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Ausgabe:

April/2022

Spalte:

293–295

Kategorie:

Altertumswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Heyden, Katharina, and Maria Lissek [Eds.]

Titel/Untertitel:

Jerusalem II: Jerusalem in Roman-Byzantine Times. Ed. with the assistance of A. Kaufmann.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2021. IX, 593 S. = Civitatum Orbis MEditerranei Studia, 5. Lw. EUR 154,00. ISBN 9783161583032.

Rezensent:

Dieter Vieweger

Der 2021 erschienene Band behandelt die Geschichte Jerusalems von der spätrömischen Epoche (zumeist ab 2. Jh. n. Chr.) bis in die Spätantike und erschien als 5. Band in der Reihe Civitatum Orbis Mediterranei Studia (COMES). Das Buch geht auf eine Tagung im September 2017 im Schloss Münchenwiler (CH) zurück.
Die Veröffentlichung beabsichtigt, einen multiperspektivischen Zugang zu einer Stadt zu eröffnen, die im betrachteten Zeitraum drei Namen trug: Aelia Capitolina, Jerusalem/Hierosolyma und al-Quds. Sowohl die Beiträge selbst als auch deren thematische Verbindung im Aufsatzband werden diesem Ziel gerecht. Jedes Kapitel eröffnet einen speziellen, bemerkenswerten Zugang zu einem der wichtigen Themen der urbanen Entwicklung sowie der religiösen Bedeutung der Stadt. Die Fachkompetenz der Beiträger wie die Ansprache ungelöster Forschungsfragen fasziniert. Dabei werden (nicht nur in der ausführlichen Einleitung) gemeinsame Erkenntnisse als auch die Unterschiede zwischen den einzelnen Beiträgen aufgezeigt und offene Fragen diskutiert. Der Band präsentiert ein drei-/vierteiliges Panorama der Stadtgeschichte, wobei die Überschrift über das (leider nur mit zwei Artikeln bedachte) vierte Kapitel irritiert:
Teil 1: Stadtentwicklung (Topographie und Bebauung)
Teil 2: Leben in der Stadt und im Umland (Ökonomie und
Religionen)
Teil 3: Ansprüche an die Stadt (Kaiser, Bischöfe, Mönche)
Epilog: Die Stadt in der frühislamischen Zeit
Wie von einem Sammelwerk zu erwarten, vereint der vorliegende Band Beiträge von Experten aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen und Ländern, Archäologen, Historiker, Judaisten, Is­lamwissenschaftler, Kunsthistoriker und christliche Theologen aus der Schweiz, Israel, Frankreich, Deutschland, den USA und den Niederlanden legen den aktuellen Stand der Forschung und eigene Erkenntnisse vor. Palästinensische Wissenschaftler zählen allerdings nicht zum Autorenkreis. Drei übergreifende Fragen ziehen sich durch die Beiträge:
– Kontinuität und Diskontinuität (wie in urbanen Kontexten stets interessant),
– Stadt und Umland (das Problem größerer Städte) und
– reale und imaginäre Stadt (eine speziell Jerusalemer Frage-
stellung).
Im Gegensatz zu anderen COMES-Bänden bietet der Sammelband keinen Abriss der Geistesgeschichte Jerusalems, keine Darstellung der Theologien und Weltanschauungen, die in Jerusalem entstanden, da vom 2. bis zum 7. Jh. n. Chr. neben christlichen Autoren nur wenige Quellen paganer, jüdischer oder islamischer Gelehrter Jerusalems überliefert sind. Die meisten der für die spätantike Zeit überlieferten Texte stammen aus christlichen und jüdischen Quellen. Dabei wird zumeist das »christlich-orthodoxe« Bild Jerusalems als eine von vielen Spielarten des Christentums herausgestellt; ebenso eine bestimmte Prägung des Judentums, nämlich das rabbinische. In der Folge erschiene es doch zweckmäßig, die Geschichte der Stadt in größtmöglicher Vielfalt zu erkunden. Aus diesem Grunde vermisst man ausgeführte Artikel zur Epigraphie, zu den östlichen Kirchen sowie zum ostkirchlichen Mönchtum. Ebenso sollten zu den Beiträgen zur Topographie und zur Baugeschichte noch ausgewählte Betrachtungen archäologischer (Be-)Funde (z. B. Amulette, Alltagsgegenstände, Wohnhäuser), herausragende, typisch spätantike Fundgattungen und deren Herstellung (Handwerksbetriebe und ihre Auftraggeber) neue Einblicke und Innenansichten in die Stadtgesellschaft, deren vielfältigen Glauben und die alltägliche Lebensweise vermitteln. Nicht zuletzt könnte die Auseinandersetzung mit dem Einfluss von Erdbeben (363 sowie 747–749 n. Chr.), der Justinianische Pest (541 n. Chr. und ihrer vielen folgenden Wellen) sowie anderer übergreifender Katastrophen (»Kleine Eiszeit der Spätantike«) den Blick auf die Stadt bereichern. Die Zeit der einschneidenden Maßnahmen während und nach der sassanidischen Eroberung 614 n. Chr. und durch der »Arabisierung« des Kalifats um 700 n. Chr. bis hin in die abbasidische Epoche hätte weitere Artikel im vierten Themenkreis gerechtfertigt.
Nur wenige (vom Rezensenten) ausgewählte Artikel können hier erwähnt werden. Zum ersten Themenbereich des Buches »Stadtentwicklung« sei auf Christoph Markschies’ »Die Christianisierung Jerusalems und ihre Auswirkungen auf die Urbanisierung« verwiesen.
Der wüste Tempelberg zeige, dass die bauliche »Christianisierung« der Ortslage scheiterte; hier auch die physische Urbanisierung in der Spätantike. Die Anastasis (Grabeskirche) dagegen sei nur auf den ersten Blick ein Zeugnis für die umfassende »Christianisierung« der Stadt. In Wahrheit zeige sich, dass die funktionale und soziale Dimension des Hauptheiligtums einer paganen Colonia auch unter veränderten religionspolitischen Bedingungen weitgehend fortgesetzt werde. »Urbanisierung« dominiere hier also im Grunde »Christianisierung«. Ganz ähnlich könne man auch die neue Marienkirche Justinians deuten. Je stärker sich jedoch die Stadt mit Klerikern, Mönchen und Nonnen und pilgernden Christenmenschen aus allen Gegenden des Imperium gefüllt habe, desto mehr überschrieb eine christliche Landkarte den Stadtplan von Jerusalem, desto mehr liefen die beiden Prozesse der »Christianisierung« und »Urbanisierung« parallel. Doch selbst dann seien sie doch noch immer gut zu unterscheiden gewesen. Entsprechend sorgfältig sollte auch heute zwischen beidem differenziert werden.
Jon Seligman, »The Economy of Jerusalem from the second to se­venth Centuries« aus dem zweiten Bereich des Sammelbandes »Leben in der Stadt und im Umland« untersuchte die landwirtschaftlichen Potentiale des Umlandes und dessen Nutzung (Getreide, Öl, Wein, Fleisch, Milch).
Auch wenn keine der von Seligman genannten Zahlen als absolut zu betrachten sei, vermittelten diese doch ein Bild zum tatsächlichen Nahrungsmittel-Verbrauch, zum Bedarf und den Möglichkeiten für deren Erzeugung. Demnach wurden etwa die Hälfte der Anbaufläche oder weniger tatsächlich für die Landwirtschaft benötigt, so dass ausreichend Land noch als Weidefläche zur Verfügung stand. Jerusalem war in der Lage, sich vom eigenen Hinterland zu ernähren, ohne auf Importe aus der Ferne zurückgreifen zu müssen. Auch auf Einfuhren aus den angrenzenden Regionen wäre Jerusalem nicht notwendigerweise angewiesen gewesen, selbst wenn das durch eine begrenzte Anzahl von Vorratsgefäßen und Amphoren (z. B. aus Gaza) belegt würde. In der weit vom Meer und den wichtigen Handelsrouten entfernt liegende Stadt dominiert die lokal hergestellte Keramik und wird durch Importe von Feinwaren ergänzt.
Seligmans Berechnungen beziehen sich allerdings nur auf die Versorgung der lokalen Bevölkerung mit Nahrungsmitteln. Dennoch deute alles darauf hin, dass die Stadt und die Region keine Probleme hatten, auch den zusätzlichen, durch Pilger hervorgerufenen Bedarf zu decken.
Die Wirtschaft des byzantinischen Jerusalem beruhte auf einem autarken landwirtschaftlichen Hinterland, dem Pilgerwesen und direkten kaiserlichen und privaten Zuwendungen. Sie lebte in einem gewissen Wohlstand, was durch die Pracht ihrer Kirchen und die Vielsprachigkeit der Inschriften belegt werde.
Die physische und die imaginäre Stadt Jerusalem sei »eine Ikone der Natur«, wie Hagith Sivan in ihrem Beitrag »The Making of Memory« feststellt. Diese Stadt existiere gleichzeitig in der realen und in der geistigen Welt. Wie die reale und die imaginierte Stadt Jerusalem zueinander in Beziehung gesetzt würden, hing unter an­derem von den Machtverhältnissen in der realen Stadt ab. Die Mächtigen neigten dazu, die physische und die imaginäre Stadt miteinander zu identifizieren, sie bilden oft eine »synoptische Sicht«, die das himmlische Jerusalem gleichzeitig im irdischen sieht.
Angesichts der anhaltenden Relevanz Jerusalems – sowohl als reale Stadt als auch als Symbol des (religiös durchdrungenen) Nahostkonflikts bis heute – sind die Darstellungen von Kontinuität und Wandel bei/nach der arabischen Eroberung von besonderer Bedeutung (Angelika Neuwirth).
Wie sie auch an anderer Stelle bereits verdeutlichte, kam der Islam nicht als ein Fait accompli (als eine bereits »fertige Religion«) – mitgebracht von fremden Eroberern – nach Jerusalem, wenn dies auch die Innenansicht vieler von der Eroberung 638 n. Chr. Betroffener gewesen sein mag. So zeige ein Blick auf die Grundurkunde des Islam, den Koran, dass die neue Religion keineswegs Jerusalem-fern war, sondern auf eben jenen Traditionen aufbaute, die auch die beiden älteren Religionen mit Jerusalem verbanden. Im 7. Jh. geführte Kontroversen zwischen Juden und Christen um die physische und spirituelle Bedeutung Jerusalems spiegele der Koran wider, der eine »Achse der Heiligkeit« zwischen Mekka/Medina und Jerusalem bilde.
Der Felsendom und die El-Aqsa Moschee waren erstmals nicht Übernahmen schon vorhandener Kirchen, sondern echte »Neubauten«. Sie könnten als architektonische Zeugen für die nun in politische Akte umgesetzte Berufung der Muslime zu einer Umma wasat, einer »Gemeinde der Mitte«, gelten.
Boas Shoshan hingegen geht von einer späten Übernahme des jüdischen Jerusalem-Motivs durch die islamische Tradition aus, die stets einen polemischen Charakter getragen hätte. In diesem Forschungsdiskurs spiegelt sich die Relevanz der »Jerusalemfrage« in der Neuzeit.
Insgesamt ist festzustellen, dass Katharina Heyden und Maria Lissek einen exzellenten Sammelband zusammengestellt haben. Viele Beiträge haben das Potential, jahrzehntelang als wichtige Referenz weiterer Forschung zu dienen.