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Ausgabe:

April/2022

Spalte:

279–292

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Johann Hinrich Claussen

Titel/Untertitel:

»Trost im Undenkbaren«

Nachdenken über die theoliterarischen Essays von Christian Lehnert


I

Es mag als Klischee erscheinen und ist doch eine unbestreitbare Wahrheit: Unter allen Künsten ist die Literatur dem evangelischen Christentum am nächsten und vertrautesten. Man möchte hier keinen Wettbewerb ausrufen, aber zu anderen Künsten ist das Verhältnis sichtlich distanzierter – man denke an die Bildende Kunst – oder gespaltener – zum Beispiel den Tanz. Eine intime Nähe gibt es allerdings zur Musik, zu ausgewählten Gattungen der Orgel- und der Chor-Musik, vor allem zum gemeinsam gesungenen Lied – das ja Musikalisches und Literarisches in sich verbindet. In dieser Mu­sikalität sowie in ihren eigenen Formen – als Gedicht, Erzählung, Theaterstück oder Essay – ist die Literatur in ihren unterschiedlichsten Gestalten für die Konfession des Wortes eine unersetzbare Inspirationsquelle und Gesprächspartnerin.

So war es seit den Tagen der Reformation, so ist nach mehreren epochalen Brüchen und Umwälzungen immer noch. Natürlich ist das Christentum heute für die Literatur keine normative oder dominante Größe mehr. Deshalb kann es auch keine der epochal bedeutsamen verlorenen Pfarrerssöhne der Literaturgeschichte mehr geben. Auch ist die früher erfolgreiche protestantische Mi­lieuliteratur längst verschieden. Die Zeiten, in denen ein Jochen Klepper oder – deutlich problematischer – eine Ina Seidel oder Ag­nes Miegel ein Massenpublikum ansprechen konnten, sind vorbei. Im gegenwärtigen Literaturbetrieb halten die hoch gehandelten oder gut verkauften Namen zu religiösen Fragestellungen oder christlichen Motiven – um von Bezügen zur evangelischen Kirche gar nicht erst zu reden – zumeist Distanz. Aber neben dem marktgängig und szenetypisch Konformen kann man, wenn man etwas Neugier und einen weitherzigen Begriff des Christlichen mitbringt, durchaus fündig werden. Es gibt also keinen Anlass, als Theologe kulturpessimistische Lamenti anzustimmen und einen etwaigen Verlust zu betrauern. Man muss sich nur umschauen und lesen.

Dann stößt man zum Beispiel auf Eginald Schlattner, den Siebenbürger Pfarrer, dessen Romane »Der geköpfte Hahn« (1998), »Rote Handschuhe« (2000) oder »Das Klavier im Nebel« (2005) zu den großen Erzählwerken Europas zu rechnen sind. Eine Generation jünger ist die ebenfalls aus dem heutigen Rumänien stammende Iris Wolff, die für ihren Roman »Die Unschärfe der Welt« (2020) im vergangenen Jahr den Evangelischen Buchpreis erhalten hat. Wandert man lesend in den hohen Norden, wird man Dorothea Grünzweig begegnen, die als Pfarrerstochter im Herzen des Württemberger Pietismus aufgewachsen ist, seit vielen Jahren aber in Finnland lebt und Gedichte schreibt, in denen Naturerfahrungen und persönliche Erinnerungen sich mit einem weiten, tiefen religiösen Sinn verbinden und dabei aus einer innigen Vertrautheit mit der Sprache der Bibel und des evangelischen Chorals schöpfen. Man lese nur ihre Bände »Kaamos Kosmos« (2016) und »Plötzlich alles da« (2020). In ihrer ehemaligen Heimat arbeitet der Theologe Henning Ziebritzki, der im Hauptberuf den Tübinger Verlag Mohr Siebeck leitet, dabei aber zum Glück das Schreiben avancierter, in aller Ge­brochenheit religiös offener Lyrik nicht vernachlässigt. Zuletzt ist von ihm der Band »Vogelwerk« (2019) erschienen, für den er im vorvergangenen Jahr den Peter-Huchel-Preis zugesprochen bekam. Manchmal findet ein Stück evangelisch inspirierter Literatur sogar den Zugang zu einem großen Publikum, so erst kürzlich das eigentümlich fromme Erinnerungsbuch »Vom Aufstehen« von Helga Schubert (2021) – wobei dem lesenden Theologen allerdings auffiel, wie ratlos die Literaturkritik, die dieses Alterswerk ansonsten zu Recht feierte, die christlichen Bezüge in diesem Buch beschwieg. Bei Feuilleton-Redaktionen erstaunlich beliebt dagegen ist Sibylle Lewitscharoff, die in ihren Romanen fast regelmäßig religiöse Motive durchspielt. Schließlich ließen sich auch so unterschiedliche Autoren wie Uwe Kolbe und Senthuran Varatharajah nennen, die gemeinsam mit Iris Wolff im Herbst 2021 am »Wartburg Experiment« teilgenommen haben: Nacheinander haben sie Quartier auf der Wartburg bezogen, um dort in Auseinandersetzung mit der Luther-Bibel einen eigenen Text zu schreiben.

Diese Liste protestantismusnaher Autorinnen und Autoren ist unvollständig. Sie ließe sich um eine Aufzählung weiterer Personen ergänzen, die entweder mit einer katholischen Prägung oder aus einer säkularen Entfernung schreiben und jeweils in ihren Bü­chern überraschende Verbindungen aufscheinen lassen. So unterschiedlich sie alle auch sein mögen, gemein ist ihnen eine gewisse Abständigkeit zum im Literaturbetrieb Üblichen, eine souveräne Randsiedelei. Talkshow-affin sind sie alle nicht, ebenso wenig be­teiligen sie sich an den handelsüblichen Erregungsdebatten. Allerdings spielen sie auch nicht mit der Pose der romantischen Renegatin oder des weltfeindlichen Sonderlings. Dazu haben sie auch keinen Grund, denn ihnen allen eignet sind literarische Zeitgenossenschaft, ihre Bücher erscheinen in renommierten Verlagen, werden regelmäßig und wohlwollend besprochen sowie mit Preisen bedacht. Dennoch zeichnet sie eine innere Distanz aus, eine Eigenwilligkeit, ein Für-sich-Sein. Genau dies schenkt ihnen womöglich die Ruhe und Konzentration, die es braucht, um bedeutsame Texte zu schreiben, aber auch, um ihren Unendlichkeitssinn ästhetisch überzeugend zur Sprache zu bringen.

Zu dieser einzelgängerischen Gesellschaft gehört auch Christian Lehnert. Seit einigen Jahren schon gilt er als eine der wichtigsten literarischen Stimmen, die sich auf eine ästhetisch ansprechende und anspruchsvolle Weise mit den religiösen Dimensionen menschlicher Existenz beschäftigen. In die Wiege gelegt war ihm dies keineswegs. Geboren wurde er 1969 in Dresden, seine Eltern waren Mediziner, eine christliche Erziehung wurde ihm nicht zuteil. Seine Faszination für religiöse Fragen und Erfahrungen, für Theologie und Kirche entwickelte sich erst später, als er ein junger Erwach-sener war. Prägend scheint für ihn die Zeit als Bausoldat gewe-sen zu sein. Den regulären Wehrdienst der DDR hatte er verweigert. Anschließend studierte er evangelische Theologie, aber auch Religionswissenschaft und Orientalistik, unternahm weite Ausflüge insbesondere in jüdische und muslimische Traditionswelten. Nach der Eingeschlossenheit seiner Kindheit und Jugend bereiste er besonders Israel und Nordspanien intensiv. Es war keineswegs selbstverständlich, dass er nach seinem Examen ins Vikariat ging und danach 2000 als Dorfpfarrer im Erzgebirgsvorland zu arbeiten begann. 2008 wechselte er als Studienleiter an die Evangelische Akademie Witteberg. 2012 wurde er wissenschaftlicher Geschäftsführer des Liturgiewissenschaftlichen Institutes der VELKD an der Universität Leipzig, eine Position, die er bis heute innehat.

Parallel zu diesen beruflichen Schritten begann er, ein inzwischen eindrucksvolles literarisches Œuvre zu schaffen. Den Hauptkorpus bilden seine Gedichtbände, die seit 1997 vor allem im Suhrkamp Verlag erscheinen. Das mag diejenigen erstaunen, die mit »Suhrkamp-Kultur« nur das Klischee einer linkssäkularen Intellektualität verbinden und dabei übersehen, dass dieser Verlag seit Beginn und seit vielleicht zwei Jahrzehnten deutlich intensiviert auch eine Linie des religiösen Suchens und Schreibens verfolgt. Ein Teil davon sind diese Lyrikbände von Lehnert: »Der gefesselte Säng er« (1997), »Der Augen Aufgang« (2000), »Ich werde sehen, schweigen und hören« (2004), »Auf Moränen« (2008), »Aufkommender Atem« (2011), »Windzüge« (2015) und zuletzt »Cherubinischer Staub« (2018).

Daran schließen sich als zweite Werkgruppe seine Libretti an: »Phaedra« (2007, Musik: Hans-Werner Henze), »Hinter der Mauer« (2010, Musik: Samir Odeh-Tamimi), »Paulus. Das ängstliche Harren der Kreatur« (2011, Musik: Thomas Jennefelt), »An den Wind« (2012, Musik: Hans-Werner Henze), »Vom Lärm der Welt oder Die Offenbarung des Thomas Müntzer« (2014, Musik: Sven Helbig), »Nach Markus. Passion« (2016, Musik: Steffen Schleiermacher) und »In wüstem Land ohne Weg« (2019, Musik: Saad Thamir).

Für seine lyrischen Werke erhielt Lehnert etliche Preise, anerkennende Rezensionen, ausführliche Besprechungen und Radio-Features. Niemandem in seiner Generation ist es gelungen, solch eine beeindruckende theologische-kirchliche-literarische Mehrfachexistenz zu führen.

Wie es dieser Zeitschrift angemessen ist, soll im Folgenden eine dritte Werkgruppe vorgestellt und bedacht werden: Lehnerts theo-literarische Essays. Drei Bände hat er bisher vorgelegt, auch sie sind bei Suhrkamp erschienen: »Korinthische Brocken. Ein Essay über Paulus« (2013), »Der Gott in einer Nuß. Fliegende Blätter von Kult und Gebet« (2017) und jüngst »Ins Innere hinaus. Von den Engeln und Mächten« (2020). Auch wenn Lehnert es nicht darauf angelegt zu haben scheint, bilden sie so etwas wie die Trilogie eines neuen Nachdenkens und Sprechens über Gott und den Glauben.

II


Vor neun Jahren erschien Lehnerts erstes Großessay.1 In den »Ko­rinthischen Brocken« ging er gut protestantisch zurück zu den Quellen und suchte in einem paulinischen Brief nach einer immer noch lebendigen Glut. Das ergab eine zunächst befremdliche, sperrige, dann aber begeisternde Lektüre. Sie sprach viele an, die sich von dem, was sie sonst an neuerer exegetischer Literatur wahrnahmen, enttäuscht fühlten: philologisch hochgerüstete, aber fest verschlossene Binnendiskurse, extrem professionalisiert, aber immer kleinteiliger, für Nichtfachleute kaum lesbar; oder als Alternative dazu ehrenwerte, zum Teil notwendige, aber allzu einsinnige ethische Anwendungen und Aktualisierungen. Ohne damit ein Urteil über eine ganze Disziplin sprechen zu wollen, muss man feststellen, dass es eine Entfremdung zwischen der exegetischen Wissenschaft und ihrer Hauptzielgruppe, den lesewilligen Theologinnen und Theologen, gibt. Deshalb haben sich viele mit Leidenschaft durch Lehnerts gar nicht so leichtgängigen Text gearbeitet. Denn hier wurde eine intensive, genaue, überaus ernsthafte und zugleich freischwebende Untersuchung eines biblischen Textes als religiöse Aufgabe vollzogen. Indem Lehnert dem Apostel auf die Spur zu kommen versucht, stellt er die großen religiös-existentiellen Fragen des Ich, die man in der exegetischen Fachliteratur allzu oft vermisst: Was sagen mir diese Verse über Gott und meine Suche nach ihm? Was sagen sie mir über meine Stellung in der Welt und vor dem Horizont des Unbedingten? Deshalb erinnern Lehnerts »Korinthische Brocken« ein bisschen an Karl Barths »Römerbrief«, vor allem aber an Friedrich Schleiermachers »Reden über die Religion«, denn hier wurde Exegese zur – geschriebenen – religiösen Rede.

Passage für Passage arbeitet Lehnert sich durch den 1. Brief an die Korinther. Dabei nimmt er durchaus Bezug auf Fachwissenschaftliches, aber alles Forschungsbürokratische ist ihm fremd. Er hält es eher mit Martin Luther, der bekanntlich die Bibel nicht »gelesen«, sondern bei ihr »angeklopft«, sie »belagert« und »be­stürmt« hat – auch wenn die militärische Metaphorik nicht zu Lehnert passt. In kleineren Abschnitten untersucht er den Text, verbindet dies mit Lese-Assoziationen, systematischen Meditationen und autobiographischen Reminiszenzen. Die besondere essayistische Kunst Lehnerts besteht nun darin, dass diese Abschweifungen nicht vom Text weg, sondern tiefer in ihn hineinführen. »Essay« steht hier nicht für Ermäßigung der Leseanstrengung oder Unlust auf Texttreue, sondern im Gegenteil für eine In­tensivierung der Auseinandersetzung mit der biblischen Quelle. Subjektiv ist dabei vieles, wenn nicht alles, aber eben nicht als persönliche Willkür, sondern als ein nicht gelehrtes, gleichwohl gebildetes, intellektuell und existentiell selbstverantwortetes Bi­belstudium. Hier versteckt sich jemand nicht in universitärer Sicherheitsprosa, sondern wagt sich hinaus. Manchmal denkt man beim Lesen an einen Jazzmusiker, der über standards improvisiert, Grundmotive aufnimmt, sie variiert, um so zu ihrem Kern vorzustoßen und ihn in die eigene Musiksprache zu übersetzen.

Der Paulus, den Lehnert vorstellt, ist kein »Theologe«, er hat keine Lehre, kein System, dafür hat er es viel zu eilig, »gehetzt von der Zeit, die noch bleibt«2. Seine Texte haben keine Ordnung, es sind Brocken, schwer fasslich, zum Staunen und Erschrecken. Was für ein Mensch, was für eine religiöse Gestalt war ihr Autor? Lehnert versteht ihn von einem Urerlebnis her, das er selbst so in Worte gefasst hat: »Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir« (Galater 2,20). Paulus ist ein Einzelner, in dessen Leben Chris-tus eingebrochen ist, plötzlich und unerwartet. Ein Ereignis hat sein Leben umgeworfen, hat ihn heimgesucht, treibt ihn um wie eine nicht still zu stellende Verstörung. Damit nimmt Lehnert eine Deutungsperspektive auf, die vor gut einhundert Jahren die Religionsgeschichtliche Schule und besonders prominent Albert Schweitzer entworfen haben. Man kann sie »mystisch« nennen, wenn man sie denn mit einem Etikett behaften möchte. Aber diese »Mystik des Apostel Paulus« hat bei Lehnert weniger Erhebendes, Beseligendes, sondern ist eine fundamentale, bleibende Irritation.

Über sie kann Paulus nicht in sauber gearbeiteten Traktaten schreiben. Die ihm gemäße Form ist der Brief: »Es ist kein Zufall, daß das Neue Testament zu einem wesentlichen Teil aus Briefen besteht. Diese Briefe führen vor Augen, was es heißt, ganz und bejahend in der Welt zu leben, ohne in ihr letztlich beheimatet zu sein. Sie sind die zentrale literarische Form für das christliche Selbstverständnis zwischen diesseitiger Zeitgenossenschaft und dem Wissen, nicht der Zeit und dieser Welt anzugehören.«3 Dieser Spur folgt Lehnert in seiner Paulus-Auslegung, unbekümmert um akademische Usancen, kirchliche Bedürfnisse oder auch feuilletonistische Diskursmoden. Ihn reizt das Unfertige der paulinischen Sprache: »Unbeholfen, mal sprudelnd, mal stammelnd, ist sein Griechisch. Es spiegelt ein Denken und Wahrnehmen im Entstehen.«4 Von der Sprachnot des Paulus will Lehnert sich inspirieren lassen und so Paulus zu einem Gesprächspartner für seine eigenen religiösen Fragen machen. Dabei ergeht er sich aber nicht in einer bedenkenlosen Freude am Krassen oder Exotischen. Er will nur das Unberechenbare und Unverrechenbare der paulinischen Texte ernst nehmen und in ihrer nicht zu disziplinierenden Eigenart zur Geltung bringen: »Das ›Wort vom Kreuz‹ bezeichnet den Moment, in dem Sprache verloschen ist, verstummt, und erst stammelnd entsteht, auf dem Grund des Unsagbaren. Es ist der pure Unsinn für die, die es einordnen wollen in ihr sprachliches Selbstverständnis.«5 Dies ist das Grundmotiv für eine Kirche, die sich nicht einrichten kann in ihrer jeweiligen Gesellschaft, weil sie von Paulus eine »eschatologische Lebensunfähigkeit«6 geerbt hat: »Das Christentum mußte, wollte es sich als corpus in der Welt etablieren, das Kreuz in der Vernünftigkeit, in der Begrifflichkeit einer Theologie und in dem Konsens der Konzilien abmildern. Die große Kraft des Christentums ist es, Substanz seines unvergleichlichen immunologischen Gedächtnisses, daß es das Kreuz nie darin auflöste.«7 Für das Christentum heute bedeutet dies, dass es sich weniger um Tradi-tionsabbrüche und Mitgliederverluste bekümmern als der Herausforderung stellen sollte, mit Paulus auf das Kreuz zu schauen.

Aber dort im Kreuz liegen nicht einfach Erlösung und Gewissheit verborgen. Heute zu glauben, heißt: nicht glauben zu können, heißt: in der eigenen Subjektivität gefangen zu sein und doch über sie hinauszugreifen. Das Interessante bei Lehnert ist nun, dass er das, was eigentlich als eine spezifische Problematik des modernen Christentums angesehen wird, als eine paulinische Grundsignatur des Glaubens an sich und von Beginn an ausweist: Er war »immer gespalten und immer erhofft«8. – »Letztlich bleibe ich heute ge-fangen in der Subjektivität meines Glaubens, und Glauben heißt dann, immer wieder das Offene suchen und in der Enge meiner selbst anzukommen. Es gibt keine Gewißheit. Und daß es keine Gewissheit gibt, das ist die christliche Verheißung.«9 Nicht anders ist es Paulus ergangen.

Bei Lehnert haben diese Auffassungen einen besonderen biographischen Hintergrund, von dem er in einigen Passagen so erzählt, dass sie auch den Lesenden einen Sinnhorizont eröffnen, die ganz anders aufgewachsen sind. Es sind seine Erfahrungen als Kind, Jugendlicher und junger Erwachsener in der späten DDR. Außerhalb der Familie, besonders in der Schule lernte er, in der Lüge zu leben, eine ideologisch »richtige«, erzwungenermaßen optimistische Sprache zu sprechen. Durch Zufall geriet er in eine kirchliche Jugendgruppe und damit in eine ganz andere Sprachwelt, in der das Irritierende, Paradoxe, Tragische und Melancholische seinen Raum und Ausdruck besaß. Verstörung hatte da für ihn etwas Befreiendes. Vertieft wurde dies durch bittere Erfahrungen als Bausoldat in den späten 1980er Jahren, als die Diktatur schon marode aber umso brachialer spürbar war. Hier erfuhr Lehnert etwas, was i hn an das paulinische Christuserlebnis anknüpfen lässt, den »Christus-Abgrund« und die »Leere im Sinne der unendlichen Offenheit des Werdens«10. Von ihr aus entfaltet sich sein Sinn für das radikal Paradoxe bei Paulus als das eigentlich Heilsame: dieses »Mangelvertrauen«, »eine Freude am Ungewußten«, der »Trost im Undenkbaren« – der Mangel ist hier »ein Reichtum, weil es ein Mangel in der Erwartung ist« – hier ist Christus »als Abwesender anwesend«.11 Indem er von seiner eigenen Lebensgeschichte her den 1. Korintherbrief des Paulus durchgräbt, bringt Lehnert etwas zum Vorschein, was auch für andere Menschen, die heute nach einer Möglichkeit des Glaubens suchen, einen Weg aufzeigt, der befremdlich wirken mag, aber gangbar ist: ein Glauben ohne Ge­wissheit. Denn darin »besteht das sanfte, herabgeminderte Martyrium unserer Zeit, der Gewißheit beraubt zu werden. Und es ist ein Akt der Liebe zu Gott, sie nicht mehr einzufordern.«12 Man kann dies und damit das ganze Buch als einen Versuch recht verstandener Erbauung verstehen, nämlich als Einübung in ein paulinisch-zeitgenössisches Christentum.

III


Wer in den vergangenen Jahren die theologische Buchproduktion regelmäßig beobachtet hat, kann ein Gefühl der Unzufriedenheit kaum unterbrücken. Sowohl in Quantität als auch in Qualität bleiben viele Wünsche offen. Natürlich, es wird fleißig publiziert und hier in der »Theologischen Literaturzeitung« rezensiert. Doch schaut man genauer hin, sieht man viel zu viele Qualifikationsarbeiten, Lehr- und Handbücher sowie Tagungsbände von nur dokumentarischem Wert. Was offenkundig fehlt oder sehr selten er­scheint, ist das lesenswerte theologische Buch. Ob es daran liegt, dass Theologinnen und Theologen im Universitätsalltag keine Freiräume mehr haben, oder daran, dass der Forschungsbetrieb das unbeirrte Schreiben eigenwilliger Bücher nicht zulässt, dass Grenzgänger – etwa aus dem Pfarrdienst – ebenfalls keine Zeit oder keinen Zugang finden, dass Verlage das Risiko scheuen oder dass es vielleicht kein Publikum mehr gibt für die interessante theologische Monographie, auch weil eine mögliche Leserschaft selbst viel zu abgelenkt sind? Relevante Fragestellungen jedenfalls gäbe es mehr als genug.

Oder ist der Grund, dass viele Theologen – so hat der große polnische Dichter Czeslaw Milosz es einmal gesagt – nichts lieber tun, als alle religiösen Aussagen zu einer glatten Kugel abzurunden, »die sich leicht hin- und herrollen lässt, die man aber nicht fassen kann«?13 Dann läge es nicht an äußeren Umständen, sondern an inneren Erstarrungen, an fatalen Fixierungen auf das »Richtige«, »Fachlich-Anerkannte« und »dem Forschungsstand Entsprechende«, die das Entstehen von relevanter theologischer Literatur verhindert. Ein gutes Mittel dagegen wäre die Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Lyrik. Denn diese sei – so Milosz – »ein Zusammentragen von Daten über die letzten Dinge im menschlichen Dasein« und habe dabei eine eigene Sprache ausgebildet, »die auch von den Theologen benutzt werden könnte – oder eben nicht.«14 Die allermeisten theologischen Fachleute schlagen dieses Angebot aus – zu ihrem eigenen Schaden. Sie arbeiten weiter mit hergebrachten Begriffs- und Denkschablonen, rollen ihre Abstraktionen hin und her, obwohl diese längst ihre einstige Macht verloren haben: verrostete Schlüssel, die in kein Schloss mehr passen.

Zu den wenigen, die es wagen, mit großer gedanklicher Offenheit und einer unverbrauchten poetischen Sprache einen neuen Zugang zur Sache mit Gott zu finden, gehört Christian Lehnert. Als Lyriker und Theologe versucht er beides zugleich: über den christlichen Glauben argumentativ nachvollziehbar nachzudenken und neue Sprachbilder für diese Gedanken zu schaffen. Als Essayist ge­lingt es ihm, die heikle Balance zwischen beidem zu wahren. Weder verlieren sich seine Prosa-Meditationen ins Wolkige noch zwingen sie am Ende die Inspiration in eine dogmatische Systematik. Das eine greift ins andere, dabei behält beides sein Recht, so entsteht etwas Neues, ein intensives Nachspüren und Nachdenken, das die Lesenden fordert und anregt, eben wirklich interessante, intellektuell und existentiell bedeutsame theologische Literatur.

Vier Jahre nach den »Korinthischen Brocken« wendet er die dort erprobte Mischung aus persönlichen Erinnerungen – vor allem an seine Zeit als Gemeindepfarrer –, grundsätzlichen Erwägungen, intensiven Lektüren und freien Assoziationen auf die religiösen Grundhandlungen an: den Gottesdienst und das Gebet. Mit einem gut-romantischen Sinn für die befremdliche Schönheit des Alten will er den Sinnkern der Liturgie heben. Schritt für Schritt geht er die wichtigsten Stationen der lateinischen Messe entlang und stellt seine Gedanken in 82 ein- bis zweiseitigen Miniaturessays vor. Doch so unterschiedlich die einzelnen Teile auch sind, fallen sie nicht auseinander, sondern bilden zusammen ein fein gesponnenes Textgewebe. Das liegt an Lehnerts Sprache, die konzentriert und einfach ist, aber auch voller Überraschungen.

»Für mich war als Jugendlicher nicht der Kampf um die Loslösung von der lastenden Vatermacht die entscheidende Sorge, sondern eher die als ganz unbestimmt erlebte geistige Abstammung, Nachhall einer umfassenden Enteignung.«15 Mit der Freiheit eines Menschen, der in der DDR und dort in einer religionslosen Familie aufgewachsen ist, für den die Beschäftigung mit dem christlichen Glauben also immer schon eine höchst eigensinnige, wenn nicht widersinnige Entscheidung gewesen ist, nimmt Lehnert die gegenwärtige Krise des Gottesdienstes wahr: seinen Bedeutungsverlust, seine inhaltliche Auszehrung, die ungezählten Stilprobleme. Doch bleibt er dabei nicht stehen. Denn viel mehr noch interessiert ihn dessen innere, prinzipielle Unmöglichkeit. Der Gottesdienst soll etwas darstellen und eröffnen, was es gar nicht gibt und was manchmal dennoch da ist. »Jeder ›Gottes‹-dienst und jedes Gebet sind doppeldeutig: Sie schaffen ›Gott‹ in der Sprache, und sie sind Geschöpfe Gottes, der ihre Sprachkraft erst begründet.«16 Die Grundparadoxie der An-/Abwesenheit Gottes im Gottesdienst umkreist Lehnert in immer neuen Anläufen. Im Gottesdienst geht es um die Begegnung mit einem flüchtigen Gott ohne Namen, einem Niemand, der in seiner Abwesenheit anwesend ist, der sich zeigt, indem er sich entzieht. Alles hängt an dieser Widersinnigkeit. Ihr eine Gestalt zu geben, für sie ein offenes Gefäß zu sein, ist die Aufgabe des Gottesdienstes. Er »ist seiner Natur nach innerlich zerrissen.«17 Die Parole lautet: »Hinaus in den Widerspruch, hinaus in den Gott.«18

Darum hat der kirchliche Niedergang für Lehnert auch sein Gutes. Denn er legt endlich frei, worum es im Kern geht: nicht um traditionelle Symbolmacht, öffentliche Anerkennung, allgemeine Zustimmungsfähigkeit. Erfreulich frei stellt Lehnert sich der verbreiteten kirchlichen Depressivität ebenso entgegen wie eineraufgesetzten Reformeuphorie: »Gelobt seien die Statistiken des Nie­dergangs! ›…‹ Auf in die Wahrheit der Verluste!«19 Denn jetzt endlich kann der Gottesdienst sein, was er eigentlich ist: etwas Verborgenes und paradoxal Mögliches/Unmögliches. Es steht nicht vor Augen, sondern muss gegen den Sog der Aufmerksamkeit und gegen den Zug der erklärenden Vernunft gefunden werden. Danach sucht Lehnert tastend, fragend, bohrend, dabei unbekümmert um kirchliche Konventionen – zum Teil in scharfer Ab-grenzung von der »Kirche als einem kollektiven Überredungsritual«20 –, jedoch mit einer durchaus ehrfürchtigen Sensibilität gegenüber dem historisch Ursprünglichen – und darum einem Sinn da­für, wo der Gottesdienst nicht mehr geschieht, sondern mit den allerbesten Absichten gemacht wird. Es läge nahe, dies auch »mys­tisch« zu nennen, aber mit dieser etikettierenden Zuordnung legt man erneut fest, was besser frei sein sollte. Denn solche begrifflichen Festlegungen verhindern, dass man sich ungeschützt für die paradoxe Erfahrung Gottes bereit macht.

Die Liturgie ist Wanderung ins Offene, die um die Weglosigkeit ihres Weges weiß und ihn dennoch geht. Sie ist »ein Schlaf – der Traum darin wird gegeben oder nicht.«21 An diesem Traum aber hängt für Lehnert nichts weniger als die eigene Menschlichkeit. Kämpferisch, jedoch ohne verbiesterten Kulturpessimismus oder konservatives Ressentiment stellt er die Humanität des christlichen Kultus gegen die trans- und posthumanistischen Ideologien einer durchtechnisierten Gegenwart. »Unsere westliche Gesellschaft wird immer weniger bevölkert von Individuen, die nach einer inneren Wahrheit suchen, als vielmehr von Funktionsträgern und zirkulierenden Teilchen überpersonaler Erinnerungsräume.«22 Da markiert die Liturgie »Inseln des Menschen«23. Angesichts von deren spiritueller und ethischer Armut erweist sich der uralte und immer schon unmögliche Gottesdienst als eine Angelegenheit für all diejenigen, die von ihrer Menschlichkeit nicht lassen mögen.

Lehnert besitzt einen besonderen musikalischen Sinn für das Ungebändigte in der Theologie und das existentiell Abgründige im Glauben. Damit hebt er sich auf das Erfreulichste von dem ab, was kirchlich zu oft üblich ist: aufgesetzte Betriebsamkeit, ange-strengte Gefallsucht, hartleibige Depressivität. Mit der Freiheit des Essays, das eben die Kategorien »richtig« und »falsch« nicht kennt, fokussiert sich sein Buch über den Kult auf einen, auf den für ihn existentiell wichtigsten Aspekt. Das ist einseitig und muss es sein. Dennoch fragt man sich beim Lesen trotz aller Zustimmung: Ist es nicht doch zu einseitig? Wie steht es um Erfahrungen religiöser Beheimatung und eines schlichten Gottvertrauens, aber auch um die Klärung all der mühseligen und doch notwendigen Fragen einer alltäglichen christlichen Lebensführung oder einer verläss-lichen kirchlichen Normalität – gerade im Gottesdienst? Welchen Stellenwert hat der Gottesdienst als eine soziale Praxis? Und ist es nicht schön, wenn man zur Abwechslung in einem Gottesdienst auch etwas versteht? Bezeichnenderweise fehlt bei Lehnerts Gang durch die klassischen Elemente der Messe genau das, was für viele Menschen das Allerwichtigste am Gottesdienst ist: der Segen am Schluss. Auch der Ort der Liturgie – die soziale Plastik des festgefügten, immobilen Kirchraums – findet in diesem Essay keine Be­rücksichtigung. Aber gerade mit seinen Zuspitzungen stiftet Lehnert eine dringend benötigte Verstörung für alle, die in den Gottesdienst gehen, und die, die es nie tun würden, und zeigt beiden, um was es hier eigentlich geht: nichts weniger als die Menschlichkeit des Menschen im Angesicht des Unbedingten. So gelingt ihm das nicht gering zu schätzende Wunder, den vermeintlichen Fachleuten des Gottesdienstes ebenso zu denken zu geben wie den mehr oder weniger Gebildeten unter seinen Verächtern.

IV


Das dritte Großessay von Christian Lehnert könnte man als konsequente Fortsetzung eines Plans ansehen: von der Bibel und Exegese über den Gottesdienst und die Praktische Theologie nun zur Gottesfrage und Systematischen Theologie.24 Doch das wäre allzu schulmeisterlich. Es scheint Lehnert zu gefallen, Umwege zu nehmen, um zum Herz der Sache zu gelangen. Das ist in diesem Fall das religiös Innere und sein überweltlicher Bezugspunkt, und deshalb wählt er den Zugang über – ja: über Engel. Ob ihn dabei eine Lust an der Provokation geleitet hat oder eher ein romantischer Impuls? Das Stichwort »Engel« jedenfalls lässt einen um Ernsthaftigkeit be­mühten Theologen womöglich das Schlimmste befürchten: kindliche Volksfrömmigkeit, erbaulichen Kitsch, esoterische Versponnenheit.

Doch wie ernst es Lehnert in diesem Buch ist, macht gleich zu Beginn ein Zitat deutlich. Es stammt aus der erzwungenen Stellungnahme eines Leidensgenossen aus seiner Militärzeit, der disziplinarische Strafen zu erwarten hatte: »Wer niemals eine Berührung mit einer anderen Realität hatte, nie einen Schauder empfand, weil etwas nah kam, das im tiefsten Sinn guttat und doch angst machte, wird in meinen Zeilen nichts finden, was ihn interessieren oder was er verstehen könnte. Wer nie plötzlich überwältigt wurde von einem gewöhnlichen Eindruck, und es war darin mehr, viel mehr als das Wahrgenommene, der wird in diesem Text keine Erklärung für mein Tun finden. Denn ich kann es selbst nicht erklären, ich kann höchstens auf Ihr Mitgefühl oder Ihre Neugier hoffen. Begründen kann ich nichts.«25 Diese Sätze aus dem Vorwort verweisen auf die vielleicht wichtigste Passage des Buches, die sich an dessen Ende findet. Darin schildert Lehnert ein eigenes Erlebnis aus seiner Zeit als Bausoldat in der DDR. Es scheint einen Ausgangspunkt seiner Gedanken zu bilden: »Einmal war ich eingeschlossen in einer Dunkelzelle. Ich hockte zusammengekauert auf dem feuchten Betonboden irgendwo in dem Kellergeschoß einer Kaserne in Strausberg bei Berlin, und ich fror und das Zeitmaß ging mir verloren, während sich der hetzende, laute Herzschlag nicht zu einem Rhythmus beruhigte, dem ich mich hätte ergeben können. Das Schwarz, je länger es währte, wurde tiefer – und darin begannen Farben und Formen zu tanzen, Flammenringe, wie Reflexe der erinnerten Sonne. Was da in mir expandierte, grell und überwältigend, war haltlos. Der Eindruck war heftig wie ein Kopfschmerz, halluziniertes Licht, eine panische Offenheit, sie brach in mir auf, tiefste Fremde im Eigenen, verstörend jenseitig und auf eine nie gekannte Art tröstlich, und ich nannte es später in meinem bilderschaffenden, engelsverwandten Herzen auch einmal ›Gott‹.«26

Ins Innere geht die Gedankenreise dieses Buches, ins Herz des Numinosen, geleitet von »guten Mächten«, die einen anderen Zu­gang eröffnen, als das einsilbige Wort »Gott« es vermöchte. Unterhalb eines übermächtigen, überdeterminierten Theismus versucht Lehnert, das zu ergründen und zu beschreiben, was eine Ahnung des Überweltlichen zu stiften vermag. Es ist eine Religionsphänomenologie in der Nachfolge von Rudolf Otto und William James, aber auch von Jakob Böhme. Sie beschränkt sich nicht auf die Be­schreibung von Erfahrungen, sondern ist durch eine existentielle Dringlichkeit gekennzeichnet, eine engagierte Theologie, die allerdings auf leisen Sohlen, besser gesagt mit zarten Flügeln daherkommt, jedoch keineswegs harmlos ist. Das neue Essay ist kein Buch, dessen Inhalt sich durch die Lektüre einer Rezension aufneh men ließe. Man muss die darin erhaltenen Erzählungen, Über-legungen und Meditationen schon selbst lesen, die Naturbeob-achtungen nachempfinden, die Tiefenbohrungen in biblischen Engelsgeschichten mitverfolgen, sich die biographischen Episoden erzählen lassen. Hier können deshalb nur die wichtigsten Gedankenmotive vorgestellt werden.

Es geht in diesem Buch um die Möglichkeit und Unmöglichkeit des Glaubens. Das ist der Zielpunkt seiner »Angelologie«: »Glücklich und sorgsam verborgen ist der Engel, der ich mir selbst bin, meine Wahrheit und mein Werden und Gewordensein.«27 Dieser Glauben ist kein Haben und kein Sein, sondern ein Werden und Gehen. Engel dienen dabei als Wegweiser, -begleiter und -antreiber. Doch was so erbaulich wirkt, besitzt eine eigene Strenge und Härte. Denn die Engel sind »verflogen«28, sie müssen angerufen und beschworen werden, damit sie in der Sprache gegenwärtig werden. Doch dies kann nie die Gestalt einer gloriosen Freudenbotschaft annehmen, sich nicht als »Friede auf Erden« aussprechen. Engel werden hier hörbar nur als ein transzendentes Schluchzen, in dem An- und Abwesenheit verschmelzen: »Engel sind Bewegungsformen, keine umschriebenen Körper. Sie ziehen unentwegt ›hinüber‹, treiben in die Transzendenz oder von ihr her, ohne je­mals anzukommen.«29 Sie »bewohnen mit Vorliebe Grenzstreifen, Niemandsland, wo keine Wege mehr sind.«30 Beim Lesen kann einem »Stalker«, der legendäre Film von Andrej Tarkowski, in den Sinn kommen. Man zieht durch eine leere, vergiftete, entzauberte Welt, aber etwas lockt und droht, das über sie hinausführt. Das ist nichts weniger als die Gottesfrage selbst. Doch das mag wiederum zu programmatisch klingen und widerspricht dem Geist des Es­says, der keine These aufstellt und begründet, sondern ein schwebendes Nachdenken in Szene setzt, während »um mich her die professionellen Mittler der Transzendenz, die Kirchen und ihre Theologie, sich ihrer Begriffe meist viel zu gewiß sind und ich mich mühen muss, mit ihnen zu glauben. Ich meine damit: lauschen ins Offene, das mit dem Wort ›Gott‹ aufbricht, lauschen und hoffen.«31 Das ist fein formuliert, man sollte allerdings ergänzen, dass die Gegenüberstellung – hier der freie Geist und dort die theologischen Spießer – so kaum mehr zutrifft. Was Lehnert versucht, bewegt auch viele seiner Kolleginnen und Kollegen.

Wollte man Lehnerts Zugang zum religiösen Thema auf einen Begriff bringen, bietet sich das Adjektiv »romantisch« an. Natürlich ist dies auch nur ein eben noch ausgesperrtes Etikett, aber es haftet vielleicht eher an seinen Essays als »mystisch« oder »spirituell«. Es betont hier die Nähe zur Kunst, zur literarischen Rede über die Religion, zur dezidiert modernen Verflüssigung ehemals (vermeintlich) fester Glaubensbestände, die Anknüpfung an die Aufklärung und den Wunsch, sie zu überschreiten. Doch was Lehnert von der romantischen Avantgarde des frühen 19. Jahrhunderts unterscheidet, ist, dass er nicht mehr eine poetische Wiederverzauberung der Welt anstrebt, sondern nur noch ihrer Ränder, Ritzen, Abbruchkanten. Es ist eine Romantik mitten in einer fast vollkommenen Säkularität, minoritätsbewusst, wie Christen aus der DDR es waren und Christen auch in Westdeutschland es langsam werden. Das gibt seinen Essays eine radikale Zeitgenossenschaft und ein spezifisches Recht.

Dennoch reizt das neue Buch zum Widerspruch, mehr als seine beiden Vorgängerbände. Das liegt nicht darin, dass sich bei Lehnert auch die politisch-problematische Seite der Romantik – das modernitätsfeindliche, von Ressentiments getränkte Reaktionäre einer Anti-Politik der Unterdrückung und Gewalt – zeigen würde, wie bei einigen Protagonisten der romantischen Tradition von damals bis heute. Hier hält er klar die Grenze. Es ist vielmehr die ausschließliche Konzentration auf die Vorstellung von »Religion als Gegenwelt«, die Lust auf eine Debatte macht. Da ist nämlich zunächst eine problematische Ausblendung der Volksfrömmigkeit. Natürlich war schon die klassische Romantik ein Elitenprojekt, Virtuosen-Religiosität. Doch besaß sie einen feinen Sinn für die Notwendigkeit und Schönheit populärer (Religions-)Kultur, schöpfte aus ihr, nutzte sie, brauchte sie sogar. Dies fehlt bei Lehnert, obwohl das Motiv des Engels eigentlich die Tür zu einer manchmal befremdenden, aber doch lebendigen Volksfrömmigkeit heute und einer neuen Wahrnehmung ihrer Bedeutsamkeit für den individuellen Glauben hätte öffnen können. Nebenbei kann man auch fragen, warum in diesem Buch so wenige weibliche Gestalten vorkommen, obwohl sich das bei diesen androgynen Mischwesen angeboten hätte.

Diskussionswürdiger aber ist, wie eindeutig in einigen Passagen Religion und Gesellschaft einander gegenübergestellt werden. Ist nicht Religion – in einem ganz basalen Sinne – zunächst etwas, das Menschen miteinander tun, und dann erst etwas, was einzelne Menschen als unbedingten, aber paradoxen Sinn ihres eigenen Lebens erfahren? Geht es im Glauben nicht auch um eine ethische Lebensführung – im Zusammenleben mit anderen? Sind des-halb nicht Begriffe wie »Gemeinde«, »Sitte«, »Tradition« und eben auch »Institution« bedeutsam? Wie sollen Engel ohne all dies ein auch nur zeitweises Aufenthaltsrecht auf Erden erhalten? Es scheint, als wäre mit diesem Buch auch die Grenze des romantischen Zugriffs markiert. Denn die poeto-theologische Zuspitzung droht hier zur Einengung zu werden. Die wiederkehrenden Be-züge auf Erfahrungen in der DDR weisen ihren existentiellen Hintergrund aus, vermögen sie aber nicht plausibel zu machen. Ist das ein blinder Fleck der romantischen Tradition seit jeher, dass sie trotz ihres ausgeprägten Sinns für Uneindeutigkeiten und Zwiespältigkeiten das Sozial-Äußere allzu leicht ausblendet? Dabei ernährten sich selbst die größten Romantiker nicht ausschließlich von blauen Blumen: Joseph von Eichendorff war Oberpräsidialrat, später sogar Geheimer Regierungsrat, Novalis war Supernumerar-Amtshauptmann, und Lehnert ist Kirchenbeamter und Leiter eines theologischen Instituts. Gern wüsste man, wie diese andere, die alltägliche Seite seiner Existenz sich zu seinem Religionsverständnis verhält.

Doch es bleibt zu oft bei vermeintlich eindeutigen Abgrenzungen von der sozialen Welt, die sich mit einer zu pauschalen Gegenwartskritik verbinden. Gegen eine »abgeschlossene Diesseitigkeit«32 wird die Religion als eine letzte Gegenkraft beschworen: »Der globale Kapitalismus wird vielleicht durch nichts schärfer in Frage gestellt als durch geistliches Leben und Denken.«33 Darin sieht Lehnert die Religion mit der Kunst verbunden: »Religionen (und mit ihnen die Künste, ihre Schwestern in der Feier des Unbedachten und Unmöglichen, des Konjunktivs und der Utopie) erschei-nen mir als Wege in die Freiheit, als Instanzen, die den Menschen kritisch herausführen können in die Erfahrung von heilsamer Fremde.«34 Das liest sich sympathisch und ist doch in mehrerer Hinsicht uneinleuchtend. Man betrachte nur die Klammerbemerkung: Kann man so einseitig und substantialisierend von Kunst (oder eben von Religion) sprechen? »Die Künste« sind per se nicht existent, sondern nur in einzelnen Kunstwerken, von denen einige zwar einen provokativen, prophetischen oder utopischen Charakter haben (viele andere jedoch nicht), die aber alle einen sozialen Ort besitzen, das heißt einen Ort in den verschiedenen Kunstmärkten und Kulturpolitiken, weil es sie sonst nicht »gäbe« – denn sie müssen ausgestellt, aufgeführt, veröffentlicht, gefördert oder verkauft werden, sonst wären sie nicht »da«. Wer dies ausblendet, gerät in eine bedenkliche Nähe zu einer Rhetorik, wie sie Bundespräsidenten oder Kulturstaatsministerinnen bei großen Kultur-ereignissen pflegen: Sie (beziehungsweise die Mitarbeiter, die ihre Reden geschrieben haben) weisen »der Kunst« die Funktion des Kritisch-Utopischen zu, wohlmeinend, gönnerhaft, darin aber eitel, verbunden mit dem Wunsch, »die Künste« über einen Umweg funktionalisieren zu können. Ähnliches gilt für »die Religionen«, weshalb es zwar reizvoll und irgendwie tröstlich klingt, aber wenig überzeugend ist, wenn Lehnert schreibt: »Eines der subversiven Gespenster, die noch umgehen in Europa, ist neben der Kunst, die verstört und Wahrnehmungsräume weitet und andere Welten entwirft, die Religion.«35

Gespenster lösen sich auf, wenn der Traum weicht, der Tag kommt und die Arbeit beginnt. Aber vielleicht kann man diese Passagen auch weniger systematisch-programmatisch lesen, sind es doch eher existentielle Meditationen über das Eigene in der Religion, das heute fast nur noch als etwas Befremdliches erscheinen und wirken kann – worin eine unverlierbare Stärke, aber eben auch eine offenkundige Schwäche liegt.

V


Es ist hier nicht der Ort, auch das umfängliche lyrische Werk von Christian Lehnert zu besprechen. Aber ganz ohne seine Verse soll dieses Essay nicht bleiben. Deshalb nehme ich mir die Freiheit, ein Gedicht vorzustellen, das mir am liebsten ist. Es stammt aus Lehnerts drittem Band, beschreibt einen Nachtflug von Dresden nach Arecife, der Hauptstadt von Lanzarote, und ist dabei eine sehr ungewöhnliche, aber umso überzeugendere Choralbearbeitung – eine Kontrafaktur.

Wenn man es liest, sollte man dabei innerlich die betörend schöne Melodie Heinrich Isaacs für »Innsbruck, ich muss dich lassen« summen, auf die Paul Gerhardts später das uns allen vertraute »Nun ruhen alle Wälder« gedichtet hat.

Die Landschaft kippt, wird grauer,

ein nasser Wind, ein Schauer,

die Piste ragt ins All.

Verschüttet sind die Stollen,

die Erde treibt in Schollen:

du wirst ihr warmer Widerhall.

Turbinen, Räder, Wellen,

die Schädel noch im Hellen,

im Dunkel der Asphalt.

Du fliehst die tausend Lichter,

Gewebe, immer dichter,

die Augen werden langsam kalt.

Sei still und schlafe, warte

Und träume nichts und warte,

zu hoffen ist kein Grund.

Hinweggerollt sind Meere,

Kulissen, schwarze Leere,

in der sich öffnet Gottes Mund.

Abstract


Christian Lehnert is an exceptional figure. He is an acclaimed lyricist, a successful librettist and an exceptionally interesting theological essayist. This essay presents and discusses his three theological books on a biblical text, worship and angels. They are so interesting for theology because they combine serious reflections with existential meditations and a great deal of freedom and thus provide suggestions on how theology can leave well-worn paths.

Fussnoten:

1) Christian Lehnert: Korinthische Brocken. Ein Essay über Paulus, Berlin 2013.
2) A. a. O., 7.
3) A. a. O., 13.
4) A. a. O., 14.
5) A. a. O., 71.
6) A. a. O., 79.
7) Ebd.
8) A. a. O., 120.
9) Ebd.
10) A. a. O., 49.
11) A. a. O., 36.
12) A. a. O., 215.
13) Czeslaw Milosz: Hündchen am Wegesrand, München 1998, 37.
14) Ebd.
15) Christian Lehnert: Der Gott in einer Nu , Berlin 2017, 38.
16) A. a. O., 12.
17) A. a. O., 20.
18) A. a. O., 46.
19) A. a. O., 166 f.
20) A. a. O., 16.
21) A. a. O., 159.
22) A. a. O., 112.
23) Ebd.
24) Christian Lehnert: Ins Innere hinaus. Von den Engeln und M chten, Berlin 2020.
25) A. a. O., 9.
26) A. a. O., 146.
27) A. a. O., 70.
28) A. a. O., 65.
29) A. a. O., 14.
30) A. a. O., 18.
31) A. a. O., 21.
32) A. a. O., 70.
33) A. a. O., 71.
34) Ebd.
35) A. a. O., 128.