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Ausgabe:

März/2022

Spalte:

264–265

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Sprecher, Meike

Titel/Untertitel:

Autobiographie und Religion. Lebensdeutung in Demenzmemoiren.

Verlag:

Freiburg i. Br. u. a.: Verlag Herder 2020. 320 S. = Praktische Theologie und Kultur, 29. Kart. EUR 38,00. ISBN 9783451601026.

Rezensent:

Lena-Katharina Schedukat (geb. Roy)

In ihrer Promotionsschrift »Autobiographie und Religion. Lebensdeutung in Demenzmemoiren« widmet sich Meike Sprecher einem gesellschaftlich und theologisch relevanten Thema. Ihr gelingt es, in ihrer Arbeit das Konzept von Religion als Lebensdeutung auf seine Gültigkeit im Kontext von Demenz zu überprüfen und theologisch zu erweitern.
S. hat Theologie und Englisch studiert und ist Lehrerin für beide Fächer an einem Beruflichen Schulzentrum in Stuttgart. Ihre Promotionsschrift wurde von Birgit Weyel begleitet und von Ge­rald Kretzschmar zweitbegutachtet. Im Wintersemester 2018/2019 ist S.s Arbeit von der Evangelisch-Theologischen Fakultät Tübingen als Dissertation angenommen worden.
Besonders zu würdigen ist in dieser Dissertation die Verbindung von Praktischer Theologie und Literaturwissenschaft. Nachdem die Demenzthematik lange kein Gegenstand der Praktischen und Systematischen Theologie gewesen ist, sind die Veröffent-lichungen dazu in den letzten zehn Jahren rapide gestiegen. Sie hat seitdem neben der poimenischen und praktisch-theologischen auch systematisch-anthropologische Betrachtung gefunden. Die Arbeit ordnet sich in diesen Diskurs ein und geht zugleich einen neuen Weg, indem sie Religion nicht wie häufig erfolgt als unabhängige Variable unterkomplex operationalisiert und auswertet, sondern als anthropologische Grundkonstante deutet.
Für ihre Studie bedient sich S. der hermeneutischen Methode und pendelt dabei zwischen Allgemeinem und Einmaligem. In den ersten vier Kapiteln widmet sie sich zunächst der Religionstheorie der Gegenwart, dem Thema Lebensdeutung und Autobiographie in religionstheoretischer und theologischer Perspektive sowie der Gattungstheorie der Autobiographie. Im fünften und damit letzten inhaltlichen Kapitel werden zwei Autobiographien von Kindern demenzkranker Eltern – S. nennt sie filiale Demenzmemoiren – exemplarisch auf ihre einmaligen Deutungen hin analysiert und in einen größeren Deutungszusammenhang eingebettet. Filiale De­menzmemoiren zeichnen sich dadurch aus, dass nicht die Erkrankten selbst Autoren ihrer Biographien sind, sondern ihre Töchter und Söhne (204). Beide ausgewählten Werke werden exemplarisch darauf hin analysiert, inwiefern sie als Medium gelebter Religion gelesen werden können. Das Ziel ist es, dadurch einen Beitrag zur Verhältnisbestimmung von Religion und Autobiographie zu leisten.
S.s Dissertation ist einzuordnen in die Suche nach gelebter Religion, basierend auf einer Konzeption von Religion als Lebensdeutung wie sie u. a. von Ulrich Barth und Wilhelm Gräb vertreten wird. Ihre These ist, dass Autobiographien als Ausdruck individueller Religiosität zu deuten sind (13). In Auseinandersetzung mit der Säkularisierungsthese, die davon ausgeht, dass Religion in der mo­dernen Gesellschaft zunehmend keine Rolle mehr spielt, kommt S. in Anlehnung an Thomas Luckmann und Ulrich Oevermann zu dem Schluss, dass Religion in unserer Gesellschaft nicht verschwunden ist, sondern andere Ausdrucksformen gefunden hat. Solche neuen Formen gelebter Religion finden sich insbesondere in Erzählungen über das eigene Leben. In ihnen erfolgt die subjektive und reflexive Deutung des Lebens, was als Basis menschlicher Religiosität verstanden wird.
Am Beispiel von Demenz erkennt und benennt S. zu Recht die Grenze und Herausforderung dieses Verständnisses von Religion als Lebensdeutung. S kritisiert: »Was als Voraussetzung von Religion dargelegt wird, die Einheit der Subjektivität, erscheint vor dem Hintergrund von Demenz als nicht mehr so unhintergehbar.« (278) Denn das bisherige Modell von Lebensdeutung setzt die kognitive Fähigkeit zur Selbstreflexion und die bewusste Orientierung in Raum und Zeit voraus. Diese ist bei Menschen mit Demenz nicht mehr gegeben. Sie treten weder bewusst noch kohärent in Beziehung zu ihrer eigenen Vergangenheit und dennoch sind sie in einer sehr intensiven Beziehung zu ihrem eigenen Leben. S. hat sich deshalb das Ziel gesetzt, am Beispiel der Demenz einen autobio-graphietheoretischen Religionsbegriff zu entwickeln, der Religion als Lebensdeutung relational versteht und nicht primär an die menschliche Fähigkeit zur Selbsttranszendenz bindet (16.204). Dafür analysiert sie beispielhaft die literarischen (Auto-)Biographien Arno Geigers »Der alte König in seinem Exil« (2011) sowie Sue Millers »The Story of My Father« (2003).
Hier werden der literaturwissenschaftliche Zugang S.s sowie ihr zweites Studienfach Englisch besonders deutlich. Solche »filiale Demenzmemoiren«, so die These S.s, »bilden eine doppelte Struktur der Lebensdeutung ab: Die Autoren-Erzähler versuchen das Leben ihrer Eltern zu verstehen und der Erkrankung einen Sinn zu ge-ben, um schließlich auch zu einer Deutung des eigenen Lebens zu gelangen.« (15) In beiden Lektüren werden Identitäten in und durch Beziehungen konstituiert. Zugleich bedienen sich die Autoren zur Deutung der Lebensgeschichten ihrer Väter an kulturell verfügbaren Symbolen und Sinndeutungsmodellen. S. kommt deshalb zu dem Schluss, dass Lebensdeutung im Dialog geschieht. »Relationale Autobiographie zeichnet sich aus durch einen besonderen Fokus auf die Relationalität von Lebensdeutung und deren intentioneller Inszenierung. Sie konstruiert Lebensdeutung im Dialog und rekonstruiert die Bezogenheit individueller Lebensdeutung auf andere Personen und kulturelle Interpretationsangebote.« (284)
Die besondere Leistung S.s besteht darin, dass sie die Konzeption von Religion als Lebensdeutung in ihrer Dissertation erweitert und damit verändert. Nicht mehr nur die individuelle und autonom vorgenommene Lebensdeutung ist S. zufolge als moderne Form von Religion anzusehen, sondern es sind die vielfältigen Beziehungen, in denen die Deutung des Lebens und somit Religion stattfindet. Lebensdeutung und damit Religion ist ein relationales Geschehen. Diese Erkenntnis S.s gilt es im theologischen und gesellschaftlichen Kontext zu würdigen und weiter zu diskutieren. Interessant wäre es, die These von S. fortzudenken und danach zu fragen, inwiefern dieses Verständnis von Religion als Ressource für Menschen mit Demenz, ihre Angehörigen und die Seelsorgepraxis fruchtbar gemacht werden kann oder auch in anderen Seelsorgekontexten zur Geltung kommen kann.