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Ausgabe:

März/2022

Spalte:

265–268

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Bucher, Georg

Titel/Untertitel:

Befähigung und Bevollmächtigung. Interpretative Vermittlungen zwischen allgemeinem Priestertum und empowerment-Konzeptionen in religionspädagogischer Perspektive.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2021. 376 S. = Arbeiten zur Praktischen Theologie, 81. Geb. EUR 98,00. ISBN 9783374067510.

Rezensent:

Bernhard Grümme

Die Praktische Theologie im Allgemeinen wie die Religionspädagogik im Besonderen verstehen sich als kontextsensible Wissenschaften, die die Zeichen der Zeit analysieren und sich konzeptionell wie operativ dort kritisch wie konstruktiv verorten. Dabei geht es nicht zuletzt darum, dem normativen Axiom der Subjektorientierung unter je kontextuellen Bedingungen Gestalt und Operationalisierbarkeit zu verleihen. Im zunehmenden Maße wird dabei freilich deutlich, dass die Verwicklungen in hegemoniale Strukturen so gravierend sind, dass sie in deren grundlagentheoretische Selbstverständigungsprozesse eingehen müssen, um Praktische Theologie und Religionspädagogik nicht selbstwidersprüchlich werden zu lassen. Es braucht offensichtlich eine Kategorie, die machtsensibel und subjektorientiert zugleich ist und dabei auch religionspädagogische Praxis hinreichend normativ wie operativ orientieren kann.
In diesem Zusammenhang wird derzeit neben dem Konzept der Intersektionalität oder dem der Aufgeklärten Heterogenität auch der Empowermentbegriff traktiert. Dieser setzt auf Freisetzung aus Machtzusammenhängen und auf die Entfaltung von institutionellen wie personalen Ressourcen im Interesse der Subjektwerdung. Einerseits zielt Empowerment in reflexiver Sicht auf eine Selbststärkung, auf eine Arbeit am Selbst, auf Resilienz und Kraft in der Gestaltung des individuellen wie gesellschaftlichen Lebens. Andererseits visiert er transitiv die Förderung und die Ausbildung von Ressourcen bei anderen für ein gelingendes Leben und die Ge­staltung von Gemeinschaft und Gesellschaft an. Religionspädago gisch ist dieser Begriff deshalb hochbedeutsam, weil er Subjektwerdung in Kirche und Gesellschaft religionspädagogisch denken und operationalisieren kann. Gegenüber rein postulatorischen Theoriebegriffen böte, so vor allem Michael Domsgen, der Empowermentbegriff den Vorteil, unter reflexiver Bearbeitung hege-monialer Strukturen nicht nur eine konsistente wie kohärente Systematik zu entfalten, sondern auch deren Anwendung konstitutiv im Blick zu haben. Nur so bliebe Theoriebildung nicht irrelevant.
Das Forschungsdesign religionspädagogischer Empowermentdiskurse ist durch eine konstitutive Interdisziplinarität geprägt. Was dabei einer noch stärkeren Profilierung bedarf, sind die theologischen Hintergrundannahmen. In diese Forschungslücke stößt nun die hier anzuzeigende Arbeit von Georg Bucher. Bei Michael Domsgen erstellt und 2018 von der Theologischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg als Dissertation an­genommen, stellt sie sich dieser Herausforderung in grundsätzlic her Weise. Ihre Spezifik liegt darin, aus der Theologie des Allgemeinen Priestertums begründende, profilierende und normativ bestimmende Impulse zu gewinnen. B. wählt den Empowermentbegriff deshalb, weil er 1. an den Bildungsbegriff auch in dessen kritisch-konstruktiven Akzentuierungen anschlussfähig ist, je­doch 2. stärker als dieser die organisatorischen wie strukturell-systemischen Bezüge von Eigenverantwortung und Partizipation veranschlagt und weil er 3. außertheologische Diskussionslagen mit in­nertheologischen Debatten einer als Verbundwissenschaft be­griffenen Religionspädagogik vernetzt.
Den schon begrifflich mittraktierten Machtbezug will B. freilich gegenüber der »oft unterkomplexen und reduktionistischen Behandlung in der empowerment-Literatur« (17) durch Rückgriff auf poststrukturalistische Diskursanalyse vorantreiben. Theologisches Profil soll hierfür eine dezidiert reformatorische Theologie des allgemeinen Priestertums einspielen, die Empowerment als vorauslaufende Gabe des Gottesgeistes, der vorauslaufenden Berufung und der ge­schenkten Freiheit des Einzelnen spezifiziert (176). Die Kirche, konzentriert auf ihre »Assistenzfunktion« (19) an der Realisierung dieser berufungsorientierten Kommunikation des Evangeliums, hat sich dementsprechend von allen paternalistischen Attitüden zu verabschieden und die Praktische Theologie vor diesem Hintergrund die »Lebensführung und -deutung Einzelner ›unter Inanspruchnahme des Christlichen‹ zum Dreh- und Angelpunkt« zu machen (19).
Dadurch kristallisiert sich der religionspädagogische Gewinn des Empowermentbegriffs heraus: »Religiöse Bildung in evange-lischem Verständnis wäre dann als Befähigung und Bevollmäch-tigung zum allgemeinen Priestertum zu profilieren, und das hieße wiederum professionstheoretisch als ethisch-aszetische, kritische Befähigungs- und Bevollmächtigungspraxis einer als Selbstbestimmung und Solidarität orientierten Lebensführung und -deutung unter Inanspruchnahme des Christlichen.« (328) Methodisch wählt B. hierfür ein konstellatives-spatiales Vorgehen, das weder begrifflich deduziert noch subsummiert. Ihm geht es um die »Etablierung eines Reflexionsraumes, in dem die Dinge neu zusammengeschaut und perspektiviert wie rekombiniert werden und der aufgespannt wird über die Wortfelder empowerment und allgemeines Priestertum« (206). Diese Vermittlungsmethode eröffne einen unabschließbaren Raum der Interpretation und Kritik.
Im Lichte dieser hermeneutisch-methodologischen Klärung baut B. seine Untersuchung in vier Schritten auf: Teil I (Exposition: 15–42) eröffnet die Problemfrage, exponiert das Projekt und rekonstruiert die Forschungslage. Teil II (Grundlegung, 43–214) verortet das Projekt in eine minutiöse Rekonstruktion gegenwärtiger Herausforderungen. In diese Klärung kann dann vor dem Hintergrund einer als Rahmentheorie verstandenen Theorie der Kommunikation des Evangeliums eine Theologie des allgemeinen Priestertums grundgelegt werden (139–105).
Blieben die bisherigen Ausführungen auf vorrangig grundlagentheoretischem Niveau, so stellt nun Teil III (215–326) exemplarische Durchführungen vor. Was B. hier nach einer luziden Be­griffsklärung und Erläuterung der historischen Genese (215–227) auf den Feldern der Gemeindepsychologie, der Sozialarbeitstheorie, der Heilpädagogik und der Pädagogik leistet, kann hier in seinem beeindruckenden Kenntnisreichtum und der Kraft reflexiver Durchdringung nicht im Einzelnen dargelegt werden. Hier werden jeweils auf diesen Feldern Maßstäbe gesetzt, an denen die Religionspädagogik wie die Praktische Theologie nicht vorbeigehen kann. Doch gehört dazu freilich auch ganz wesentlich, Empowerment und allgemeines Priestertum als »›doppelt gefährliche‹ Denk figuren« (327) zu verstehen, wie B. in seinem konzise die Ergeb-nisse seiner Studie zusammenfassenden wie perspektiveneröffnenden Ausblick (327–334) betont.
Gefährlich sind diese Denkfiguren deshalb, weil sie zum einen in ihrer kritisch-konstruktiven Ausrichtung herkömmliche Religionspädagogik grundlegend herausfordern und irritieren; gefährlich aber sind sie zum anderen, weil sie zwar durch ihre diskurs-analytischen Reflexionen sensibel werden für die hegemonialen Strukturen, die performativen Exklusionen und Machtprozesse, zu denen eine Empowermentpädagogik selber im Sinne der gesellschaftlich derzeit verbreiteten Selbstoptimierungspraktiken beiträgt – ohne dies freilich hinreichend selbstreflexiv werden zu lassen und damit kontraintentional aporetisch zu werden (334). Darum komme alles darauf an, diese Gefährlichkeit reflexiv ein-zuholen und kritisch-produktiv auf kritisch-transformatorisches Handeln zu beziehen.
Man mag sich fragen, ob eine solche kritische Selbstreflexivität hinreicht, um die von B. scharf und überzeugend herausgearbeitete Aporetik des Empowermentbegriffs zu überwinden. Denn dafür hätte er noch schärfer die politischen wie vor allem ökonomischen Instrumentalisierungen, die mit diesem Begriff überhaupt einhergehen, reflektieren müssen. Man könnte sich eher die Grundsatzfrage stellen, ob nicht dieser Begriff schon im Ansatz wegen seiner optimierungsstrategischen Ausrichtung problematisch ist. In dieser Richtung wird er etwa von einer aus den postcolonial studies inspirierten Praktischen Theologie wegen seiner konstitutiven Asymmetrie abgelehnt. Insofern stellt sich überdies die Frage, in­wieweit die Komplexität einer kritischen, praxeologisch sensiblen und handlungstheoretisch dennoch aussagefähigen Bildungstheorie durch den Empowermentbegriff tatsächlich eingeholt wird. Doch das sind positionelle Differenzen in einem Diskurs, der derzeit in der Religionspädagogik Fahrt aufnimmt. Obwohl man sich wünschen würde, B. hätte auch das Feld des Religionsunterrichts bearbeitet, weil der Religionsunterricht derzeit in der Heterogenität der Lebenswelten zu einem Laboratorium der Religionspädagogik insgesamt wird, leistet diese fachbegrifflich wie fachmethodisch exzellent gearbeitete Untersuchung doch einen sehr instruktiven Beitrag zu den gegenwärtigen Selbstverständigungsprozessen der Religionspädagogik sowie der Praktischen Theologie und setzt Maßstäbe.