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Ausgabe:

März/2022

Spalte:

272–274

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Willems, Joachim [Hg.]

Titel/Untertitel:

Religion in der Schule. Pädagogische Praxis zwischen Diskriminierung und Anerkennung.

Verlag:

Bielefeld: transcript Verlag 2020. 432 S. = [transcript] Pädagogik. Kart. EUR 39,00. ISBN 9783837653557.

Rezensent:

Alexander Maier

Dass Religion im Kontext Schule Konfliktpotential mit sich bringt, ist nicht verwunderlich, insofern sie mit persönlichem Glauben, individueller Erfahrung und nicht zuletzt auch mit dogmati-schen Wahrheitsansprüchen untrennbar verbunden ist. Nicht umsonst kennt die schulische Tradition – jedenfalls im Bereich der Volksschule – die konfessionelle Schule, die u. a. auch darauf zielte, mögliche konfessionelle Differenzen zu verhindern. Heute bildet sich in der Schule die religiöse Vielfalt der pluralen Gesellschaft ab– und auch hier scheinen Kontroversen vorprogrammiert zu sein, z. B. dann, wenn religiöse Symbolik, Einstellung oder Praxis mit schulischen Strukturen kollidiert oder normative Vorstellungen der (christlich-säkularen) Mehrheitsgruppe im Hinblick auf Religion mit der religiösen Praxis einer Minderheitengruppe in Konflikt gerät. – Daneben ist Religion vielfach auch affirmativ-folklo-ristischer Gegenstand der Schulkultur geworden. Feste und Bräuche der unterschiedlichen Religionen werden gerne aufgegriffen und im Rahmen schulischer Anlässe und sogar (inter-)religiöser Feiern thematisiert und inszeniert.
Religion taucht auch als strukturierter Bildungs- und Unterrichtsgegenstand in der Schule auf – vor allem natürlich durch den Religionsunterricht. Religionen im schulischen Kontext stellen die Akteure und Akteurinnen vor Herausforderungen, die auszuloten sich der von Joachim Willems herausgegebene Band auf thematisch vielfältige, perspektivreiche, fundierte, teilweise aber auch redundante Weise angenommen hat. In vier Zugriffen wird Religion im schulischen Kontext in der Spannung zwischen Anerkennung und Diskriminierung instruktiv beleuchtet. Erkenntnisleitend waren dabei insbesondere die Motive von Mehrheit und Minderheit bzw. von »Normalität« und »Andersartigkeit« sowie die interreligiöse Verständigung.
Die Analyse theologischer und rechtlicher Aspekte und Entwicklungen zu Religion und Religionsunterricht in der Schule steht im Fokus des ersten Abschnitts. Hier verweist etwa Christian Polke auf die Kollision des ursprünglichen Movens für den konfessionellen Charakter des Religionsunterrichts im Grundgesetz mit den aktuellen politischen und gesellschaftlichen Erwartungen an dieses Fach. Während der Parlamentarische Rat Religion als eine »existentiell unbedingte Lebensweise« verstanden habe, die einem Zugriff des Staates entzogen sein müsse und gleichwohl innerhalb der Schule einen Ort der Bildung zugewiesen bekommen sollte, sei heute eine Pädagogisierung des Religiösen vorherrschend, die vor dem Hintergrund religiöser Vielfalt vor allem um die Herausbildung einer Dialog- und Toleranzkompetenz der Schüler und Schülerinnen kreise.
Der zweite Teil widmet sich der Darstellung und Analyse religionsbezogener Diskriminierung in der Schule. Die Beiträge setzen sich entweder mit Antisemitismus oder antimuslimischem Rassismus auseinander und zeigen damit, dass vor allem jüdische und muslimische Lehrer und Schüler davon betroffen sind. Diskriminierung geschehe dabei vor allem durch die Konstruktion gegensätzlicher homogener Gruppen. Wie Karim Fereidooni konstatiert, werden Muslime dabei häufig als »unaufgeklärt« und »frauenfeindlich« bezeichnet und dadurch von der »aufgeklärten«, die »Emanzipation der Frau bejahenden« christlich-säkularen Mehrheit abgegrenzt, ohne dass die individuelle Positionierung der Betroffenen zu Islam oder Religion in den Blick gerate. Nach Julia Bernstein und Florian Diddens gehe der Antisemitismus insofern noch darüber hinaus, als Jüdinnen und Juden nicht einmal als eine von mehreren gesellschaftlichen Minderheiten, sondern als Sondergruppe betrachtet würden, die sich herkömmlichen Ordnungsmustern entzöge. Auch das interreligiöse Lernen biete Fallstricke, so dass eine affirmative Hervorhebung etwa der Religionszugehörigkeit von Schülern durch Lehrpersonen diese in eine Stellvertreterrolle für das Judentum oder den Islam bringe – unabhängig davon, ob sich einzelne Schüler oder Schülerinnen damit identifizieren oder überhaupt über entsprechendes religiöses Wissen verfügen. Gut gemeintes, aber unreflektiertes Agieren von Lehrkräften würde somit in vielen Fällen überhaupt erst zu diskriminierenden Handlungen durch Mitschüler führen.
Dem systemischen Aspekt religiöser Vielfalt in Schule und Hochschule widmet sich der dritte Teil des Bandes. Hier identifizieren Henrik Simojoki und Jonathan Kühn zwei wesentliche Bedingungen einer Kultur der Anerkennung religiöser Vielfalt in der Schule: eine selbstreflexive Haltung der Lehrpersonen sowie die Ermöglichung von religionsbezogenen Entfaltungs- und Reflexionsangeboten. Dadurch könne Religion ihr Potential als Lebensressource entwickeln. Dies entspreche, wie Doris Lindner in ihrem Beitrag betont, auch den Wünschen von (muslimischen) Schülern und Schülerinnen, die Religion im schulischen Alltag nicht sel-ten als eine Kategorie der Differenzierung wahrnehmen würden. Zugleich wünschten sie sich jedoch eine Schule, in der alle Religionen gleichberechtigt wären. Eine solchermaßen im System verankerte Gleichberechtigung der Religionen ist der Anspruch der Kirchlichen Pädagogischen Hochschule Wien/Krems, an der angehende Primarstufenlehrkräfte studieren, die während ihres Studiums insbesondere für die pädagogischen Herausforderungen religiöser Diversität sensibilisiert werden sollen. An der KPH Wien/ Krems sind, wie Thomas Krobath notiert, verschiedene christliche Konfessionen und Religion mit einem Studienschwerpunktangebot vertreten. Trotz des gesetzten Rahmens bleibt es für ihn die Aufgabe der Akteure und Akteurinnen, dass sich die systemisch auf religiöse Vielfalt eingestellte Hochschule zu einem transreligiösen Ort entwickelt, an dem Unterschiede als vorläufig und bereichernd verstanden würden.
Der vierte Teil versammelt Beiträge, die sich explizit mit religiöser Bildung vor dem Hintergrund religiös-weltanschaulicher Vielfalt befassen. Basis dafür sei eine pluralitätsfähige Religionspädagogik, was Benjamin Franz und Ingrid Wiedenroth-Gabler vor allem auf den Islam münzen, dessen grundsätzliche Präsenz sie im Fächerkanon der Schule begrüßen. Yauheniya Danilovich verweist in ihrem Aufsatz auf die strukturelle Benachteiligung der orthodoxen Kirchen im Religionsunterricht und hält fest, dass trotz hoher Zahlen orthodoxer Schüler und Schülerinnen kaum Angebote für orthodoxen Religionsunterricht bestehen. Dies stelle angesichts von zwei Millionen orthodoxen Christen in Deutschland nicht nur eine deutliche Benachteiligung dar, sondern werfe auch ein Licht auf eine womöglich einseitige integrationspolitische Motivlage, die zur Einführung des islamischen Religionsunterrichts geführt hat.
Einmal mehr zeigt sich hier die Priorität des öffentlichen Interesses an religiöser Bildung im Hinblick auf ihre gesellschaftliche Verwertbarkeit. Joachim Willems stellt die wichtige Frage nach dem Ort oder der Relevanz nichtreligiöser Schüler – denn: Während Religion etwa durch Muslime in der Schule neu an Aufmerksamkeit gewonnen habe, darf doch nicht vergessen werden, dass christliche Religiosität an Bedeutung eingebüßt hat. Er plädiert daher für den Dialog religiöser und nichtreligiöser Sichtweisen und zeigt dazu exemplarische Möglichkeiten auf.
Neben erhellenden Einblicken in religionsbezogene Diskri-minierungszusammenhänge und der Sensibilisierung für blinde Flecken in Religionspädagogik und Schulpraxis zeigt der Band nicht zuletzt gewisse Aporien von pädagogisierter Religion in der Schule. So erscheint die Konstruktion religiöser Gruppen und da­mit die Subsumtion individueller Religiosität oder Nichtreligio-sität unter weltanschauliche Labels unvermeidlich, sofern man nicht – wie Paul Mecheril – für einen Religionsunterricht plädiert, der die individuelle Religiosität der Schüler und Schülerinnen zum Gegenstand hat.