim 4Bar zu fragen sein, ob wir es jeweils mit christlichem Superstrat zu tun haben (hervorgebracht durch Interpolation oder durch willkürliche wie unwillkürliche sprachliche Modernisierung von Seiten der Kopisten) oder aber mit jüdischem Grundbestand. Parallelen bei byzantinischen Autoren etwa können – müssen aber nicht – auf christlichen Einschlag hindeuten.
Wie positioniert A. sich in der Forschungsszenerie? Harris hatte 4Bar als ein christliches Buch eingestuft, verfasst im Jahre 136 nach dem Ende der Bar Kochba-Revolte (27). Beide Elemente dieser historischen Verortung lehnt A. ab: 4Bar ist für ihn im Kernbestand jüdisch (27–34), und die 66 Jahre von Abimelechs Schlaf auf das Jahr 70 aufzuaddieren und so 136 n. Chr. das Abfassungsdatum von 4Bar zu ermitteln, hält er für kaum zwingend (62–63); auf S. 257 verweist er für die 66 Jahre auf eine – allerdings nicht besonders gut erhaltene – Parallele in einem qumranischen Jeremia-Apokryphon (4Q 389). Das im 4Bar Erzählte passt für ihn besser auf die Situation nach der Tempelzerstörung als auf ein Datum im Anschluss an den Bar Kochba-Krieg (62–63). Zudem habe, so A., das Christentum nach Bar Kochba keine jüdischen Parabiblica mehr importiert (63). Eine Festlegung vermeidet A. bei der für 4Bar anfallenden synoptischen Arbeit: Es gibt Motivparallelen im 2Bar und 3Bar, in der (koptisch und arabisch überlieferten) Historia Captivitatis sowie in Pesiqta Rabbati 26: Ein eindeutiges Gefälle (dahingehend etwa, dass 4Bar von 2Bar abhängig wäre) will A. nicht feststellen und gibt dabei zu bedenken, dass ein Großteil der frühjüdischen Literatur verloren sei und daher mit uns unbekannten Quellen zu rechnen sei (41–57). Erkennbar aber ist der für den jüdischen Bestand in 4Bar verantwortliche Autor in seiner Sicht nicht einfach der souveräne Erfinder von Traditionen; ein Moment diachroner Analyse ist bei A. durchaus zu erkennen.
Ein gut fundierter Kommentar kann ermüden. Die Gefahr besteht, dass man sich sagt: Die Arbeit ist vorerst erledigt; 4Bar ist ausgeforscht. Aber es geht auch anders: Man gewinnt Lust, jetzt erst recht anzufangen, unterstützt durch anregende Vorarbeit. Drei Ansatzpunkte künftiger Arbeit möchte ich hier andeuten:
1. Was das christliche Superstrat angeht, wäre noch einiges für die theologische Verortung zu tun. Zunächst einmal: Es muss selbstverständlich nicht nur eine Hand gegeben haben; gerade christlicher Spracheinschlag kann durch unterschiedliche Kopis-ten eingedrungen sein; übrigens ist gerade in dieser Sache der textkritische Befund abzuwarten. Aber dann: Es gibt deutlich erkennbar rezensionelle Arbeit eines Christen in 4Bar 9, mindestens in 9,10–32. Zu dieser Passage teilt A. uns mit, sie sei supersessionistisch (u. a. 56–57), womit er den Text eher moralisch wertet als präzise historisch verortet. Indes gibt es gerade hier Anlass zu interessanten Fragen: 4Bar 9,10–32 nimmt die in ihrer Christologie tendentiell doketistische Ascensio Isaiae auf und erzählt dann die Geschichte von einem doketischen Martyrium: Statt des Propheten Jeremia steinigen die Juden zunächst einen Stein, der durch Gottes Macht wie Jeremia aussieht, während Jeremia unerkannt weiter von Christus redet. Soll Jeremia hier dem Scheine nach leiden wie nach dem Scheine auch derjenige litt, von dem er redet? Die Szene er-innert an die doketistische Kreuzigungstradition des alexandri-nischen Gnostikers Basilides, dem zufolge Simeon von Kyrene ge­kreuzigt wurde, während der Erlöser abseits stehend sich darüber amüsierte (Irenaeus, Adv Haer I,24,4; vgl. Tract Seth in NHC VIII, 55–57). Bezeugt das christliche Superstrat von 4Bar ein Christentum, das sich im Übergang zwischen Asc Isa und Gnosis befindet? Von der Asc Isa her ergibt sich, wie ich anderenorts gezeigt habe, ein Gefälle zum gnostischen Jaldabaoth-Mythos (vgl. meinen Beitrag in BEThL 280; 2016); lässt sich auch – über das christliche Stratum in 4Bar 9 – ein Gefälle von seiner doketistischen Christologie zu der doketistischen Kreuzigungserzählung des Basilides ziehen?
2. Bei der synoptischen Arbeit vergleicht A. eher die Passagen, die parallel sind, als dass er die Gesamttendenz der Schriften berücksichtigte, in denen sich die Parallelen finden. Gerade hier aber ist Erstaunliches zu erheben: Die Jeremia/Baruch/Abimelech-Parabiblica weisen beträchtliche Unterschiede in der Grundtendenz auf. 3Bar etwa lenkt von der misslichen Situation nach der ersten Tempelzerstörung – wir dürfen an die zweite denken – ohne jegliche Erörterung der Lage auf etwas viel Wichtigeres hin: kosmologische Gehalte. Über die Schau der Himmelwelt lernt man im 3Bar eher etwas über das Wetter als über das Geschick Israels. Himmels-Wissen scheint hier existentielle Betroffenheit angesichts der nationalen Notsituation eher zu verdrängen, als dass diese – wie in 4Bar – aufgegriffen und dann mit Überweltlichem korreliert würde. Die Historia Captivitatis wiederum lässt etwas wie eine Notsituation von Autor und Leser erst gar nicht erkennen: Anders als 4Bar liegt hier wohl kaum eine doppelbödige Erzählung vor, mit der von Jeremia erzählt, aber zugleich die Tempelzerstörung um 70 n. Chr. reflektiert würde (A. sieht 4Bar wie die Evangelien als ein two-level-drama; 65), sondern vielmehr eine überwiegend nur historisch interessierte Nacherzählung der Geschichte Jeremia von seinem Leiden unter Zedekia bis hin zur Wiedereinrichtung des Tempelkults nach der Rückkehr aus dem Exil. Der Grundbestand dieser Geschichte kann meines Erachtens durchaus vor der Tempelzerstörung entstanden sein, womit sich ergeben würde, dass wesentliche Motivbestände des 4Bar (etwa die auch in der Hist Capt er­zählte Geschichte vom Schlaf Abimelechs) nicht erst mit dem ers-ten jüdischen Krieg hervorgebracht worden sein müssen. Es gibt ja auch Jeremia-Apokryphen in Qumran (4Q 383.384.385b387b), die freilich den Propheten – wohl am Lebensende – nicht in Babylonien auftreten lassen, sondern (eher dem biblischen Befund folgend) in Ägypten.
3. A.s Auskunft, das Christentum habe nach dem Bar Kochba-Krieg keine jüdischen Parabiblica mehr importiert (s. o.), bin ich überwiegend zu folgen bereit; sie wäre für die Parting of the Ways-Debatte zu verwenden (dahingehend, dass eine Trennung zwischen Judentum und Christentum eben doch nicht nur Sache einer Spätzeit gewesen ist). Aber die Suche nach Gegenbeispielen würde natürlich Freude bereiten: Die Vulgata-Version des Tobitbuchs wird ein Spätimport sein; Hieronymus will sie seinem Prolog zum Tobiasbuch zufolge aus einer jüdisch-aramäischen Vorlage übersetzt haben. Und parabiblisches Schrifttum war auch willkommen im postkonstantinischen Christentum Palästinas bei der Entde-ckung eines Prophetengrabs: Laut Sozomenus, Hist Eccl IX,17 hat sich ein Mönch Sacharjas in einer alten und hebräischen, ausdrücklich als nicht-kirchlich bezeichneten Schrift erkundigt, was es mit einer zweiten Leiche im Grab des Propheten Sacharja auf sich hatte (bzw. in dem, was man damals dafür hielt): Es handelte sich um den Sohn desjenigen Königs, der den Propheten getötet hatte (vgl. 2Chr 24,20–22). Jüdisches Wissen blieb anscheinend doch fortwährend relevant in der christlichen Antike. 4Bar wird aber wohl tatsächlich früher aufgenommen worden sein, wie schon das altertümliche (nicht-orthodoxe) Profil von 4Bar 9,10–32 andeuten könnte.