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Ausgabe:

März/2022

Spalte:

260–262

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Kling-Witzenhausen, Monika

Titel/Untertitel:

Was bewegt Suchende? Leutetheologien – empirisch-theologisch untersucht.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2020. 320 S. = Praktische Theologie heute, 176. Kart. EUR 49,00. ISBN 9783170389182.

Rezensent:

Hans-Günter Heimbrock

Wer hat in der katholischen Kirche etwas zu sagen? Einer Kirche, deren Organisationsbestand von der stetigen Schrumpfung der Gemeindemitglieder und dem Rückgang des Personals bedroht ist und deren Glaubwürdigkeit durch Missbrauchsskandale in den Grundfesten erschüttert ist? Unter solchen Fragehorizonten lese ich die Dissertation von Monika Kling-Witzenhausen, die vom Innsbrucker Pastoraltheologen Christian Bauer begleitet wurde. Sie hat sich zum Ziel gesetzt, Theologie nicht vom Wissen der Ex­perten her zu treiben, sondern von Suchprozessen der »Leute« und von denen, die eher an der Schwelle zum Glauben stehen. Das The ma liegt in einer praktisch-theologischen Forschungstradition, für die der Wiener Pastoraltheologe Paul Zulehner vor fast einem halben Jahrhundert den Begriff der »Leutereligion« geprägt hat, freilich jetzt mit der veränderten Akzentsetzung in Richtung auf Theologie. Und die Vfn. möchte dabei dezidiert empirisch-theologische Interessen zum Zuge kommen lassen.
Die Arbeit zeigt in ihren fünf Teilen einen klaren Aufbau und eine stringente Argumentation. Teil I »Zur Einführung« (13–65) führt in das Forschungsinteresse ein und bestimmt die Hauptbegriffe nä-her. »Leutetheologien« sollen hörbar gemacht werden und ihr theologischer Ort soll identifiziert werden. Mit dem Arbeitsbegriff »Schwellenchristen« sind die Randständigen unter ihnen ge­meint. Teil II »Leutetheologien qualitativ-empirisch untersucht« (67–152) entwickelt Forschungsfragen und erörtert methodische Zugänge.
Mittels qualitativer Sozialforschung, insbesondere mittels narrativer Interviews will die Vfn. die subjektiven Sichtweisen der Gesprächspartner und -partnerinnen herausarbeiten. Das empirische Material besteht aus Gesprächen mit fünf Probanden im Alter zwischen 30 und 50, jedes mit ca. zwei Stunden Dauer. Teil III »Leutetheologien und akademische Theologien im Gespräch« (153–194) bringt das dialogische Interesse der Vfn. zum Zuge. Anhand von drei für »Leutetheologie« wichtigen Fragestellungen (Bedeutung der Bibel; Gotteserfahrung und Körperlichkeit; Mündigkeit der Gläubigen) soll die Begegnung verschiedener »Textsorten« von Theologie erreicht werden.
Teil IV »Leutetheologien als locus theologicus« (195–236) vertieft die erkenntnis-theologische Reflexion. Dabei orientiert sich die Vfn. zunächst mit dem Mainstream gegenwärtiger katholischer Dogmatik am theologischen Entwurf des Melchior Cano, einem Zeitgenossen von Melanchthon. Sie verfolgt ausführlich die Interpretationen von Canos loci in der nachkonziliaren Theologie im 20. Jh. Dabei kommen neue Lesarten der loci von Albert Lang über Hans Joachim Sander, Peter Hünermann bis zu Margit Eckholt zum Zuge. Zur Frage, wie Theologie zu einer Autorität des Glaubens wird, greift die Vfn. neben Cano immer wieder auch auf Denkansätze des französischen Jesuiten Michel de Certeau zurück. Für »Leutetheologie« werden dann auch die Praktiken der »kleinen Leute« bedeutsam; Gotteserkenntnis wird transparent an und von den Orten ihrer Produktion und den Modi ihrer Akteure (der Reisende, Wanderer). Solche topologisch reflektierte Denkarbeit führt zur These, dass es heutzutage keine Orte mehr gibt, »an denen die Anwesenheit Gottes verlässlich verbürgt« ist (222). Der akademischen Theologie wird ins Stammbuch geschrieben, dass es höchste Zeit ist, vom Gestus des Lehrens zu dem des Zuhörens zu wechseln.
Teil V formuliert »Ergebnisse und weiterführende Fragen« (237–290), benennt Grenzen der eigenen Forschung und gibt Anstöße für das theologische Forschen über das eigene Fach hinaus und für die kirchliche Arbeit. Der Interviewleitfaden im Anhang und ein umfangreiches Literaturverzeichnis (297–320) runden die Arbeit ab.
Die Untersuchung trägt die Handschrift einer katholischen Autorin, sie verfolgt auf den ersten Blick eine spezifisch katholische Fragestellung, darum ist es für einen protestantischen Rezensenten nicht ganz einfach, der Vfn. gerecht zu werden. Die Lektüre des Buches fällt nicht leicht, schon wegen des überbordenden Fußnotenapparats, der wohl dem Genus einer akademischen Qualifikationsarbeit geschuldet ist. Es ist ein längerer Weg zu den »Leuten« und ihrer Theologie, den die Vfn. ihren Lesern zumutet. Die Probanden kommen ausschnittweise erst ab S. 108 zu Wort und dann zunächst auf schmalen 40 Seiten. Aber man sollte nicht übersehen, d ass es auch in späteren Kapiteln weitere Durchgänge durchs empirische Material gibt. Im Kontext empirischer Untersuchungen zu religiösen Orientierungen und subjektiven Konstruktionen individueller Weltanschauungen im internationalen Forschungsdiskurs betrachtet liefert die Untersuchung der Vfn. methodisch wie material wenig Neues. Mit einem schmalen sample zu arbeiten, kann qualitativ zwar durchaus interessante Einsichten erbringen. Gleichwohl bleibt für mich offen, welcher Anspruch mit einer »Problemrepräsentativität« (279) verbunden ist. Und ich frage mich auch, wie tragfähig der von der Vfn. mit ihrem Doktorvater Chris-tian Bauer favorisierte Ansatz einer »schwachen Empirie« ist.
Ich sehe die Stärke der Untersuchung allerdings an anderer Stelle. Die Vfn. führt in den Teilen III und IV im extensiven Durchgang durch fundamentaltheologische Ansätze (von Cano bis de Cer-teau) vor, was eigentlich zu einer empirisch-theologischen Forschung gehört. Ihre Antwort in dieser Hinsicht, nämlich Leutetheologie vom Konzept der »anderen Orte« der Theologie zu lesen, macht in methodologischer Hinsicht transparent, wie empirische Forschung in theologischem Interesse nicht irgendwelches »Material« liefert, sondern in eigener Anstrengung ins Zentrum theologischer Arbeit führen kann. Beim Versuch, Leute-Theologien und akademische Theologien miteinander in Berührung und in fruchtbaren Dialog zu bringen, ist für die Vfn. die These zentral, dass Theologie »nicht ohne die anderen« gedacht und entwickelt werden kann. Das erinnert sachlich an Schleiermachers Behauptung der Unerlässlichkeit von »Heterodoxie« für theologische Urteilsbildung. Für mich wäre ein Diskurs mit der Vfn. über die Anschlussfrage sehr spannend, wie weit denn heute das »Andere« und die anderen reichen. Was außerhalb von Theologie wird als prägend, herausfordernd, anregend für die Leute entdeckt? Und was sollte akademische Theologie nicht außer Acht lassen? Umfasst es auch die, die der Kirche (den Kirchen!) den Rücken gekehrt haben, nicht nur die »Glaubensschwachen«, sondern die Nichtglaubenden?
Die verhandelte Grundfrage, nämlich die, was die Nichtexperten theologisch zu sagen haben, ist, wenn vielleicht auch in anderer Diktion, im Spektrum Praktischer Theologie auf protestantischer Seite ebenso intensiv verhandelt. Ich erinnere an Beiträge zur Alltagstheologie bzw. ordinary theology von Cecilie Rubow, Jeff Astley, Wolfgang Steck u. a. Ja, aller dogmatischen Aufwertung der so­genannten Laien zum Trotz wäre die Frage hier mit nüchternem und realistischem Blick eigentlich noch dringlicher. Und hüben wie drüben führt das an die Machtfrage.
Alles in allem: Die vorliegende Untersuchung erbringt in vielfältiger Weise differenzierende, begründete und anregende Antworten auf die Frage: Wer hat in der katholischen Kirche etwas zu sagen? Die Vfn. erteilt einem überlebten Konzept der beati possedentes eine klare Absage zugunsten einer Theologie der Suchenden. Dieser Versuch fällt schwergewichtig formal aus. So bleibt für mich die weitere Suche danach, was die Leute denn zu sagen haben, wo weitere inhaltliche Optionen der Gott-Suche zu finden wären, offen. Der poetische Versuch auf der letzten Seite des Textes »Ich hörte drei Menschen von Gott reden« (Wilhelm Bruners) kann als Wegweiser wohl taugen.